«Entschweizerung»
Kürzlich war ich wieder mal in der Schweiz. In Bern, um genauer zu sein. Es ist eigenartig: Eigentlich kenne ich die Stadt nur aus den Liedern von «Züri West». Trotzdem hatte ich schnell das Gefühl, wieder zu Hause zu sein. Die grünen Altstadthäuser, die vielen Bankomaten, das Prix-Garantie-Thonsandwich. Alles schien mir so schön vertraut. Schweiz, ich habe Dich vermisst.
Nach ein paar Tagen war die Nostalgie allerdings wieder verflogen. An ihre Stelle trat eine gewisse Ratlosigkeit über die lieben Landsleute. Warum demonstrieren die jeden Donnerstag auf dem Bundesplatz gegen die «Corona-Diktatur»? Warum schauen die alle so grimmig drein? Und überhaupt: Was regen die sich eigentlich so auf, wenn der Nachbar das Altpapier ungebündelt an die Strasse stellt?
Wenn man lange genug im Ausland lebt, läuft man Gefahr, allmählich zu «entschweizern». Die Entwicklung kommt schleichend, aber man kann sich ihr kaum entziehen. Klar: Auch nach bald sechs Jahren in Belgien knurrt bei mir noch pünktlich um 18 Uhr der Magen. Und am Samstag wird das Klo geputzt.
Aber wenn ich aus der Schweiz wieder zurück nach Brüssel reise und den Schlüssel in das Schloss meiner Wohnung stecke, dann ist das jetzt ein Ankommen, Heimkehr. Die kaputten Rolltreppen in der Metro, der Hundedreck in den Strassen, das lärmige Gewusel der Grossstadt, der neu gewonnene Freundeskreis – das ist jetzt meine Lebenswirklichkeit.
Dazu gehört auch, dass ich als Ausländer, der ich ja jetzt bin, regelmässig auf meine Herkunft angesprochen werde. Ich muss dann mit ein paar Standardfragen rechnen, die über Schoggi, Käse, Alphorn hinausgehen. Eine, auf die ich in meinem beruflichen Alltag immer wieder treffe, lautet: «Ihr seid doch gar nicht in der EU – warum interessiert euch das alles überhaupt?» Ich antworte dann jeweils, dass uns das sehr wohl interessiert, weil wir eben gerade nicht dabei wären. Oder so. Eine leicht zugespitzte Version der Frage lautet: «Was ist genau euer Problem?»
Nicht einfach fiel mir auch die Antwort auf die Frage, die ich im Viertel Matongé gestellt bekam, wo viele afrikanischstämmige Menschen wohnen. Weshalb eigentlich jeder afrikanische Diktator seine Millionen in der Schweiz verstecke, fragte mich ein junger Herr mit ehrlichem Interesse. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Wahrscheinlich liegt es daran, dass es irgendwie «unschweizerisch» wäre, jemandem seine guten Dienste zu verwehren, wenn der mit einem Sack Geld vor der Türe steht? Ich meine: Wenn wir es nicht täten, täte es jemand anderes, und wenn schon, dann ist es doch besser, wenn wir es tun. Oder wie ist das?
Damit es keine Missverständnisse gibt: Ich mag unser Land. Ich würde sogar behaupten, dass ich ein guter Patriot wäre. Aber ein paar Dinge fallen einem erst richtig auf, wenn man mal eine Zeit lang weg ist.
*Remo Hess (35) lebt und arbeitet seit 2016 als Journalist in Brüssel.