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Jonathan Franzen, rare Roboterhelme und die Petersilie

Aha-Erlebnisse, Inspirationen und Kulturtipps: 5 Sätze, die mir diesen Monat zu denken gaben.
25. März 2021
Text: Pierre Hagmann*
Filmstill aus «Epilogue» von Daft Punk

1. «Man darf bezweifeln, dass jemand, der an seinem Arbeitsplatz Internetverbindung hat, gute Romane schreibt.»

Jonathan Franzen im Magazin der Süddeutschen Zeitung

Zufällig bin ich auf diese amüsante und aufschlussreiche Liste gestossen, die Ratschläge von sieben bekannten Autorinnen und Autoren über das Schreiben sammelt. Der Offline-Tipp des US-Amerikaners Franzen hat besondere Strahlkraft, weil a) man sich einen Arbeitsplatz ohne Internet nicht mehr vorstellen kann und b) Franzen gewiss ein bisschen recht hat, auch weil seine Aussage nicht nur fürs Schreiben gilt, sondern für jede kreative Tätigkeit. Letztlich ist auch das vermeintlich produktive Surfen wie die Ideensuche bei Twitter oder die Recherche bei Wikipedia oft nur Fake Work, um den Mühen der Kreation aus dem Weg zu gehen.

Bleibt die Frage: Wie hätte ich ohne Internet davon erfahren, dass ich mit Internet nicht konzentriert arbeiten kann?


2. «Veridis Quo»

Songtitel auf dem Album «Discovery» von Daft Punk (2001)

Daft Punk haben sich getrennt und das ist nicht gut; seit ungefähr zwanzig Jahren wollte ich sie live sehen, aber das französische Elektro-Duo mit den Roboterhelmen hat sich gerne rar gemacht. So simpel und doch so vielschichtig, das waren Daft Punk, das ist auch dieser Songtitel, der in meiner Playlist «Lieblingslieder des Monats» auftaucht. «Veridis Quo» kann laut Fangemeinde bedeutungsgleich mit dem lateinischem «Quo vadis» (wohin des Weges?) verstanden werden. Auf einer zweiten Ebene klingt die Musik schon mit: Very Disco! Und wer diese beiden Worte tauscht, macht eine weitere Entdeckung: «Discovery» – der Namen des Albums.

Playlist: Meine Lieblingslieder des Monats


3. «Um den Zugang zu Ressourcen freizumachen, könnte aber zuallererst das Wort Orientierung selbst ernst genommen werden, denn es ist eine Ableitung von Orient, Orientis im Lateinischen, womit die Richtung bezeichnet wird, in der die Sonne aufgeht (von orior, aufgehen, sich erheben, aufsteigen).»

Philosoph Wilhelm Schmid im Buch «Das Leben verstehen» (2016)

Ein Aha-Erlebnis! Ich liebe Aha-Erlebnisse, denn es ist ein befreiendes Gefühl, wenn Klarheit in ein Dunkel kommt, dessen Existenz einem gar nicht bewusst war. Man hatte es bloss erahnt und nimmt die Spannung erst wahr, wenn sie aufgelöst wird. Begleitet vom erlösenden Ahaaaa. Jedenfalls: «Orientierung» stammt von Orient! Wusstet ihr das? Ich nicht. Obwohl es so naheliegend ist. Obwohl ich das Wort Orientierung schon sehr lange kenne und das Wort Orient ebenso, und dass der Orient das Land der aufgehenden Sonne ist, das war mir auch bewusst, aber an diesen Zusammenhang hatte ich nie gedacht.

Da stellen sich auch ein paar Folgefragen: Gibt es (deshalb) im Westen mehr Orientierungslosigkeit als im Osten? Rennt man beim Orientierungslauf immer der Sonne nach? Ist es ein Symptom von Orientierungslosigkeit, wenn einem die naheliegendsten Dinge nicht auffallen?

Das Buch ist im Übrigen auch recht lesenswert, Schmid erzählt darin von seinen Erfahrungen und Begegnungen als philosophischer Seelsorger im Spital Affoltern am Albis.


4.  «Älterwerden ist ein Privileg: Niemand sollte lamentieren, dass er wieder ein Jahr mehr auf dem Buckel, ein graues Haar oder eine neue Falte hat – sondern sich erfreuen, dass er es bis hierhin geschafft hat.»

Elliott Dallen in der Zeitung «The Guardian» (2020)

Perspektivenwechsel ermöglichen neue Haltungen, neue Haltungen ermöglichen neue (und positivere) Emotionen. Wie oft strampeln wir verzweifelt gegen das Älterwerden, gegen den nahenden Tod (denn nahend, das ist er immer)? Da tut es vielleicht gut, zu lesen, was ein 31-Jähriger zu sagen hat, dem nur noch wenige Wochen bleiben. Der Brite Elliott Dallen erkrankte an unheilbarem Krebs und schrieb während des Lockdowns für die renommierte Zeitung «The Guardian» über seinen erstaunlich positiven Umgang mit der Situation. Und gibt den Glücklicheren da draussen ein paar Gedanken mit auf den Weg. Du wirst bald 40 oder 70 oder 80? Denk an den 31-Jährigen. Alles eine Frage der Perspektive. Der Tag, an dem die Worte oben publiziert wurden, war sein letzter.


5. «Grossmutter riecht nach Korea»

Der 7-jährige David (gespielt von Alan S. Kim) im Film «Minari» (USA 2020)

Als letztmals die Oscars vergeben wurden, im Februar 2020, kommentierte der patriotische Präsident Trump: «Der Gewinner ist ein Film aus Südkorea, was zur Hölle soll das?» Parasite (unbedingt sehenswert!) war zum besten Film des Jahres gekürt worden; ein aussergewöhnliches Ereignis, weil in der Hauptkategorie normalerweise amerikanische Produktionen siegen. Ein Jahr später schielt nun «Minari» auf den Oscar, der voraussichtlich Ende April vergeben wird. Trump ist weg, aber könnte dieses Mal mit einem Triumph vielleicht besser leben. Regisseur Lee Isaac Chung ist nämlich Amerikaner; er wuchs als Sohn koreanischer Immigranten auf einer Farm in Arkansas auf. Genau darum geht es auch in seinem exzellenten Film: Wie eine koreanische Familie auf einem abgelegenen Stück Land in den Ozarks (hat nichts mit diesem Film zu tun, aber auch toll: die gleichnamige Netflix-Serie) im Süden der USA versucht, eine neue Existenz aufzubauen. Irgendwann in diesem Abnützungskampf stösst die südkoreanische Grossmutter dazu und pfeffert die Geschichte gehörig nach. Zuviel für den kleinen, schon recht amerikanischen David, der in der Grossmutter Heimat sucht und zunächst nur Befremden findet. Wurzeln schlagen geht langsam, sagt uns der Film, aber zumindest die Petersilie (koreanisch: Minari) gedeiht prächtig.

Filmstart Deutschschweiz: voraussichtlich 22. April 2021. Produziert von Brad Pitt, nominiert für 6 Oscars.


PS: Abschliessend noch ein Bild zum Monat und der Satz dazu.

«Es ist kalt und es ist nass und es ist alles zu und es ist Pandemie und wir wollen trotzdem zusammen ein Bier trinken.»

Pierre Hagmann

Bild von Pierre Hagmann

* Pierre Hagmann war erster Chefredaktor von KOLT, stammt aus Olten und blickt heute von Bern auf die schöne, komische Welt.


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