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Trödeln in Trondheim?

Marius Kaiser erlebt eine etwas andere Prüfungsphase.
1. Juni 2022
Text und Fotografie: Marius Kaiser*

Und schon neigt sich mein Austauschjahr in Trondheim dem Ende zu. Momentan gilt es, sich fleissig auf die abschliessenden Semesterprüfungen vorzubereiten. Wobei «fleissig» vielleicht nicht ganz das passendste Wort ist. Denn so eine Lernphase hier in Norwegen läuft so ganz anders ab, als ich es mir von der Schweiz her gewohnt bin. Während in der Schweiz das studentische Sozialleben vor den Prüfungen auf ein Minimum heruntergefahren wird, scheint es in Norwegen richtiggehend aufzublühen. Hier ein kleiner Auszug aus den Geschehnissen der vergangenen Wochen.

Freitag, der 6. Mai, war der letzte Schultag des Semesters. Zur abschliessenden Fragestunde erschienen aber nur drei von rund 65 eingeschriebenen Studenten. So zumindest entnahm ich es dem Mail eines etwas enttäuschten Professors. Ich gehörte nämlich auch nicht zu jenen drei anwesenden Musterschülern. Zu jenem Zeitpunkt weilte ich bereits seit drei Tagen im schwedischen Örebro. Es galt, sich mit dem Trondheimer Studenten-OL-Klub NTNUI auf die 10Mila vorzubereiten, einen der grössten OL-Staffelwettkämpfe überhaupt. Man rennt sie in Mannschaften von zehn Läufern die ganze Nacht hindurch. Massenstart ist um 21:30 Uhr und das Siegerteam läuft ungefähr um 7 Uhr ein. Für den OL-Klub NTNUI ist es jeweils das Highlight des Jahres. Dementsprechend gab es etliche Studierende, die mündliche Prüfungen und Abgaben auf unbestimmt verschoben oder sie völlig verkatert montagmorgens wahrnahmen. Denn nach einer schlaflosen Wettkampfnacht durfte man sich die rund elfstündige Heimfahrt im traditionellen Bankettbus nicht entgehen lassen. 

So bestand die erste Prüfungswoche hauptsächlich darin, sich von den Strapazen des Wochenendes zu erholen. Alle konnten sich so erfolgreich ausruhen, dass man am Freitag in aller Frische mit denselben OL-Läufern noch ein zweites Mal auf die 10Mila anstossen konnte. Diesmal auf festem Boden. Spätestens am Folgetag meldete sich zum ersten Mal das schlechte Gewissen. Wie viele Seiten hätte ich zur selben Zeit in der Schweiz schon gelesen und zusammengefasst? Wie viele Aufgaben hätte ich schon gelöst? Auf jeden Fall deutlich mehr als mein norwegisches Ich.

Wahrscheinlich war es nur ein blöder Zufall, dass es sich beim darauffolgenden Dienstag um den 17. Mai handelte. Der norwegische Nationalfeiertag wird derart gross gefeiert, dass es gleichbedeutend mit drei lernfreien Tagen ist. Den ganzen Montag galt es, sich für das grosse Fest am Abend vorzubereiten, wo es dann auch richtig zur Sache ging. Polizeieinsatz mit Hunden inklusive. Am 17. Mai selbst wurde zunächst gediegen gebruncht, bevor man sich in die Innenstadt begab, um dem grossen Umzug beizuwohnen. Die ganze Stadt schien auf den Beinen zu sein und alle hatten ihre schönste Sonntagskleidung aus dem Schrank geholt. Noch nie zuvor hatte ich mehr Männer in Anzügen gesehen. Und die Frauen in ihren traditionellen Trachten liessen jede mir bis dahin bekannte Trachtenschau wie einen Kindergeburtstag aussehen. Kaiserwetter sei Dank endete auch dieser Tag erst spät in der Nacht. 

Wie aber kann es sein, dass kaum jemand vor den sich nähernden Prüfungen in Panik verfiel, sondern einfach munter weiter vor sich her prokrastiniert wurde? Womöglich könnte es ein etwas anderes Verhältnis gegenüber Arbeiten sein. In meiner Wahrnehmung definiert man sich in der Schweiz sehr stark über seine Arbeit. Man ist, was man schafft. Der Job steht an erster Stelle und alles andere kommt erst danach. In Norwegen hingegen scheint es mir, dass Arbeiten eher als Mittel zum Zweck angesehen wird, um sich das Leben nach dem Feierabend zu finanzieren. Kaum je drehen sich Gespräche um den nervigen Chef oder die grosse Projektarbeit. Viel lieber thematisiert man Erlebnisse und Vorhaben in der Freizeit. Ich kann diese gewagte Theorie mit keinerlei Studien oder dergleichen belegen. Allerdings haben auch andere Austauschstudenten, mit denen ich darüber diskutiert habe, ähnliche Beobachtungen gemacht. 

Ob meine Theorie wissenschaftlich erklärbar ist oder nicht, auf jeden Fall fielen in den weiteren Verlauf der Prüfungsphase noch die inoffiziellen norwegischen Bier-OL-Meisterschaften sowie das Auffahrtswochenende mit vier OL-Wettkämpfen und das Pfingstwochenende mit deren drei. Klar, niemand hat mich gezwungen, das ganze Mammutprogramm mitzumachen. Aber das Angebot war einfach zu verlockend und die Versuchung schlichtweg zu gross. 

Nun endet nach Pfingsten die «stressige» Prüfungszeit. Danach darf man die Semesterferien geniessen, auch ganz ohne schlechtes Gewissen. Bleibt einzig abzuwarten, ob ich alle Prüfungen bestanden habe.

*Marius Kaiser (22) kommt aus Starrkirch-Wil und lebt seit vergangenem Sommer für ein Jahr in Norwegen, wo er Bauingenieurswesen studiert.


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