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input: Wer sind die Drogen- und Alkoholsüchtigen in Olten? Warum Olten? Wer waren sie vor der Sucht? Wollen sie aussteigen? Wer kümmert sich um sie?

«Ich bin auch nicht Jesus»

Das Gewerbe

«Das Einkaufserlebnis ist infrage gestellt», sagte Hans Ruedi Kern. Seit bald sieben Jahren managt er als Geschäftsführer die Coop-City-Filiale. Über diese Zeit sei das düstere Bild des Kirchensockels ein steter Begleiter gewesen: harter Drogenkonsum, Lärm und Streitereien. Er berichtete von Drogendepots in den Dielen der Restaurant-Toilette, von Diebstählen von Luxusgütern wie Champagner oder Markenschuhen. «Es gibt Menschen, die der Oltner Altstadt fernbleiben und sie nicht mehr besuchen.» Nun seien Lösungen gefragt, forderte Kern. Er wehrte sich aber gegen den Eindruck, das Gewerbe wolle die Randgruppen weghaben. «Die Menschen sind willkommen, aber es braucht einfach Verhaltensregeln», sagte Kern. Der Coop-City-Chef warf die Idee in den Raum, die Stadt solle einen zentralen Platz bestimmen und ihn mit einem Bus oder einem Container ausstatten, um auch einen Unterstand zu bieten.

Die Kirche

Die Christkatholiken als Besitzerin des Sockels haben auf die Situation reagiert. «Was dort vor sich geht, können wir nicht länger tolerieren», sagte Präsidentin Monique Rudolf von Rohr. Wie vom Gewerbe gewünscht, veranlasste die Kirche ein richterliches Verbot. Littering, laute Musik über Ghettoblaster und nicht angeleinte Hunde können künftig mit bis zu 2000 Franken Busse bestraft werden. «Was uns stört, ist, dass unsere Anliegen oft belächelt werden», sagte Rudolf von Rohr. Ein Polizist habe ihr neulich gesagt, die Situation am Kirchensockel entspreche dem Zeitgeist. Ein falscher Schluss, findet die Präsidentin der Kirchgemeinde: «Der Konsum von harten Drogen und Streitereien im öffentlichen Raum dürfen nicht sein.» Monique Rudolf von Rohr wurde nicht müde zu wiederholen: «Wer sich an die Regeln hält, ist willkommen.»

Von links: Hans Ruedi Kern (Geschäftsführer Coop City), Monique Rudolf von Rohr (Präsidentin Christkatholiken Olten), Joël Bur (Leiter SIP), Raphael Schär-Sommer (Stadtrat, Direktion Soziales)

Die Interventionsgruppe SIP

Joël Bur, Leiter der neuen Interventionsgruppe SIP (Sicherheit, Intervention, Prävention) berichtete über die Erfahrungen, seit die Gruppe im Januar dieses Jahres die Arbeit aufnahm. Ihr Ziel sei es, dass alle Nutzungsgruppen aneinander vorbeikommen. Dafür definierte die Stadt gemeinsam mit der SIP vorgängig Schwerpunkte. «Wir haben störendes Verhalten wahrgenommen und dann interveniert oder dies weitergemeldet», sagte er. Am Kirchensockel würden sich viele Menschen aufhalten, es sei viel los und im Schnitt seien ungefähr dreissig Personen da. «Aber es sind wenige, die auffällig sind und ein Verhalten an den Tag legen, das als störend wahrgenommen wird.» Ihr Ziel sei es, diese Menschen rauszupicken und mit ihnen nach Lösungen zu suchen. Seit Anfang Jahr konnte die SIP bisher sieben Menschen zu einer Entzugstherapie begleiten.

Die Politik

Neo-Stadtrat Raphael Schär-Sommer (Grüne) betonte, die SIP sei ein Bindeglied zwischen den repressiven und präventiven Massnahmen. «Es ist nicht nur eine Betreuungsgruppe für die Menschen am Kirchensockel», sagte er. Sie müsse allgemein dafür schauen, dass «unsere Vorstellungen für den öffentlichen Raum eingehalten werden». Prioritär will die Stadt die Problematik der Toiletten angehen. «Die WC laden momentan teilweise geradezu zum Drogenkonsum ein», sagte Schär-Sommer. Was die Situation am Kirchensockel betrifft, da habe die Kantonspolizei im sonnigen Septembermonat die Präsenz erhöht und in dieser Zeit auch drei Wegweisungen ausgesprochen. Die Stadt wolle die Zusammenarbeit mit allen Parteien künftig weiter intensivieren, kündigte er an.

Marcel (am Mikrofon) und Tascha (links) gehören zu den Menschen, die am Kirchensockel verweilen. Am Kolt-Treffen äusserten sie ihre Sichtweise der Dinge.

Die Menschen vom Kirchensockel

Mit Marcel und Tascha waren zwei Menschen anwesend, die regelmässig in der Szene am Kirchensockel anzutreffen sind. «Ich bin seit dreissig Jahren in Olten, es war immer ein Hin und Her um diesen Magnetpunkt», sagte Marcel. Der Kirchensockel aber sei nicht der Umschlagplatz für Drogen. Geringe Mengen an Drogen würden hier gekauft. «Die Menschen auf der Kirchentreppe haben kein Geld. Sie haben alle eine gescheiterte Existenz. Wir sind Gesellschaftsmenschen und wollen uns treffen.» Tascha ergänzte: «Aber wir wollen sicher nicht in einen Container reinsitzen. Der Austausch ist uns wichtig.» Sie würden sich Mühe geben, den Abfall aufzuräumen. «Das macht nicht jeder, schon klar», sagte Tascha. Wenn es zu Schlägereien komme, versuche er zu schlichten, so Marcel. «Manchmal chlöpfts, manchmal nicht. Ich bin auch nicht Jesus.»

Die diskutierten Lösungsansätze

Das Verbot

Zuletzt hatte es vonseiten SVP die politische Forderung gegeben, ein Alkoholverbot am Kirchensockel solle geprüft werden. Die Christkatholiken haben nun ein abgeschwächtes Verbot erwirkt. «Ich finde es einen interessanten Ansatz», sagte Stadtrat Schär-Sommer und gab sich bedeckt. Er bezweifle die Umsetzung, weil die Grenze zwischen Kirchensockel und städtischem Raum fliessend sei. «Was nützen Bussen, wenn jemand ohnehin kein Geld hat, um diese zu bezahlen?», warf Marcel eine rhetorische Frage in den Raum. Und SIP-Chef Joël Bur äusserte sich skeptisch zum Verbot. Dieses verlagere das Problem meist nur. «Wir haben kleine Lösungen erzielt, indem wir einzelnen Menschen eine Hilfestellung geben, die ihre Lebenslage verbessert.»

Mehr Aufenthaltsqualität

Ein belebter städtischer Raum könnte unter Umständen das Zusammenleben fördern. Dies zeigte sich etwa 2016 beim Projekt «Stadtgespräch», als eine Bar am Kirchensockel den Raum belebte. Der Denkmalschutz habe eine Fortführung dieses Pop-up-Projekts verhindert, sagte Kolt-Herausgeber Yves Stuber. Ob die Stadt nicht verstärkt die Aufenthaltsqualität verbessern müsse – beispielsweise mit niederschwelligen Sitzgelegenheiten? «Vielleicht findet hier ein Sinneswandel statt, aber ich kann heute nichts versprechen», sagte Stadtrat Raphael Schär-Sommer. Sitzmöbel gehörten für ihn zum öffentlichen Raum dazu. «Mir ist das lieber als ein Container, so schaffen wir auch eine Durchmischung.»

Ein Weg, den auch Joël Bur unterstützt. Seit es den Menschen gebe, gebe es die Sucht. Daher sei es auch nicht ihr Ziel, die Menschen mit Suchtproblematik aus dem öffentlichen Raum wegzukriegen. «Sie beanspruchen ihn, so wie wir ihn beanspruchen.» Für Coop-City-Geschäftsführer Hans Ruedi Kern ist klar, dass die Stadt den Raum nicht einfach der Öffentlichkeit überlassen darf. «Man muss ihn pflegen, sonst nimmt jeder das, was er will, und wir schauen einfach zu.»

Der Dialog

Aus dem Publikum kam wiederholt das Votum, der Dialog bilde die Basis für eine harmonische Koexistenz. Urs Widmer, selbst SIP-Mitarbeiter und Sozialarbeiter, sprach aus seiner persönlichen Erfahrung und erzählte von einer Studienarbeit zum Thema, für welche er Chur und Langenthal untersuchte. «Repressive Methoden brachten langfristig nicht viel. Nur der Dialog: ein entspanntes Aufeinanderzugehen.» Die Kirche mit diesem wunderbaren Standort sei der perfekte Ort der Begegnung. Und die Kirche habe sich selbst den Auftrag gegeben, auch als solchen zu wirken, sagte er. Eine Stadt werde daran gemessen, wie sie mit Phänomenen wie jenem am Kirchensockel umgeht.

In Bern versuchte die Heiliggeistkirche Ende der 90er-Jahre, die Randständigen von draussen in die Kirche zu holen. Man öffnete die Türen und offerierte eine Suppe. Ein Modell, das auch in Olten denkbar wäre? Monique Rudolf von Rohr winkte ab. Die Kirchgemeinde in Olten habe turbulente Zeiten hinter sich und sei zu sehr mit sich selbst beschäftigt. «Wir sind eine kleine Gemeinde mit Finanzen unter null», sagte sie.

Jörg Dietschi, ein Zürcher, der zufällig an diesem Tag in der Stadt seiner Vorfahren zu Besuch war und zur Debatte kam, appellierte «als überzeugter Christ»: «Gehen Sie nach den christlichen Grundsätzen vor. Es sind wunderbare Menschen, und ich denke immer bei jedem, er könnte ja Christus sein.»

Moderatorin und Organisatorin Finja Basan (stehend) führte durch das Kolt-Treffen.

Ein anderer Besucher erzählte seine persönliche Geschichte. «Ich war einer der Randständigen, aber heute bin ich dank Zufällen erfolgreich im Leben.» Er schilderte, wie er auf dem Stadelhoferplatz in Zürich Teil einer grossen Gruppe gewesen war, die sich täglich traf und den Platz mit einer grossen Zahl an Hunden einnahm. Das habe politisch eine riesige Diskussion ausgelöst. «Dort veränderte sich aus meiner Sicht erst etwas, als man aufeinander zuging.» Der Filialleiter von Mc Donald’s habe ihnen das WC geöffnet und im Gegenzug gefordert, sie sollten ihren Dreck aufnehmen. Und Coop habe ihnen Container-Restwaren abgegeben. «Danach entwickelte sich ein friedliches Zusammensein, auch wenn weiterhin geklaut und gebettelt wurde. Wir schauten, dass Ordnung ist. Der gegenseitige Respekt zählt.»

Für SIP-Leiter Joël Bur ist dies das langfristige Ziel in Olten. «Betroffene zu Beteiligten machen, besonders im Raum, in welchem sie sich aufhalten. Das wünsche ich mir für Olten auch.»

Nach der Diskussion gab’s Glühwein und Strassenmusik auf der Kirchgasse.

Die Verantwortlichkeit

Für das Gewerbe fehlten die klaren Lösungsvorschläge vonseiten der Stadt, wie Dominik Maegli aus dem Publikum unmissverständlich sagte. Er sei enttäuscht von Stadtrat Raphael Schär-Sommer, weil er nach seinem Empfinden konsequent alles schönrede. Schär-Sommer entgegnete, er nehme die Thematik sehr wohl ernst, aber er störe sich an den Generalisierungen. «Es geht um ein paar wenige Menschen, die Probleme verursachen. Wie ich vernommen habe, kamen die Wegweisungen selbst in der Szene gut an.»

Stadtrat Nils Loeffel (Olten jetzt!) schaltete sich ebenfalls ein und versicherte, der Stadtrat diskutiere Lösungen. Was die Belebung der Kirchgasse betrifft, sei er jederzeit bereit, mit Menschen zusammenzusitzen, die gute Projektideen hätten. Er brachte spontan die Idee, eine Arbeitsgruppe mit Vertretern vom Gewerbe zu gründen, die mit den Menschen am Kirchensockel das Gespräch sucht. Hans Ruedi Kern vom Coop City erwiderte, die Idee habe er schon vor einem Jahr gebracht: «Warum fragt man die Menschen nicht?» Geschehen sei seither kaum etwas. Für ihn ist klar: «Die Stadt muss den Lead übernehmen.»

Randgruppen, Stadtleben, SIP

Wir treffen uns in der Stadtkirche – «Randgruppen am Kirchensockel»

«Worüber wollen wir beim nächsten Kolt-Treffen sprechen?» – das war die Frage in unserer Redaktion kurz nach dem letzten Kolt-Treffen, bei dem wir uns zwischen den Modewelten bewegt hatten. Ein paar Leser-Inputs standen nun für das nächste Treffen zur Debatte. Wir haben uns entschieden, uns eines heiklen, aber sehr wichtigen Themas anzunehmen. Also treffen wir uns

am 26. Oktober um 19.00 Uhr in der Stadtkirche. Der Einlass beginnt um 18.45 Uhr.

Hier widmen wir uns dem Thema

«Randgruppen in unserer Mitte: Der Streit um den Kirchensockel»

Damit haben wir uns vor einiger Zeit bereits in diesem Artikel auseinandergesetzt.

Die Basis des Themas sind diese Inputs aus unser Leserschaft:

Wer sind die Drogen- und Alkoholsüchtigen in Olten? Warum Olten? Wer waren sie vor der Sucht? Wollen sie aussteigen? Wer kümmert sich um sie?

Olten braucht eine Littering-Lösung

Zum Gespräch laden wir dieses Mal:

  • Hans-Ruedi Kern, Vertretung des Gewerbe Olten und Geschäftsführer des Coop City
  • Monique Rudolf von Rohr, Präsidentin Christkatholische Kirchgemeinde Region Olten
  • Raphael-Schär Sommer, Stadtrat, Departement Soziales
  • Joël Bur, Leiter Interventionsgruppe SIP

Auch im Publikum dürfen wir Personen begrüssen, die direkt oder indirekt betroffen sind oder sich bereits öffentlich zum Thema geäussert haben. Und gern möchten wir auch dich und deine interessierten Freundinnen und Bekannten in der Kirche begrüssen. Ihr dürft das Treffen als stille Zuschauer erleben oder, wenn ihr mögt, an gegebener Stelle eure Meinung mit uns teilen.

Für das Event gilt eine Zertifikatspflicht. Wir begrüssen dich und euch also gern mit dem Ausweis und dem analogen oder digitalen Zertifikat. Der Eintritt ist frei, anmelden müsst ihr euch nicht.

Komm also gern (spontan) vorbei. Wir freuen uns auf dich, auf euch und auf eine spannende Diskussion.

Randgruppen in unserer Mitte: Der Streit um den Kirchensockel

Ein Montag Ende März. Der Frühling hat die Menschen rausgetrieben. Auch jene, welche die Gesellschaft gemeinhin als Randständige bezeichnet. Wegen ihrer Sucht sind sie an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Aber sie verstecken sich nicht, und einige verbringen den Tag bei der Stadtkirche in Olten. Das Bild, das sie dem Stadtzentrum verpassen: Bierdosen. Menschen in ihrem Rausch. Manchmal streiten sie untereinander. Manchmal betteln sie aufdringlich um Geld.

«Wir müssen für diese Leute eine Lösung finden, aber es kann und darf nicht sein, dass sie diesen zentralen und schönen Platz in Beschlag nehmen», sagt Philippe Ruf. Der örtliche SVP-Präsident reichte vor bald einem Jahr einen Vorstoss im Parlament ein. Darin schreibt er:

«Auf dem Sockel der Stadtkirche versammeln sich täglich Randständige, welche dort herumlungern, Drogen konsumieren, rauchen, Alkohol trinken und Passanten mit aufdringlichem Verhalten belästigen. Nicht selten kommt es bei den Randständigen – teils untereinander, aber auch gegen Aussenstehende – zu Streitereien und Pöbeleien. Ausserdem verdrecken die Randständigen den öffentlichen Raum rund um die Stadtkirche durch argloses Wegwerfen von Abfällen (‹Littering›).»

Die Stadt war sich der Problematik damals schon bewusst. Das Oltner Parlament sprach Ende Mai 450’000 Franken, um über drei Jahre eine Interventionsgruppe zu installieren. Viele Städte in der Schweiz vertrauen schon seit Jahren auf einen mobilen Ordnungs- und Sozialdienst, um in den Innenstädten das Miteinander zu fördern. Weil der Ruf nach Massnahmen im letzten Sommer grösser wurde, beauftragte die Stadt im August 2020 provisorisch eine Sicherheitsfirma.

Die SIP am Sockel der Stadtkirche, dem Brennpunkt der Innenstadt.

Den Auftrag für die bereits vorgängig geplante SIP vergab die Stadt an die Langenthaler Organisation Tokjo. Seit Mitte Januar ist sie in Oltens Strassen unterwegs. Nach einigen Vorfällen im Frühjahr steigt die Unruhe beim lokalen Gewerbe. Und auch Philippe Ruf pocht auf Massnahmen; sein Vorstoss sei trotz SIP noch immer relevant. «Wenn die SIP etwas erreichen könnte, wäre dies sensationell», sagt er, «aber momentan sehen wir keine Verbesserung der Situation.» Der SVP-Gemeinderat hat eigens Reaktionen vom Gewerbeverband und der Kirchgemeinde eingeholt, um Rückhalt für seine politische Forderung zu erhalten.

Er hat ihren Zuspruch bekommen. Auch für seinen konkreten Handlungsvorschlag: Die Stadt soll ein Alkoholverbot am Sockel der Stadtkirche prüfen. Wobei Ruf sich nicht auf diese Massnahme versteifen will. Er sagt: «Nur brachte niemand bisher einen besseren Lösungsvorschlag.»

Repression als einziger Ausweg? Ruf glaubt, dass die rechtliche Grundlage des Alkoholverbots nur dann ausschlaggebend sein werde, wenn Menschengruppen zu stören begännen. «Solange es friedlich ist, ruft niemand die Polizei.» Zwar gibt der SVP-Politiker zu, dass durch ein Verbot die Probleme der süchtigen Menschen nicht gelöst würden. «Aber wir können nicht tolerieren, dass ihre Bedürfnisse höher gewichtet werden als jene der restlichen Gesellschaft», sagt er. Seinen politischen Vorstoss sieht er als punktuelle Lösung «zum Wohl der Mehrheit». Er sei nicht ein Votum gegen die ganzheitliche Betrachtung der Stadt und der SIP, sondern könne deren Arbeit unterstützen, glaubt er.

Gelassenheit im Stadthaus

Sozialdirektorin Marion Rauber lässt sich durch die jüngsten Berichte über Pöbeleien und Lärmklagen nicht stressen. Mails von unzufriedenen Bürgerinnen gehörten zur Tagesordnung, sagt sie. «Ich kann nachempfinden, dass gewisse Personen sich gestört fühlen, wenn Menschen ein anderes Lebensmuster haben und laut werden», sagt die SP-Stadträtin. Dennoch lehnt sie, wie auch Stadtpräsident Martin Wey in seiner Antwort auf Rufs Vorstoss, ein Alkoholverbot vehement ab. Ein solches impliziere, dass die Stadt bestimme, wer sich wo aufhalten dürfe und wer nicht.

«Meine Hoffnung ist, dass wir aneinander vorbeikommen», sagt Rauber. Um dieses Ziel zu erreichen, hat die Stadt eine Begleitgruppe ins Leben gerufen. Diese sei fast schon beispiellos, was die direktionsübergreifende Zusammenarbeit betrifft, findet Rauber. Mit der SIP, der Kantonspolizei, der Suchthilfe Ost, der Abteilung für Ordnung und Sicherheit, dem Bauamt und dem Sozialamt sind die wichtigsten Parteien alle an einem Tisch vertreten. Die Begleitgruppe überprüft fortlaufend die Arbeit der SIP, die ihren Handlungsspielraum flexibel anpassen kann. «Frühestens im Herbst werden wir sehen, wie sich die Situation entwickelt hat», sagt Rauber.

Der Monatsmarkt und die Sonne haben an diesem Märzmontag viel Leben in die Stadt gebracht. Im Schatten der Stadtkirche ist ein gutes Dutzend Menschen versammelt. Die verschiedenen Gruppen kommen sich nicht in die Quere. Tage wie dieser zeigten beispielhaft, dass die Koexistenz funktioniere, sagt Rauber. «Wenn alle Menschen den Raum in Anspruch nehmen, beruhige sich die Situation.» Auch die Gewerbetreibenden müssten ihren Teil dazu beitragen, den Kirchensockel zu bespielen, findet sie.

Auch in Oltens schummrigen Unterführungen patrouilliert die SIP. Seit dem Start im Januar sei es in den Passagen aber sehr ruhig geblieben, sagt Jacqueline.

Wir treffen Jacqueline und Markus, die an diesem Tag gemeinsam für die neu installierte SIP unterwegs sind. Sie ist Sozialpädagogin und kennt die «Szene», wie sie sagt. Acht Jahre lang arbeitete sie für die Suchthilfe und kam dadurch mit vielen Menschen mit Suchtthematik in Kontakt. Er kennt den Drogenentzug aus eigener Erfahrung. Ab den 80er-Jahren war er über ein Jahrzehnt lang schwer süchtig, ehe er von den Drogen wegkam.

Die SIP setzt in Olten ein Team von elf Personen ein, das bewusst «multikulti» zusammengestellt ist, wie Projektleiter Joël Bur erklärt. Damit meint er die diversen Hintergründe, welche die Mitarbeiterinnen mitbringen. Die Zweierteams setzen sich jeweils aus Fachkräften mit verschiedensten Hintergründen aus dem sozialen Bereich zusammen. Einzelne bringen wie Markus selbst Suchterfahrungen mit. Viele von ihnen leisten ihre Dienste nebenamtlich und sind zwei- bis dreimal pro Woche in Olten unterwegs.

Bisher war die SIP von Montag bis Samstag auf Tour. Mit den wärmeren Temperaturen wird sie ihre Einsatzzeiten anpassen. Auch an den Abenden und am Sonntag will sie in der Sommerzeit präsent sein. Die Leistungsvereinbarung mit der Stadt würde es erlauben, dass die SIP täglich vier Stunden patrouilliert. Da sie an einzelnen Tagen nicht präsent ist, sind die Einsatzschichten an gewissen Tagen länger. «Auffallend war, dass es an jenen Tagen zu Unruhen kam, an denen wir nicht vor Ort waren», sagt Projektleiter Joël Bur.

Markus klopft an die Tür, bevor er die Toilette kontrolliert.

Abseits des Sockels der Stadtkirche, wo die Menschen mit Suchtthematiken sich treffen, stellen sich viele Herausforderungen. Dies zeigt sich an diesem Montagmittag Ende März. Wir brechen mit Jacqueline und Markus zu einem kleinen Rundgang auf. Nicht bloss der Situation um die Stadtkirche gilt derzeit ihr Augenmerk. Der Drogenkonsum auf den öffentlichen Toiletten hinterlässt oftmals unschöne Spuren. «Besonders die Toiletten am Klosterplatz bereiten uns momentan Probleme», sagt Jacqueline.

Wir beginnen am Munzingerplatz

«SIP Oute, WC-Kontrolle», sagt Markus und klopft an die metallene Tür, über der die Lettern «Öffentliche Aborte» angebracht sind. Keine fünf Meter nebenan spielt ein Dutzend Kinder. Die Toiletten sind bis auf ein Stück Alufolie sauber.

Langfristig sei es das Ziel der SIP, den Drogenkonsum auf den öffentlichen Toiletten möglichst zu verhindern, erklärt Joël Bur. Mit den WC-Kontrollen will die SIP den Menschen, die ihrer Sucht nachgehen, auch unbequem sein. Ihr Konsum soll sich in die Suchthilfe verlagern. An der Aarburgerstrasse können sie unter hygienischen Bedingungen ihre Sucht stillen und auch illegale Substanzen konsumieren. Nur ist es eine schwierige Aufgabe, die Menschen dorthin zu bringen.

«Einige wollen nicht in die Suchthilfe, weil sie anonym bleiben wollen und der Weg dorthin weiter ist», sagt Jacqueline, als wir bei den öffentlichen Toiletten am Klosterplatz angelangt sind. Auf dem Plattenboden ist ein Spritzenschutz zurückgeblieben, den Markus entfernt. Jemand hat sich hier – anstatt im Konsumationsraum der Suchthilfe – womöglich kurz zuvor einen Schuss gesetzt.

Spuren des Drogenkonsums auf dem Klosterplatz, wo derzeit der dringendste Handlungsbedarf besteht.

Bei der Suchthilfe Ost besteht eine Anmeldepflicht, die eine Hemmschwelle sein kann. Die Leistungsvereinbarung der ambulanten Suchthilfe mit dem Kanton regelt dies so, damit ausschliesslich Personen aus den finanzierenden Gemeinden das Angebot nutzen können. Zwischen 30 und 50 Personen suchen regelmässig die Stadtküche auf, erzählt Geschäftsführerin Ursula Hellmüller am Telefon.

Auf ungefähr 20 Personen schätzt sie die Zahl jener, die vor Ort auch illegale Substanzen konsumieren. Gemeinsam mit der SIP möchte sie mehr süchtige Menschen abholen – auch um die Situation in der Innenstadt zu entlasten. Aber auch Hellmüller weiss: «Es wird immer Menschen geben, die sagen, die Suchthilfe ist nicht mein Ding.» Sie erhofft sich durch die SIP mittelfristig eine Antwort auf die Frage, wie sich die Szene der Menschen mit Suchtabhängigkeit zusammensetzt. Da die Suchthilfe selbst keinen aufsuchenden Dienst leistet, fehlen ihr diese Erkenntnisse.

Ab dem 10. April baut die Suchthilfe ihr Angebot wesentlich aus. Schon im Sommer, als sie die Leitung übernahm, störte sich Hellmüller an den Öffnungszeiten. Sie beschränkten sich bisher auf die Werktage. Neu wird die Stadtküche auch an den Wochenenden offen sein. Zudem schenkt die Suchthilfe ein nach schwedischem Vorbild gebrautes Leichtbier (3,3 %) aus. Gebraut wird dieses von der lokalen Brauerei Dreitannenbier. «Wir sind in der Region verankert und wollen auch das lokale Gewerbe unterstützen», sagt Hellmüller. Um mit dem Billigbier der grossen Detailhändler zu konkurrieren, kostet die Stange in der Suchthilfe bloss 60 Rappen.

Jacqueline und Markus sind auf ihrem Rundgang in der City-Unterführung angekommen. Nur ein Coiffeurladen gibt der verwaisten Passage derzeit noch Leben. Corona hat mit der Latinobar jenen Ort stummgeschaltet, wo schon so manche Oltner Nachtschwärmer sich vor den ersten Sonnenstrahlen versteckten und eine lange Nacht hinauszögerten. Die SIP-Patrouille entsteigt der Parallelwelt über die seit Jahren lahmgelegte Rolltreppe.

Die SIP, dein Freund und …

Ihr Rundgang endet bei den Menschen am Kirchensockel. Die Stimmung rund um den Monatsmarkt ist friedlich. Sie hätten sich kaum losreissen können, erzählt uns Jacqueline, als wir uns wieder vor dem Stadthaus treffen. Im Moment sei die SIP bestrebt, das Vertrauen der Menschen zu gewinnen, sagt sie. Die Gespräche reichen vom Smalltalk, wie es dem Hund gehe, bis zu ergreifenden Schicksalsgeschichten, welche den SIP-Mitarbeiterinnen anvertraut werden.

SIP-Projektleiter Joël Bur erklärt die Philosophie, die auf dem Weg zum Miteinander im öffentlichen Raum zielführend sein soll: «Nur über Beziehungen kann man sensibilisieren.» Von repressiven Massnahmen wie einem Alkoholverbot hält er genauso wie der Stadtrat nichts. «Ein Verbot löst nicht die Thematik, sondern verlagert sie», sagt er. «Oder es führt sogar zu einer Trotzreaktion». Denn die betroffenen Menschen hätten nicht viel zu verlieren.

Die jetzigen Konfliktsituationen enstehen gemäss Joël Bur oftmals dann, wenn der Suchtdruck gross wird. «Wir versuchen den Menschen einen Perspektivenwechsel aufzuzeigen. Sie sollen begreifen, was ihr Verhalten bei den Passanten auslöst», sagt er. Der suchtfreie Raum bleibe bei diversen Nutzungsgruppen eine Utopie. «Darum streben wir ein friedliches Miteinander statt ein Gegeneinander an.»

SIP, Suchthilfe Ost, öffentlicher Raum

Sehnsucht nach der Lagune

Glasklares, smaragdgrünes Wasser, die Sicht frei auf die prächtige Unterwasserwelt mit ihren bunten Korallenriffen und den nicht weniger farbenfrohen Bewohnern, ein Sandstrand weisser als das reinste Kokain und erloschene Vulkane, um die sich Mythen und Sagen ranken. Einmal im Leben nach Bora Bora reisen. Einmal im Leben die Schönheit der Natur auf dem kleinen Atoll inmitten des Südpazifiks mit eigenen Augen sehen. Ein Wunsch, den sich Dieter Plüss in seinem Leben noch erfüllen möchte. Regelmässig legt er dafür einen kleinen Teil seines ohnehin bescheidenen Lohnes auf die Seite. Wer frühmorgens am Bahnhof in Olten unterwegs ist, dürfte Plüss schon begegnet sein.

Während rund um ihn herum die Leute es eilig haben, ihren Zug zu erwischen, harrt er seiner Dinge. Wie ein kleiner Fels im Pendlermeer trifft man ihn jeweils gegenüber der Treppe zu den Gleisen vier und sieben, zwischen Kiosk und Spettacolo. Im Winter mit Schal und Mütze warm eingemummelt steht er dort und bietet, ohne viele Worte und gross Aufsehen zu erregen, das Strassenmagazin Surprise zum Verkauf an. Sechs Franken verlangt er für die Ausgabe, drei darf Plüss behalten. Beinahe könnte man im morgendlichen Gewusel den kleinen Mann übersehen. Wären da nicht seine Jacke und die Mütze. In feurigem Rot, wie die Blüten des Hibiskus auf Bora Bora.

«Ich verkaufe 50 Stück jede Woche», sagt Plüss, nicht ohne ein bisschen Stolz in seiner Stimme mitschwingen zu lassen. Um Nachschub zu besorgen, reist er alle vierzehn Tage an einem Freitagmorgen nach Bern. Unter der Woche steht der 54-Jährige jeweils zwischen sieben und neun Uhr an seinem Verkaufsplatz, den er vor fünf Jahren mit etwas Glück von einer Bekannten geerbt hat, die dort ebenfalls Zeitschriften verkaufte. Nach getaner Arbeit geht es mit dem Bus zurück in seine Wohnung nach Winznau. «Seit ich mit den Drogen abgeschlossen habe, bin ich nur noch selten in Olten unterwegs», erzählt Plüss. Weil die Furcht gross ist, wieder mit den falschen Leuten in Kontakt zu kommen, wieder mit dem Heroinspritzen zu beginnen und wieder dort zu landen, wo er vor dreissig Jahren einst strandete. Auf der Gasse.

Jugendjahre im Heim

Als ältester Sohn der Familie ist Plüss in Appenzell aufgewachsen. Dort erlebte er eine glückliche Kindheit, die jedoch viel zu früh ein jähes Ende nahm, als seine Mutter an Leberkrebs erkrankte und nur kurze Zeit später im Spital starb. «Ich verlor meine Mutter in einer Zeit, in der ich sie dringend gebraucht hätte», erinnert sich Plüss. Er war damals vierzehn Jahre alt. Während seine Geschwister beim Vater in Appenzell bleiben durften, kam Plüss als einziger in ein Kinderheim in Herisau. «Wohl weil ich mich mit meinem Vater nie besonders gut verstanden hatte.» Mit der neuen Situation habe er sich arrangiert. «So gut es halt ging.»

Die Regeln im Kinderheim seien streng gewesen, er habe sich aber dem Leben dort angepasst. «Ich habe einfach gemacht, was von mir verlangt wurde.» Mit zwanzig zog Plüss in seine erste eigene Wohnung. In St. Gallen machte er eine Ausbildung als Autoservicemann. Der junge Mann arbeitete als Tankwart und in der Waschstrasse der damaligen «City-Garage». Autos und die Technik darin hätten ihn von jung an fasziniert.

Erinnerung an den Platzspitz

«Es war jugendlicher Blödsinn», sagt Plüss auf die Frage, weshalb er anfing, Heroin zu konsumieren. Wie viele andere wollte er die Droge nur ausprobieren, blieb aber sofort hängen. 1986, als sich in Zürich eine offene Drogenszene ansiedelte, war auch Plüss oft in der Stadt. Er verkehrte regelmässig am Platzspitz, wo sich zu dieser Zeit ein regelrechter Hexenkessel des Drogenelends etablierte. Tag und Nacht war der Platz von tausenden von Heroinabhängigen bevölkert und Dealer aus aller Welt reisten in die Schweiz, um Profit zu machen. Die Bilder gingen um die Welt. Mitten in diesem Elend war auch Plüss unterwegs. Oft reichte seine Kraft nach dem letzten Schuss nicht mehr für die Rückreise nach Hause. Immer öfters blieb er darum in Zürich und schlief irgendwo auf der Gasse.

«Eine verrückte Zeit», blickt Plüss zurück. «Würden die Leute heutzutage den Stoff von damals konsumieren, es würde sie glatt umhauen.» Ein Gramm Heroin kostete damals 600 Franken. Heute sei es für 50 Franken zu haben. «Wahrscheinlich auch weil es im Vergleich zu früher dermassen gestreckt ist.» Zum Heroinkonsum kam später Kokain hinzu. «Wir machten uns Cocktails, weil das noch stärker einfuhr.» Plüss war regelmässig am Platzspitz bis zu dessen Räumung 1992. Als die Szene sich im Anschluss an den Letten verlagerte, zog auch er mit. Auf einen ersten Entzug folgte der erneute Absturz. Angesprochen darauf, wie Heroin wirke, dreht Plüss seinen Kopf zum Fenster und sein Blick schweift ab. Er denkt lange nach und meint dann kurz: «Dir ist einfach alles egal.»

Als Plüss vor zwanzig Jahren mit seinem damaligen Arbeitgeber von Chur nach Olten umzog und in der Industrie im Pneurecycling arbeitete, habe er weiterhin Heroin konsumiert. Am Ländiweg wurde damals offen gedealt. «Dort haben wir uns mit Stoff eingedeckt, um ihn anschliessend zu Hause zu konsumieren.» Auf fünfzig bis hundert Drogensüchtige schätzt Plüss die damalige Szene in Olten. Plüss wohnt noch immer in derselben Wohnung wie vor zwanzig Jahren, als er hierherkam. Zusammen mit Kater Turbo. «Turbo, wegen seines Temperaments.» Das Haus in Winznau liegt an einer vielbefahrenen Strasse. Zwei Katzen seien ihm schon überfahren worden. Den Schmerz möchte er nicht noch einmal erleben. Deshalb bleibt Turbo in der Wohnung. «Im Januar bekommt er einen Kollegen, damit er nicht so einsam ist.»

Männerfreundschaft im Haus

Plüss kennt die anderen Bewohner des Miethauses. Es sind nur vier Parteien. Mit dem Nachbarn im Erdgeschoss verbindet ihn eine Freundschaft. «Der hatte nie etwas mit Drogen am Hut. Er hat mich unterstützt, als ich damit aufgehört habe.» Die Freunde sehen sich fast täglich, kochen oft zusammen und sind füreinander da, wenn der eine den anderen braucht. Plüss‘ Laptop steht die meiste Zeit beim Nachbarn, weil der besser mit Computern kann. «Das will ich noch lernen», sagt Plüss, der in seinem Leben noch nie ein E-Mail geschrieben hat. Dafür flickt Plüss mit Stich und Faden Nachbars Hemden. Den Kontakt zum Bekanntenkreis aus Drogenzeiten hat er abgebrochen. «Ich habe heute keine Kollegen mehr, die abhängig sind.» Einmal im Monat trifft er sich in der Suchthilfe zum Gespräch mit einem Sozialarbeiter. Ansonsten meidet er auch diesen Ort. «Zu viele alte Bekanntschaften, die mir gefährlich werden könnten.»

Den Ausstieg aus seiner Sucht schaffte Plüss vor fünf Jahren. Der Tag, an dem seine damalige Freundin an einer Überdosis stirbt, markiert einen Wendepunkt in seinem Leben. «Nach der Todesnachricht bin ich nach Hause gefahren, habe meine Drogenvorräte in einen Sack gepackt und alles in den Abfallcontainer vor dem Haus geschmissen.» Es folgte ein dreimonatiger Aufenthalt in einer Entzugsklinik in Pfäfers im Sarganserland. Seither sei er sauber, habe nie mehr etwas angefasst. Heute muss Plüss jeden Morgen vor dem Frühstück eine Pille schlucken. Methadon, das er in der Apotheke erhält und vor den Augen der Apothekerin einnehmen muss. Die Tabletten fürs Wochenende darf er mit nach Hause nehmen. Man vertraut ihm, dass er sie nicht weitergibt oder verkauft. «Ohne Methadon würde ich sofort auf Entzug kommen.»

Irgendwann möchte Plüss aber auch vom Methadon loskommen. «Dazu muss man erst mal die Dosis langsam reduzieren.» Einmal habe er vergessen, die Tablette zu nehmen. Wenige Stunden später bemerkte er sein Malheur: Zitternde Hände, starkes Schwitzen, ein aufgekratztes Gemüt waren die Folge. Während Plüss erzählt, baumelt das kleine goldene Kreuz an seinem linken Ohr. Der Glaube habe ihm beim Ausstieg geholfen und gebe ihm die Kraft, standhaft zu bleiben und keine Drogen mehr zu nehmen. Plüss besucht gleich in mehreren Kirchen in Olten die Messen und betet auch zu Hause regelmässig.

Weltenbummler im Herzen

Die Idee mit der Reise nach Bora Bora kam bei Plüss auf, als er im Fernsehen eine Dokumentation darüber sah. Das friedliche Atoll in den Weiten des Ozeans fasziniert ihn. Er erinnert sich an seine Jugend und an Ferien in Jugoslawien, Österreich, Italien. Im vergangenen Jahr sass er zum ersten Mal in seinem Leben in einem Flugzeug. Mit einer Reisegruppe verbrachte er zehn Tage in Indien. Organisiert von der Tagesstätte Mittelpunkt in Oensingen, wo Plüss regelmässig verkehrt. Ein Fingerring mit Schriftzeichen in Sanskrit erinnert an den Trip an das andere Ende der Welt.

Das Bierglas ist noch halbvoll, als Plüss von seinen Reiseplänen erzählt und seine Brille für einen Moment abnimmt. Selbstkritisch meint er, eine Schwäche von ihm sei der Alkohol. Ein, zwei Bier am Tag müssen sein. Von harten Spirituosen lässt er lieber die Finger. Wird Plüss eines Tages das Geld für den Flug nach Französisch-Polynesien zusammenhaben und seine Füsse auf den Sand des Matira Beach setzen, könnten das die entscheidenden Schritte sein, die ihn sein letztes Laster überwinden lassen. Auf Bora Bora ist Alkohol sündhaft teuer und am schönsten Strand des Atolls streng verboten. Für seinen Traum wird Plüss auch morgen wieder am Oltner Bahnhof stehen, um sein Strassenmagazin an Mann und Frau zu bringen. Für heute aber ist Schluss. Plüss packt seinen Rucksack und macht sich auf den Heimweg. Zu Hause wartet Kater Turbo schon auf sein Znacht.

Drogen, Surprise Strassenmagazin, Heroin

Hamburger, Hacktätschli und Heroin

Kurz bevor das Wasser zu sieden beginnt, legt Mitarbeiter André Gerber den Salat und das Rüstmesser beiseite und schmeisst eine herzhafte Portion Spaghetti mit Bolognese-Sauce in den grossen Kochtopf. Eine halbe Stunde später wird es in der Stadtküche nur noch vereinzelt einen freien Platz geben. Noch bleibt aber Zeit für die letzten Vorbereitungen und Gelegenheit für einen Blick in den Konsumationsraum der Suchthilfe Ost an der Aarburgerstrasse. Patrizia Twellmann, die Abteilungsleiterin der Stadtküche sowie der Kontakt- und Anlaufstelle, führt eine Tür weiter in die Räumlichkeiten, in denen mitgebrachte Drogen in einem geschützten Rahmen konsumiert werden können.

Während in der Küche Spaghetti und Sauce warm werden, bleibt Zeit für einen Abstecher in die Kontakt- und Anlaufstelle nebenan.

Drei Räume stehen für die unterschiedlichen Konsumarten zur Verfügung, erzählt Twellmann. «Kokain, Heroin, Valium oder andere Betäubungsmittel werden von den Klienten auf ganz unterschiedliche Weise konsumiert.» Direkt neben dem Raucherzimmer befindet sich in einer Nische ein schmaler Wandtresen aus Chromstahl. «Da wird gesnifft», erklärt Twellmann die Vorrichtung, von der Substanzen durch die Nase konsumiert werden. Ein paar Schritte weiter befindet sich der Injektionsraum. Für Süchtige, die ihre Droge spritzen.

Die Konsumationsräume an der Aarburgerstrasse

Anders als früher gibt es heute kaum noch Suchtkranke, die sich auf eine Droge beschränken. Zum Alltag gehört der Mischkonsum. «Der klassische Heroinjunkie, wie es ihn in den Achtzigern gab, existiert nicht mehr. Die Leute konsumieren, was das Angebot gerade hergibt», erklärt Twellmann. Das kann zu kritischen Situationen führen, da nicht immer leicht vorhersehbar ist, wie sich der Cocktail auf den Körper auswirkt. Die Mitarbeiterinnen sind für den Ernstfall vorbereitet. Sie wissen, was zu tun ist, wenn jemand zusammenklappt.

Die Drogenszene in Olten sei in ihrer Grösse überschaubar, so der Eindruck von Ursula Hellmüller. Seit August ist sie als Co-Geschäftsleiterin bei der Suchthilfe Ost tätig. Zuletzt dozierte sie an der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz. Davor arbeitete sie im Zürcher Unterland unter anderem in der Gassenarbeit. Seit drei Jahren gibt es die Konsumationsräume in Olten. Noch immer reise ein Teil der lokalen Süchtigen nach Basel, wo vergleichbare Stellen bereits vor bald dreissig Jahren eingerichtet wurden. Zum einen ist es die Macht der Gewohnheit, zum anderen sind es die Drogenpreise, die in der Grenzstadt tendenziell tiefer seien und die Leute anziehen würden, erklärt Hellmüller.

«Wir verfolgen in erster Linie keine Abstinenzabsicht, sondern kümmern uns um Schadensminderung», sagt Ursula Hellmüller.

Für die Zukunft ist angedacht, die Öffnungszeiten der hiesigen Kontakt- und Anlaufstelle zu erweitern. Bisher steht das Angebot der Suchthilfe nur an Werktagen zur Verfügung. Da der Drogenkonsum übers Wochenende keine Pause mache, sei das im Grunde genommen unsinnig. «Je ausgedehnter unsere Öffnungszeiten, umso weniger sieht man die Leute an lauschigen Plätzen, in Hauseingängen oder auf der Strasse ihre Drogen konsumieren», begründet Hellmüller die Pläne. Ziel der Kontakt- und Anlaufstelle sei es nicht zuletzt, die Bevölkerung zu schützen vor dem Anblick und der «Dauerirritation» durch konsumierende Abhängige.

Die Nadelwahl

Im Injektionsraum sorgt kühles, grelles Licht dafür, dass Süchtige ihre Venen leichter finden. Twellmann öffnet eine grosse Schublade, deren Inhalt an einen Arztbesuch erinnert. Nach dem vorgeschriebenen Händewaschen erhält die Konsumentin aus dem Schrank ihr steril verpacktes Spritzmaterial. Zu den Utensilien in der Schale gehören neben einer Spritze zwei unterschiedliche Nadeln. Je nachdem, an welcher Körperstelle die Injektion erfolgt, kommt die eine oder die andere zum Einsatz. «Wird die Spritze beispielsweise am Hals angesetzt, braucht es eine längere Nadel als am Unterarm», erklärt Twellmann.

Im beigelegten Esslöffel kann die mitgebrachte Substanz in sterilem Wasser aufgelöst werden. Damit sich beispielsweise Heroin leichter auflöst, liegt in der Schale ein Beutelchen mit Ascorbinsäure in Pulverform, reines Vitamin C. Durch einen Zigarettenfilter, der anschliessend in die Flüssigkeit gelegt wird, kann der Klient die Droge mit der Nadel aufziehen, ohne dass fremde Partikel in die Spritze gelangen. Mittels eines Alkoholtupfers wird die Körperstelle desinfiziert, bevor die Spritze angesetzt wird.

Das Spritzmaterial

In normalen Zeiten finden vier Personen Platz im Injektionsraum. Zurzeit sind es nur zwei, damit der Abstand gewährleistet ist. Immer anwesend ist eine Mitarbeiterin der Suchthilfe, die das Spritzbesteck aushändigt und den Konsum überwacht. «Durch die Anwesenheit verhindern wir, dass Spritzen getauscht werden», sagt Hellmüller. Damit lassen sich Krankheitsübertragungen vermeiden. Aus Sicherheitsgründen dürfen die Klienten nur sitzend konsumieren. «Wir wollen niemanden mit einer Nadel herumlaufen sehen», so Twellmann.

Ebenso wichtig wie die Sicherstellung der hygienischen Bedingungen ist das Gespräch mit den Süchtigen. «Wir lernen die Leute kennen, sehen, wie es ihnen geht, und können in schwierigen Situationen frühzeitig Massnahmen ergreifen», sagt Twellmann. Mit der Polizei habe man eine Vereinbarung, dass diese nicht direkt vor dem Gebäude die Leute abpasst und kontrolliert. «Wäre das anders, hätten wir von heute auf morgen niemanden mehr hier.»

Derzeit suchen pro Tag rund zwanzig Personen die Räumlichkeiten auf. Seit der Coronakrise seien die Besucherzahlen deutlich zurückgegangen, sagt Twellmann. Infolge des Lockdowns und des Aufrufs an die Bevölkerung, zu Hause zu bleiben, waren weniger Menschen auf den Strassen unterwegs. Gleichzeitig gab es mehr Polizeipatrouillen. Die Dealerinnen zogen sich zurück, weil das Risiko stieg, erwischt zu werden. Damit gab es weniger Stoff auf dem lokalen Markt und die Klienten wichen in andere Städte aus.

«Im Austausch mit verschiedenen Institutionen in der Schweiz erfuhren wir, dass kleinere Städte dieselbe Erfahrung machten wie wir», erzählt Twellmann. In der gleichen Zeit verzeichneten Städte wie Zürich oder Basel, in denen der Drogenhandel weiterhin funktionierte, in ihren Anlaufstellen einen merklichen Zuwachs an Suchtkranken. Hinzu kam eine weitere Entwicklung: Private stellten ihre eigene Wohnung als Konsumationsraum für andere Abhängige zur Verfügung. «Die Wohnungsmieter haben für ihren Dienst vom Dealer den Stoff gratis erhalten, weil es die Belieferung einfacher und risikofreier machte.»

Patrizia Twellmann weiss aus den Gesprächen mit ihren Klienten, was sie gerade beschäftigt.

Die momentane Zurückhaltung bei den Gästen ist auch in der Stadtküche spürbar. Twellmann macht bei ihren Klientinnen zwei Reaktionen auf die Pandemie und die ausgerufenen Massnahmen des Bundesamts für Gesundheit aus. «Entweder sie haben enorme Angst vor einer Ansteckung oder es ist ihnen schnurzpiepegal.» Generell stelle sie aber fest, dass ein Grossteil der Leute vorsichtiger geworden sei. «Es ist ihnen sehr wohl bewusst, dass sie einer Risikogruppe angehören.» Jede Abteilung der Suchthilfe Ost verfügt über ein eigenes Schutzkonzept.

Eine Woche ist es her, dass sich das Amt für soziale Sicherheit des Kantons in der angegliederten Werkstatt umgesehen und die Einhaltung der Schutzmassnahmen überprüft hat. «Wir begrüssen solche Kontrollen, schliesslich ist es wichtig, dass die Konzepte keine Schreibtischtat bleiben, sondern sauber umgesetzt werden», sagt Hellmüller. Von Behördenseite wurden keinerlei Mängel festgestellt.

Im Frühling gab die Stadtküche ihre Mahlzeiten nur noch zum Mitnehmen heraus, die Werkstatt für betreutes Arbeiten stellte ihren Betrieb ein, der Kontakt zu den Klientinnen im begleiteten Wohnen wurde telefonisch statt mit persönlichen Besuchen aufrechterhalten, und auch die Anlaufstelle schloss vorübergehend ihre Türen. «Wir merkten schnell, dass das kein dauerhafter Zustand sein kann, und haben uns bemüht, die Anlaufstelle schnellstmöglich wieder zu öffnen», sagt Co-Geschäftsleiterin und Leiterin Case Management Esther Altermatt. Die Anlaufstelle wurde bereits nach einigen Wochen wieder geöffnet. Seit August laufe der gesamte Betrieb der Suchthilfe wieder zu hundert Prozent.

Nach der Schliessung der Konsumationsräume habe man rasch festgestellt, dass das für die Leute schwierig sei, sagt Esther Altermatt.

Gesamtschweizerisch gesehen sei das Phänomen zu beobachten, dass Drogenkonsumenten, die in den Anlaufstellen der Institutionen verkehren, von einer Coronainfektion bisher weitgehend verschont blieben. Trotzdem ist die psychische Belastung da. «Wie für alle anderen Menschen ist es keine leichte Zeit. Meiner Erfahrung nach führen Abhängige harter Drogen aber per se ein relativ einsames Leben und kennen die Einsamkeit. Da sie vor allem damit beschäftigt sind, Drogen zu beschaffen und zu konsumieren, bleibt weder Zeit noch Geld für Aktivitäten, wo es zu Begegnungen mit anderen Menschen kommen würde», sagt Hellmüller. Möglicherweise einer der Faktoren, der gegen das Virus spielt.

Hausgemacht schmeckts am besten

Zurück in die Stadtküche, wo die Spaghetti al dente auf dem Teller landen. «Unser oberstes Ziel ist es, dass die Leute essen und nicht nur Drogen konsumieren», sagt Twellmann. Sechs bis sieben Menüs zwischen drei und sechs Franken stehen jeden Tag auf der Menükarte. Fürs Wochenende können sie auch mitgenommen werden. Die Mahlzeiten werden von den Stadtküchenmitarbeitern vorgekocht und in Plastikfolie einschweisst eingefroren. «Unsere Hamburger schmecken den Leuten besser als jene der bekannten Fastfoodkette», zeigt sich Gerber erfreut über die positiven Rückmeldungen seiner Gäste.

Um eine Menüauswahl anbieten zu können, sind alle Gerichte tiefgekühlt.

Während gerade jemand eine Portion Hacktätschli mit Reis abholt, bringt Gerber zwei Schüsseln gefüllt mit Äpfeln, Rüebli und Kohl aus der Küche. Daneben legt er ein halbes Dutzend Brotlaibe auf den Tresen. Drei Mal die Woche erhält die Suchthilfe Gemüse, Früchte und weitere Lebensmittel von der Schweizer Tafel geliefert. Fleisch wird dazugekauft. Was sich nicht in einem der hausgemachten Gerichte wiederfindet, geht an die Klienten, die sich frei am Tresen bedienen dürfen.

Teilen sich die Geschäftsleitung: Esther Altermatt (links) und Ursula Hellmüller.

Eine legale Droge, die alle Schicksale auf betrübliche Weise eint, ist der Alkohol. Auf der Getränkekarte der Stadtküche sucht man ihn vergebens. Den Gästen ist es jedoch erlaubt, ihre alkoholischen Getränke selbst mitzubringen und beim Essen zu konsumieren. «Weil es ohne halt einfach nicht geht», erklärt Twellmann. Und Altermatt ergänzt: «Über alle Klienten gesehen ist der Alkohol jene Substanz, mit der wir bei der Suchthilfe am meisten konfrontiert sind.» Es ist eine oft im Verborgenen bleibende Abhängigkeit, der nicht im überwachten Konsumationsraum nachgegangen wird. Vielmehr ist sie Thema in den persönlichen Beratungsgesprächen, welche die Suchthilfe Ost ebenfalls anbietet.

Die Suchthilfe Ost
Die Suchthilfe Ost GmbH begleitet und unterstützt Menschen mit Suchtproblemen in den Gemeinden der Bezirke Dorneck, Gäu, Gösgen, Olten, Thal und Thierstein. Ihr Hauptsitz befindet sich in Olten. Ihre Schwesterorganisation, die PERSPEKTIVE Region Solothurn-Grenchen deckt die Bezirke Solothurn, Lebern, Bucheggberg und Wasseramt ab. Die beiden Organisationen haben die Aufgabe, im Kanton Solothurn ein Angebot bereitzustellen in den Bereichen Prävention und Früherfassung, Beratung und Case-Management sowie Risiko- und Schadensminderung. Grundlage ist der kantonale Leistungskatalog. Finanziert werden die Organisationen durch die Einwohnergemeinden und durch einen Beitrag aus dem Alkoholzehntel aus der Spirituosenbesteuerung. Die Suchthilfe Ost bietet in Olten neben der Stadtküche und Kontakt- und Anlaufstelle unter anderem ein Arbeitsprogramm in der hauseigenen Werkstatt und begleitetes Wohnen an.

Suchthilfe Ost, Drogen