«Wir können helfen, dass das Erfahrene zu einem weniger schmerzhaften Teil des Lebens wird»
Wer ein einschneidendes Erlebnis hinter sich hat und durch jemanden geschädigt wurde, kriegt in der Schweiz Hilfe. Dies ist seit 1997 so, als das Opferhilfegesetz geschaffen wurde. Mit dieser Grundlage verpflichtete der Bund alle Kantone, eine Opferhilfestelle anzubieten. Kleinere Kantone taten dies in Kooperation mit anderen. Auch der Kanton Solothurn war über zwanzig Jahre lang an die Aargauer Opferhilfestelle angebunden. Wer also beispielsweise durch ein Tötungsdelikt im nahen Umfeld traumatisiert war, bekam Unterstützung in Aarau.
Nun geht Solothurn einen eigenen Weg. Im Juli eröffnete der Kanton in der Oltner Industrie im Gerolag Center eine eigene Hilfestelle. Leiterin der neuen Beratungsstelle ist Agota Lavoyer. «Uns war sehr wichtig, dass die Anonymität gegeben ist, aber eben auch die Vertraulichkeit», sagt sie in einem der hellen Sitzungszimmer mit den hohen Fenstern. «Hier haben wir einen guten Mix und dank Fitnesszentrum und anderen Nutzungen auch eine gewisse Frequenz.» Denn verstecken will sich die Opferhilfestelle nicht. Im Gegenteil. Agota Lavoyer hat hohe Erwartungen an sich selbst und ihr Team. «Mein Ziel wäre erreicht, wenn die Menschen im Kanton Solothurn – egal ob jemand einen Unfall mit Drittverschulden oder Gewalt erfährt – als erstes an die Opferberatungsstelle denken würden.»
Solothurn wählt eigenen Weg
Lavoyers Ansprüche erklären auch, weshalb der Kanton nach der über zwei Jahrzehnte währenden Kooperation mit dem Kanton Aargau einen eigenen Weg wählte. Ziel ist es, das Angebot niederschwelliger zu machen – auch wenn dies aufgrund der geographischen Struktur des Kantons nicht ganz einfach ist. «Wir wollen uns im Kanton besser vernetzen», sagt Agota Lavoyer. Künftig werde sich zeigen, ob zusätzliche Ableger im Kanton notwendig seien. Die neue Beratungsstelle wird ohnehin schrittweise aufgebaut. Unter der Leitung der Bernerin begann im Juli ein dreiköpfiges Team in Olten. In einem Jahr sollten auf der Opferhilfe rund acht Angestellte beschäftigt sein, hofft Lavoyer.
Menschen, die Leid erfahren haben, sind bei der Opferhilfe aufgehoben. Sie unterstützt Opfer, die sexuelle oder häusliche Gewalt erlitten haben, genötigt wurden, Angehörige durch Tötung verloren haben, Menschen, die von Stalking oder Zwangsheirat betroffen sind. Aber auch Menschen, die schwere Unfälle zum Beispiel im Verkehr oder am Arbeitsplatz erlitten haben. Wie die Statistik der Opferhilfe Aargau, unter welche auch der Kanton Solothurn fiel, zeigt: Gut die Hälfte der betreuten Menschen meldete sich wegen häuslicher Gewalt bei der Anlaufstelle. Doch Lavoyer sagt, es gäbe aufgrund dessen keine Gewichtung bei der neuen Solothurner Fachstelle. Alle Betroffenen sollen gut aufgehoben sein.
Die Bandbreite ist enorm. Und in dieser Form auch für Agota Lavoyer neu. Fünf Jahre lang war sie Beraterin und später stellvertretende Leiterin der Fachstelle Lantana in Bern, die ausschliesslich Opfer von Sexualdelikten betreute. Mit ihrer Arbeit und ihrer Präsenz in den Medien machte sie sich in der Deutschschweiz einen Namen als Expertin in diesem Bereich. Dennoch wechselte sie nach Olten, als der Kanton Solothurn rief. «Sexualdelikte werden noch immer einen wesentlichen Teil ausmachen, aber ich freue mich sehr, einen Gesamtblick zu kriegen», sagt Lavoyer.
«Opferhilfe» ist ein schwer fassbarer Begriff. Wie läuft eine Betreuung durch Ihre Fachstelle typischerweise ab?
Beispielsweise bei häuslicher Gewalt kommt es oft vor, dass eine Nachbarin oder eine Freundin für die betroffene Person anruft. Wir müssen generell abklären, ob im konkreten Fall dem Betroffenen Opferhilfe zusteht. Wir führen gerne persönliche Beratungsgespräche. Sobald Schamgefühle da sind, ist es einfacher, sich persönlich zu sehen. Aber wir bieten auch telefonische Beratung an. Es kann sogar per Mail sein. Viele wollen erzählen, was ihnen widerfahren ist. Aber niemand muss dies tun. Wenn uns jemand von einer Vergewaltigung erzählt, brauchen wir keine Details. Wir sind nicht die Polizei. Für uns steht die Frage im Zentrum: «Was braucht die betroffene Person?». Manche haben eine konkrete Vorstellung und wünschen eine Anzeigeberatung, ein Gespräch bei einer Anwältin oder eine Therapie. Wir raten weder dazu noch davon ab, Anzeige zu erstatten. Wir können höchstens aufzeigen, was auf sie zukommt, wenn sie zur Polizei gehen.
Weshalb bewahren Sie hier eine neutrale Position?
Wir haben ganz klar die Haltung, dass die Anzeige eine persönliche Entscheidung ist, die nicht zu unterschätzen ist. Bei einem Verkehrsunfall oder einem Raubüberfall ist es vielfach einfacher, weil man die Person, die den Unfall verursachte oder den Raub beging, nicht kennt. Im Bereich der sexuellen oder häuslichen Gewalt und auch beim Stalking geht die Gewalt oft von dem Opfer bekannten Personen aus. Da muss der Betroffene wissen, was er sich mit der Anzeige antut. Dabei muss sich die Person Fragen wie diese überlegen: Ertrage ich psychisch eine siebenstündige Einvernahme oder ein Strafverfahren, das drei Jahre dauern kann? Was macht es mit mir, wenn das Verfahren eingestellt wird? Was, wenn der Täter freigesprochen wird?
Die Hemmschwelle zur Anzeige ist also gross. Finden Sie es ein Problem, dass die Hürde so hoch ist?
Rein von meinem Gerechtigkeitsempfinden her würde ich mir mehr Anzeigen wünschen. Wenn ich die Kriminalstatistik anschaue, dann steht die Zahl der Verfahren in einem krassen Missverhältnis zur Realität. Das ist auch bei den Zahlen zur sexuellen Gewalt zu sehen. Die Dunkelziffer ist riesig. Ich finde es verheerend, dass so viele Taten ungestraft bleiben. Aber ein Strafverfahren ist nicht ohne. Ich habe schon von Anwältinnen gehört, sie wären nicht sicher, ob sie ihrer Tochter empfehlen würden, eine Anzeige zu machen.
Mit der Opferhilfe füllen Sie ein Stück weit diese Lücke.
Genau. Wir betreuen die Menschen unabhängig davon, ob sie Anzeige erstatten oder nicht. Viele wissen nicht, dass wir eine erhöhte Schweigepflicht haben. Wenn sie uns erzählen, vergewaltigt oder fast umgebracht worden zu sein, sie aber nicht rechtliche Schritte machen, dann melden auch wir nichts. Im Gegensatz zu anderen Stellen sind wir nicht dazu verpflichtet.
Ist es für Sie schwierig, die neutrale Haltung zu behalten? Sie beziehen, etwa wenn es um sexuelle Gewalt geht, klar Position und wollen die Dunkelziffer senken, die Thematik enttabuisieren. Wie gehen Sie mit dieser Rolle um?
Wir sind nicht neutral. Wir als Opferhilfe sind ganz klar der parteilichen Hilfe verpflichtet, das steht auch im Opferhilfegesetz. Das heisst in erster Linie, dass wir uns auf die Seite der Opfer stellen, ihnen glauben, ihr Verhalten vor, während und nach der Tat nicht in Frage stellen und sie in ihrem Empfinden ernst nehmen. Gerade bei häuslicher und sexualisierter Gewalt sind Opfer oft unsicher, ob sie eine Mitschuld trifft. Ziel unserer Parteilichkeit ist, jeglicher Verantwortlichkeitsverschiebung entgegenzuwirken. Für Opfer ist das enorm wichtig.
Sie haben auf Twitter geschrieben, einer der meistgehörten Sätze sei für Sie «Ich habe versucht, es zu vergessen, aber es geht nicht». Da können auch Sie nicht helfen.
Doch, da sehe ich klar den Opferhilfeauftrag. Klar, wir können ein Ereignis nicht ungeschehen und auch nicht vergessen machen. Wir können aber helfen, dass das Erfahrene zu einem weniger schmerzhaften Teil des Lebens wird. Eine betroffene Person soll beispielsweise nach fünf Jahren sagen können: «Es war schlimm, aber es haut mich nicht mehr aus dem Leben, wenn ich dran denke.» Bei diesem Verarbeitungsprozess setzen wir an. Klar ist, dass es immer ein Vorher und ein Danach gibt. Und Eltern, die ihr Kind durch Drittverschulden bei einem Verkehrsunfall verloren haben, hadern womöglich ein Leben lang.
Welche Möglichkeiten haben Sie, um den Menschen zu helfen?
Neben der Beratung können wir auch finanzielle Leistungen sprechen. Auch für Menschen, die keine Beratung wollen, sondern in eine Therapie möchten. Das ist völlig legitim. Die Opferhilfe kann Soforthilfe leisten. Beispielsweise zehn Stunden Therapie oder fünf Stunden Beratung bei einer Anwältin. Oder auch ein neues Schloss oder ein Handy, für eine Person, die gestalkt wird. Für die Soforthilfe braucht es einen engen Zusammenhang zur Straftat, aber wir können sie unbürokratisch vergeben. Wenn die Soforthilfe aufgebraucht ist, können die Betroffenen ein Gesuch an den Kanton stellen, um längerfristige Unterstützung zu kriegen. Ein politisches Thema ist derzeit, dass aber beispielsweise Menschen, die auf der Flucht Gewalt erfahren haben, keine Opferhilfe beanspruchen dürfen, weil nur die Menschen Opferhilfe zugute haben, die zur Tatzeit Wohnsitz in der Schweiz hatten.
Die Opferhilfe ist gemäss Statistik schweizweit zunehmend gefragt. Glauben Sie, dass es mehr Delikte gibt, oder trauen sich mehr Menschen, die Hilfe anzunehmen?
Ich habe das Gefühl, es ist eher die Enttabuisierung. Auch bei Sexualdelikten gehen die Zahlen nach oben und ich glaube nicht, dass es heute mehr Vergewaltigungen gibt als vor zehn Jahren. Hoffentlich sogar eher weniger. Die Gesellschaft spricht viel mehr darüber und das wiederum bekräftigt Betroffene, sich Hilfe zu suchen.
Besonders schwierig dürfte es sein, die Jungen zur Opferhilfe zu bringen. Wie schaffen Sie dies hier in Solothurn?
Indem wir gezielt auch dort unser Angebot vorstellen, wo sich die jungen Menschen aufhalten. In Lehrbetrieben, Schulen, Institutionen und so weiter. Wir versuchen, möglichst viele zu erreichen. Somit hoffen wir zu bewirken, dass eine betroffene Person, die uns nicht kennt, durch ihr Umfeld auf die Opferhilfe hingewiesen wird. Künftig würden wir zudem gerne eine anonyme Onlineberatung anbieten. Und wir haben eine Whatsapp-Nummer. So versuchen wir, die Hürden zu senken. Vieles ist auch Aufklärungsarbeit. Betroffene müssen erst erkennen, dass sie «Opfer» sind, das heisst, wir müssen junge Menschen darüber aufklären, was Gewalt genau ist. Dass es zum Beispiel nicht Liebe ist, wenn eine Frau ihrem Freund droht, ihn zu verlassen, wenn er nicht eine Ortungsapp auf dem Handy installiert. Das ist nicht Liebe, sondern eine Form von psychischer Gewalt. Viele haben auch ein stereotypes Bild von Vergewaltigungen, die nicht der Realität dieser Delikte entsprechen.
Sie haben die Vergewaltigung angesprochen. Um hier Klarheit zu schaffen, forderten Teile der Politik eine Zustimmungslösung.
Im Gesetz ist die Haltung einer Gesellschaft sichtbar. Wir Opferhilfestellen sind der Überzeugung, dass Sexualität auf Einvernehmlichkeit beruhen muss und die sexuelle Selbstbestimmung in den Vordergrund gerückt werden muss. Dafür ist es unumgänglich, dass wir die Zustimmungslösung einführen.
Kamen in Ihrer Laufbahn auch schon Täter zu Ihnen und wollten sich offenbaren?
Sie dürfen nicht kommen. Wenn eine straffällige Person anruft, verweisen wir sie an die Beratungsstelle Gewalt. Bei häuslicher Gewalt kriegen wir manchmal gleichzeitig eine Opfermeldung von der Polizei. Dann beraten wir beide Parteien separat. Es gibt durchaus Fälle, in welchen beide Opfer und Täterin oder Täter sind.
Sie forderten in den sozialen Medien mehr Zivilcourage. Mehr Intervention, wenn Männer übergriffig werden. Wie stellen Sie sich dies konkret vor?
Bei diesem Beispiel ging es um sexualisierte Gewalt. Hier fängt der Übergriff beim Sexismus an. Und Sexismus beginnt da, wo man über einen sexistischen Witz mitlacht. Statt sich unbeliebt zu machen und in einer Männerrunde zu sagen: «Hey, das ist nicht okay.» Oder wenn einer Jugendlichen auf der Strasse nachgepfiffen wird. Da würde ich mir wünschen, dass sonst jemand, der es mitkriegt hat, was sagt. Oder im Ausgang. Wir bekommen so viele Belästigungen mit, aber kaum jemand reagiert. Dort würde es anfangen. Dass alle sich selbst hinterfragen: «Wie reagiere ich, wenn Menschen sexistisch sind?»
Dieser Diskurs ist teilweise am Laufen. Spüren Sie bei der Opferhilfe, dass die Sensibilisierung der Gesellschaft voranschreitet?
Wie gesagt steigen die Opferhilfezahlen, das ist ein «gutes» Zeichen. Trotzdem sind wir noch nicht dort, wo wir sein sollten. Ich habe in fünf Jahren rund fünfhundert Betroffene von Sexualdelikten beraten. Jene, die kamen und sagten: «Als ich meinen Freunden und meiner Familie erzählte, was mir widerfuhr, haben sie unterstützend reagiert.» Ich könnte sie an zwei Händen abzählen. Darum finde ich: Nein, wir sind noch überhaupt nicht weit. Bei der häuslichen Gewalt verhält es sich ähnlich. Eine Nachbarin, die anruft und sagt: «Ich habe ein ungutes Gefühl, bei mir unten tönt es nach Gewalt. Aber ich habe mit meinem Mann geredet und er meint: ‹Ach, misch dich nicht ein, das ist ihr Leben.›» Aber dann gibt es auch den guten Freund, der sich an uns wendet, weil er um eine Freundin, die Gewalt erfährt, besorgt ist. Wir sind vielleicht auf einem guten Weg, aber noch lange nicht am Ziel.
Sie arbeiten privat gerade an einem Buch, das sich mit sexueller Gewalt an Kindern befasst. Was kann die Opferhilfe hier leisten?
Wichtig ist, dass wir in diesem Bereich schon bei Verdachtsfällen beraten. Wenn jemand den Verdacht hat, dass das Nachbarskind, der Enkel oder auch die Schülerin daheim sexuell ausgebeutet werden könnte, kann man sich bei uns beraten lassen. Die Leute müssen nicht sicher sein, dass eine Straftat vorliegt. Wir können eine externe Einordnung machen und mögliche Handlungsschritte vorschlagen. Fachpersonen, nahestehende Personen, Eltern oder aber auch Kinder können sich von uns beraten lassen. Nicht wenige der Menschen, die als Kind sexuelle Gewalt erlitten haben, sind jedoch längst erwachsen, wenn sie zu uns kommen. Im letzten Jahr meldeten sich gut 5000 Personen, die als Kind ausgebeutet wurden. Die Dunkelziffer dürfte hoch sein. Wichtig ist, Kinder über sexuelle Gewalt aufzuklären. Reden ist Prävention. Dort setzt mein Buch an.
In Solothurn müssen Sie nun anders als in Bern die gesamte Bandbreite an Opfern beraten. Droht nicht ein fehlendes Bewusstsein für Bereiche, die in der Gesellschaft weniger Aufmerksamkeit geniessen?
Ich glaube nicht. Wir müssen und wollen in allen Bereichen Fachleute sein. Egal ob es sich um Zwangsheirat, Stalking oder einen schweren Verkehrsunfall handelt. Das ist für uns als Team eine spannende Herausforderung. Etwas ist allen Menschen, die zu uns kommen, gemeinsam: Sie haben etwas Traumatisierendes erlebt und brauchen Unterstützung.
Agota Lavoyer
Die 40-jährige Bernerin ist Mutter von vier Kindern. Sie studierte Soziale Arbeit und wirkte danach fast zehn Jahre lang als Schulsozialarbeiterin, bevor sie zur Opferhilfe im Kanton Bern wechselte. Auf der Fachstelle Lantana wirkte Agota Lavoyer während fünf Jahren.
Welche zusätzlichen Dienste der Opferhilfe würdest du dir wünschen?