New York City – Ein Jahr später
Die europäische Überheblichkeit war vor einem Jahr auf einem Allzeithoch, als Trump trotz aller Krisen im Wahlkampf zumindest am Anfang doch verhältnismässig tapfer mitzog und das Land gleichzeitig im Covid-Chaos versank. Der Frühling 2020 war hart für New York City. Totaler Lockdown, beklemmende Stimmung, mehrere hundert Tote täglich, ein Spitalkriegsschiff angedockt in Manhattan, ein temporäres Zeltspital im Central Park und Kühltransporter für die Toten in der ganzen Stadt stationiert.
Ein Jahr danach sieht die Lage anders aus. Die Pandemie ist natürlich noch nicht vorbei und die sozioökonomischen Folgen werden noch lange zu spüren sein. Aber die Stadt strahlt einen neuen Optimismus aus. Das hat nicht zuletzt mit der rasanten Impfgeschwindigkeit zu tun. Ende März erhielt ich meine erste Dosis. Das ganze Erlebnis hob meine Stimmung für Tage: Die Registrierung für den ersten Impftermin kostete zwar einige Nerven und Zeit, aber als ich dann in der Subway unterwegs zu einer Highschool in der South Bronx war, wurde ich zunehmend neugierig und nervös. Kaum angekommen wurde ich von einem der unzähligen freundlichen Helfer in Empfang genommen, registriert und von sogenannten Flow Monitors an weiteren Checks und Desinfektionsstationen durchgewinkt. Dolmetscherinnen für zahlreiche Sprachen, inklusive Gebärdensprache, wie auch ein sogenannter Emotional-Support-Spezialist wuselten durch die Schlange und vergewisserten sich, dass alle Impfwilligen gut umsorgt waren. Nun sass ich an einer der vierzig Stationen in der umfunktionierten Cafeteria und Krankenschwester Noora stellte anhand eines letzten Checks sicher, dass ich impfbereit war. Nur wenige Sekunden und einen kurzen Pieks später war die Sache durch und ich wurde in die überdimensionale Turnhalle der Highschool weitergeleitet. Dort musste ich nun fünfzehn Minuten zur Beobachtung bleiben. Etwas in Gedanken verloren sah ich in die Gesichter der anderen Geimpften – unterschiedlichster Herkunft, alt und jung –, die ihre Zeit vor den Flaggen des Highschool-Basketballteams abwarteten, und ich fühlte das historische Gewicht dieses Moments.
Nicht, dass ich diesen hätte übersehen können, denn mehrere Helferinnen trugen gelbe Westen mit dem Schriftzug «Making History» und aus einer Musikanlage dröhnten dem Anlass entsprechend Hits von Tina Turner und Queen. Ja, ja, das mutet natürlich pathetisch an. Aber als ich meinen Aufkleber mit dem Aufdruck «I got the shot NYC» bei einer weiteren Helferin abholte, spürte ich ihn – diesen Optimismus – und das Gefühl, Teil von etwas Positivem zu sein, das man zusammen durchgestanden hat.
Wir Europäerinnen belächeln diesen uns oftmals übertrieben und naiv erscheinenden amerikanischen Enthusiasmus und uns wird etwas unwohl bei zu viel kollektiv zelebriertem Stolz. Auf dem Weg nach draussen gratulierten mir die restlichen Helfer mit strahlendem Lächeln zu meiner ersten Dosis – und ich war ehrlich gerührt.
Wir sind noch weit von einem normalen Alltag entfernt und nichts ist perfekt. Aber einen so wichtigen Schritt zu zelebrieren, tut gut. Warum auch nicht? Denn ab jetzt wird es nur noch besser, wir haben es fast geschafft! Und ich schneide mir eine kleine Scheibe des amerikanischen Optimismus ab.
*Anna-Lena Schluchter (31) ist in Olten aufgewachsen und lebt seit zwei Jahren in New York, wo sie als Peacebuilding Officer für die UNO arbeitet.