Skip to main content

Der geborene Arzt

In seiner Kindheit verbrachte Deniz Kadioglu monatelang im Spital, weil er mit einer lebensbedrohlichen Erbkrankheit zur Welt gekommen war. Mit 19 Jahren hat er selbst einen weissen Kittel und ein Stethoskop daheim. Und spricht schon wie ein Doktor.
30. Mai 2022
Text: Yann Schlegel, Fotografie: Timo Orubolo

«Wer so viel Zeit dort verbracht hat wie ich, liebt oder hasst das Spital.»

Deniz Kadioglu liebt es.

Als er ein Kind war, dachte er, alle Kinder müssten einmal pro Monat zu den Ärzten im Spital. «Noch bevor ich auf der Welt war, wussten meine Eltern, dass ich mit dieser Krankheit zur Welt kommen würde.»

Olten statt Istanbul

Deniz ist das jüngste Kind in der Oltner Familie Kadioglu. Seine Eltern waren vor mehr als 40 Jahren frisch verliebt in die Schweiz immigriert, weil eine Schreinerei in Olten dem Grossvater eine Stelle anbot. An einer Messe in der türkischen Metropole am Bosporus hatte er einem Oltner Schreinermeister mit seinem Handwerk imponiert. Die Kinder zogen nach. Doch das Wirtschaftsstudium von Deniz’ Vater war in der Schweiz nichts wert. Für die Familie liess er zurück, was er in der Heimat aufgebaut hatte, jobbte sich in der Schweiz durch. Gehilfe Restaurant, Maschinenführer. Ende der 80er-Jahre kam der erste Sohn zur Welt.

Ein Kind, das – von Schmerzen geplagt – oft weinte.

Die Ärzte waren ratlos. Die Eltern verzweifelt.

Bis ein Arzt eines Tages das Blutbild des Jungen genauer anschaute. Und dabei entdeckte, dass die roten Blutkörperchen nicht wie gewöhnlich rund, sondern sichelförmig geformt waren.

«Zu jener Zeit war diese Krankheit noch etwas sehr Neues», sagt Deniz Kadioglu. Für sein junges Alter spricht er wie ein Gelehrter. Hin und wieder faltet er die Hände ineinander. «Sie hat sich vor allem in Afrika und im Mittelmeerraum entwickelt, weil sie einen gewissen Schutz vor Malaria bietet.»

Die Ärzte verordneten aufgrund des Blutbilds von Deniz’ ältestem Bruder Gentests in der Familie. Und fanden, was sie vermutet hatten. Die Eltern trugen beide das Merkmal der Sichelzellenkrankheit auf dem Gen, ohne von der Krankheit betroffen zu sein. Ihrem ersten Sohn hatten sie beide das defekte Gen und somit die Krankheit vererbt. «Das ist eine sogenannt rezessive Krankheit», erklärt Deniz. Nur wer zwei defekte Gene hat, muss mit Symptomen leben.

Du darfst nicht

Der mittlere Bruder hatte Glück und bekam die Krankheit nicht vererbt. Bei Deniz aber konnten die Ärzte gut zehn Jahre nach dem ersten Sohn schon vor der Geburt nachweisen, dass er mit einer der weltweit häufigsten Erbkrankheiten würde leben müssen. 

Deniz durfte nicht im kalten Wasser baden. Er durfte nicht mit den anderen Kindern Fussball spielen. Und für Deniz konnten stressige Momente lebensgefährlich sein. Denn bei all diesen Dingen verformten sich die roten Blutkörperchen in seinem Körper. Zur Sichel gebogen, durchströmten sie die Blutgefässe nicht gleich gut wie üblich. Das löste starke Schmerzen aus. Für Deniz gehörten sie trotz ständiger Vorsicht zum Alltag. War er mal am Abend lange draussen, büsste er danach wochenlang dafür. «Es fühlte sich an, als würdest du von innen mit Nadeln misshandelt.»

Nur waren die Schmerzen bloss die Spitze des Eisbergs. Das Risiko eines Hirnschlags, Herzinfarkts oder einer Lungenembolie bestand immer. «Durch die Recherche für meine Maturaarbeit konnte ich herausfinden, dass das Hirnschlagrisiko im Falle dieser Krankheit bei Kindern bis zu 300 Mal höher ist als gewöhnlich», sagt Deniz im kühlen Durchzug der Tiefgarage an der Kantonsschule. Sein Schicksal leitete ihn. Wie die Ärzte am Unispital in Basel, die so unglaublich viel wussten, wollte er einmal werden. Schon als Kind hatte er ein überdurchschnittliches medizinisches Wissen.

Blutspezialist, natürlich

Die Maturaarbeit bot ihm die Chance, sich noch vertiefter mit seiner eigenen Krankheitsgeschichte auseinanderzusetzen. Alexander Rauch, Lehrer und Begabtenförderer an der Kanti Olten, machte ihn mit seiner in der Pharmazie-Forschung tätigen Frau Marlene bekannt. Sie half Deniz, Zugang zu wissenschaftlichen Daten Grossbritanniens zu erhalten. 

Seit 2006 werden im Vereinigten Königreich alle Babys auf die Sichelzellenkrankheit gescreent. «Meine Hypothese war, dass dadurch das Vorkommen von Hirnschlägen zurückgeht», erklärt Deniz. Für die Datenanalyse schrieb er eigenhändig ein Computerprogramm. Dafür opferte er eine Ferienwoche, die er im Labor in Basel zubrachte. Deniz war bereit, die Extrameile zu gehen. 

Das Programm spuckte ein Ergebnis aus, das seine Vermutung bestätigte. «Damit konnte ich nachweisen, dass das Screening eine preiswerte Option sein kann, um der Krankheit vorzubeugen und die Behandlung weiterzuentwickeln. Zum Beispiel auch in ärmeren afrikanischen Ländern.» 

Auf dem Vorplatz der Kanti arbeiten die schweren Maschinen am letzten Baustein des siebenjährigen Schulhaus-Umbaus. Vor bald einem Jahr legte Deniz im Betonbau seine letzten Prüfungen ab. Als frischgebackener Alumnus läuft er übers Areal. Eine gewisse Genugtuung steht ihm ins Gesicht geschrieben. Mit der Maturaarbeit kam er bis ins Finale des Concours «Schweizer Jugend forscht» und wurde ausgezeichnet. 

Der 19-Jährige hat bald die ersten beiden Semester als Medizinstudent hinter sich. Wenige Jugendliche schreiten so zielsicher wie er voran. Eigentlich erübrigt sich die Frage fast, ob er Blutspezialist werden wolle. «Ja, ich möchte Hämatologie machen.» Er lächelt.

Der mittlere Bruder als Glücksbringer

Bis er 14 Jahre alt war, hatte Deniz mit vorsichtigem Lebensstil die Krankheit erduldet. Im Frühling 2017 aber, nach einem gewöhnlichen Gesundheitscheck in Basel, unterbreitete ein Arzt ihm, auf dem Computerbild seines Hirns habe er kleine Anfangsschäden – Blutgerinnsel – erkennen können. 

«Da wusste ich: Jetzt muss ich mich behandeln lassen.» 

Die Risiken des Eingriffs hatten Deniz zuvor abgeschreckt, obwohl er wusste, je früher er sich behandeln liesse, desto besser würde sein Körper auf die Stammzellentherapie reagieren. Sein Glück war, dass sein gesunder Bruder über zu 100 Prozent deckungsgleiche Stammzellen verfügte, womit sich die Suche nach einem Spender erübrigte. Mit einem kleinen operativen Eingriff entnahmen die Ärzte dem Bruder ein wenig Knochenmark aus dem Hüftknochen und extrahierten daraus die Stammzellen. 

Zwei Monate verbrachte Deniz danach in strengster Isolation im Spital. Während er die Stammzellen des Bruders injiziert bekam, stoppten die Ärzte zugleich die Produktion seiner eigenen Stammzellen, indem sie das Knochenmark mit einer Chemotherapie abtöteten. Die Haare fielen ihm aus. Auch seinen 15. Geburtstag verbrachte er im Spital. Seine Eltern durften nur im Ganzkörperschutzanzug zu ihm. Jede andere Krankheit hätte wegen dem geschwächten Immunsystem gefährlich werden können. 

Dann begann Deniz’ Körper die Stammzellen des Bruders zu reproduzieren. Seine Blutkörperchen hörten auf, sich sichelförmig zu verformen. Behutsam kehrte er nach dem langen Spitalaufenthalt in den Schulalltag zurück. Dank seinen ausgezeichneten Schulnoten musste Deniz nie eine Klasse wiederholen.

Ein gutes Jahrzehnt zuvor war die Schulleitung bei Deniz’ ältestem Bruder noch unnachgiebig geblieben. Ein Arztzeugnis vom Unispital Basel genügte damals nicht zur Dispensation. Man könne sich ja auch nicht von Mathe dispensieren lassen, habe die Schule damals argumentiert, erzählt Deniz. Nach dem Turnen kamen bei seinem ältesten Bruder die Schmerzkrisen und die krankheitsbedingten Abwesenheiten wirkten sich auf die Noten aus. Er wurde von der Schule verwiesen. Der Bruder gab nicht auf: An einer anderen Schule legte er die Matura ab und erlangte später den gewünschten Uni-Abschluss.

Datenbank, die Leben rettet

Nicht alle Menschen haben so viel Glück, wie Deniz es hatte. Viele suchen vergebens nach einer Spenderin und müssen mit der Krankheit leben. Ohne das Blut seines mittleren Bruders hätte er sein Leben als 15-jähriger Teenager nicht neu lancieren können, sondern wäre in ständiger Angst geblieben.

Die Medizin hat in den letzten Jahren rapide Fortschritte erzielt. Die Erbkrankheit lässt sich verschiedentlich behandeln und neue Medikamente kommen auf den Markt. Die Stammzellen-Therapie bleibt aber für viele die grosse Hoffnung, die Krankheit ganz hinter sich zu lassen. Deniz setzt sich deshalb heute in der «League of Hope», einer vom Schweizerischen Roten Kreuz getragenen Organisation, dafür ein, dass Menschen sich in der Spenderdatenbank registrieren. 

Gelockt durchs Leben

«Als die Haare nachwuchsen, fühlte ich mich wieder wohl», sagt Deniz auf dem kargen Pausenplatz mit schneebleichen Steinplatten, zwischen deren Spalten der Löwenzahn hervorlugt. Vor der Chemotherapie wuchs ihm das Haar glatt, heute trägt er quirlige Locken. «Ich sehe mein Haar als Symbol für mein neues Ich», sagt Deniz. Die feingelockten Haare ragen über dem Kopfscheitel voluminös in den Himmel. Ganz zum Ausdruck der neuen Lebenskraft.

Wenn er heute seinen Arzt sieht, sagt dieser: «Bitte geh joggen.»

«Inzwischen mach ich sogar gern Sport», sagt Deniz. 

Doch oft fällt es ihm schwer, die Vorsicht aus dem alten Leben zu überwinden. Wobei er nicht alles auf den Kopf stellen will. Auch wenn er plötzlich alles tun darf. «Ich war noch nie ein Badimensch und werde es auch nie sein.» Er lacht. Lieber lernt er in der Freizeit Japanisch, spielt Piano oder kocht.


Schreiben Sie einen Kommentar