Skip to main content

Freie Sicht nach oben? Absurdes in New York City

Nur wenige Wochen nach dem Einzug in meine schöne und damals helle Altbauwohnung in Manhattan wachte ich eines Morgens zu Lärm und unangenehm neugierigen Blicken von Bauarbeitern auf, die innerhalb eines Tages ein Gerüst an meinem Gebäude anbrachten. Das ist nun zwei Jahre her und das Gerüst ist trotz unzähliger Versprechen des Hauswarts und der Vermieter, dass es «nächsten Monat» wegkomme, immer noch da! Persönlich direkt betroffen, achte ich mich nun vermehrt, und tatsächlich ist fast jeder Block in der Stadt mit einem Gerüst eingekleidet. Eine Freundin, die vor kurzem zu Besuch war, meinte sogar, dass sie die Upper East Side nach einem kurzen Spaziergang schnell wieder verlassen musste, da die unzähligen Gerüste und deren Überdachungen sie deprimiert hätten.

Letztes Jahr zählte man über 8300 Gerüste in Manhattan und Brooklyn. Würde man die alle aneinanderreihen, ergäbe das eine Gesamtlänge von 442 Kilometern. Das entspricht der Distanz von Olten nach Genf und retour!

Was ist hier also los? Um von meiner Entrüstung etwas runterzukommen, habe ich ein wenig recherchiert: 1979 wurde eine junge Studentin auf dem Heimweg von einem Ziegel eines bröckelnden Gebäudes erschlagen. Darauf wurde Local Law 11 verabschiedet, und seither sind Eigentümer von Gebäuden mit einer Höhe von mehr als sechs Stockwerken verpflichtet, ihre Fassaden alle fünf Jahre auf lose Ziegel und brüchiges Mauerwerk überprüfen zu lassen. Das scheint in vielen Fällen vorhanden zu sein, und an diesem Punkt wird dann ein Gerüst errichtet. Das Auf- und Abbauen ist ziemlich teuer und viele Eigentümerinnen entscheiden sich, das Gerüst präventiv bis zur nächsten Inspektion stehen zu lassen. So werden diese monströsen Dinger permanenter Teil des Stadtbilds. Für verschiedene Akteure ist das Geschäft mit den Gerüsten lukrativ und anscheinend bleiben einige Gerüste bis vierzehn Jahre lang stehen! Innovative Unternehmerinnen beschäftigen sich ebenfalls mit diesen Gerüsten und seit kurzem bietet das Start-up Urban Umbrella Läden wie Louis Vuitton und Ralph Lauren stylische weisse Gerüste im gotischen Stil an.

Sucht man auf Google «what New Yorkers hate», folgt Scaffolding – der englische Begriff für Gerüstebauerei – gleich nach New Jersey (an erster Stelle), Touristen, Times Square und Florida.

Auf meiner persönlichen Hassliste sind diese Gerüste ganz oben und mit meiner Entrüstung fühle ich mich natürlich fast wie eine echte New Yorkerin. Aber die Bewohner der Stadt sind bekannterweise sehr kreativ und innovativ und schaffen es, sogar aus diesem Gerüstewald etwas Positives zu ziehen. Restaurantbesitzerinnen nutzen die Überdachungen und Stangen für saisonale Dekorationen, Jogger machen ihre Klimmzüge an den Rohren, Künstlerinnen nutzen die neuen Flächen als Leinwand und Basis für Skulpturen und den unzähligen Obdachlosen der Stadt bieten die Überdachungen Schutz vor dem manchmal miesen New Yorker Wetter, vor allem im Winter.

Nach genauerem Betrachten scheint es fast, als ob diese Gerüste genauso zu New York gehören wie die Freiheitsstatue und die gelben Taxis. Und so warte ich also naiv darauf, dass nun im April die Stangen und Holzplatten oben vor meinem Fenster entfernt werden, bin aber gleichzeitig etwas besorgt um die Spatzenfamilie, die sich seit zwei Wochen in der Konstruktion eingenistet hat.

*Anna-Lena Schluchter (31) ist in Olten aufgewachsen und lebt seit zwei Jahren in New York, wo sie als Peacebuilding Officer für die UNO arbeitet.

USA, New York

Schreiben Sie einen Kommentar