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«Es gibt immer genügend Routen, an welchen ich chnüble»

Kaum ein Sport explodiert derzeit so sehr wie das Klettern. Überall in der Schweiz spriessen neue Kletter- und Boulderhallen aus dem Boden. In Olten lässt eine Genossenschaft seit vier Jahren den Trendsport aufleben. Auf der Spur eines wachsenden Massenphänomens.
7. Januar 2022
Text: Yann Schlegel, Fotografie: Timo Orubolo

Wie Tobias Flotron ergeht es vielen. Als in Olten 2018 das «Momentum» als Trendsporthalle eröffnete, war er einer der Neugierigen, die vorbeischauten. Und seither kommt er immer wieder hierher. Versucht, die vier Meter hohe Wand zu erklimmen, die mit knallfarbenen Kunststoffgriffen übersät ist. Ohne Seil hochzusteigen ist, was das Bouldern ausmacht. Geboren ist der Sport draussen am Felsblock (auf Englisch «boulder»). Mit den Boulderhallen kam er in die Städte und wurde zum Massenphänomen.

In Zürich spriessen die Kletterhallen wie Pilze aus dem Boden. Aber auch in den Agglomerationen und Kleinstädten ist die Sportart extrem hip. In Baden eröffnete mit dem «Bouba» eben erst eine Halle, die um ein Vielfaches grösser ist als jene in Olten. Die Szene wächst rapide. Die Kletterhallen sind auch ein Treffpunkt für Gleichgesinnte. Nach dem Training trinkt man gemeinsam ein Bier. Übers Wochenende fahren die Freunde zusammen in die Berge. Auch in der weiteren Region ist der Sport im Trend. In Aarburg entstand mit dem «Isatis» vor zwei Jahren eine Boulderhalle, nach Solothurn expandierte letztes Jahr die Berner Hallenbetreiberin «bimano». In Lenzburg wurde die Kletterhalle ausgebaut und eben erst wiedereröffnet.

Mittlerweile gehört Tobias zum Betriebsteam der Momentum-Halle. Das Umfeld ist familiär. Die Leidenschaft für den Sport treibt sie an, das Gros der Arbeit, wie etwa der gesamte Unterhalt, ist ehrenamtlich. Mit dem Geld muss die Genossenschaft haushälterisch umgehen. «Wir decken viele Bedürfnisse ab, sind aber nicht so professionell aufgestellt wie andere», sagt Tobias. Er führt uns ins kleine Lager inmitten der grossen Halle. Alles ist aus Holz gebaut. Kisten mit neuen Kunststoffgriffen stapeln sich hier drin. An einer Pinnwand ist feinsäuberlich aufgeführt, wer aus dem Momentum-Team wie viele neue Routen «geschraubt» hat, wie Tobias erklärt. Alle paar Wochen werden bestehende Routen zurückgebaut und neue kreiert. Die schwierigen Routen aber belassen die Betreiber über ein paar Monate.

Manchmal versucht Tobias sich über Wochen an der gleichen Route. Die Spielregeln sind einfach: Eine Route ist mit Griffen einer bestimmten Farbe definiert. Um hochzuklettern, darf man nur Griffe dieser Farbe nutzen – mit den Händen nach ihnen greifen oder mithilfe der Füsse abstehen und Impulse geben. «Es gibt für mich immer genügend Routen, an welchen ich chnüble», sagt Tobias. Die spielerische Sportart beansprucht den ganzen Körper. «Sie hat eine feine, präzise und zugleich auch eine kräftige Komponente.» Bei geübten Kletterinnen schaut es bisweilen aus, als hätten sie Magnete an den Händen, wenn sie sich an den künstlichen Griffen festhalten und sich entgegen der Schwerkraft nach oben bewegen.

Vor einem Jahr baute das Momentum den Kletterbereich mit einem zusätzlichen Boulder-Block aus, den die Genossenschaft mithilfe eines Crowdfundings finanzieren konnte. Damit vergrössert sie gezielt ihr Angebot für Kurse und Schulklassen. Kurz sei die Überlegung im Raum gestanden, gar zu expandieren und auch die untere Halle des heutigen Standorts zu mieten, erzählt Tobias. Jedoch wäre der Betrieb aufwändiger geworden und die Unsicherheiten aufgrund der Pandemie bremsten die Pläne. Noch ist die Idee nicht endgültig vom Tisch. Tobias sagt aber: «Wir wollten uns selbst treu bleiben. Wir sind weder die bestausgerüstete noch die bestgebaute Kletterhalle. Jene Menschen, die das Momentum als Kunden oder Helferinnen mittragen, machen unseren familiären und sympathischen Charakter aus.»

2 Sportarten …

… unter einem Dach. «Das Momentum gäbe es ohne die Koexistenz nicht», sagt Tobias. Die Kletteraffinen spannten für ihr Projekt mit den Skatern zusammen und schufen so die Trendsporthalle. Etwas Lärm gehöre im Momentum deshalb dazu. Wenn die Skater mit Rollbrett, Inlineskates oder Kickboards über die Anlage rollen, hallt ein Grollen durch den Raum. Die Kletterinnen mussten sich damit arrangieren. Das Momentum hat den Montagabend deshalb exklusiv fürs Klettern reserviert – der Dienstagabend gehört dem Verein der Rollbrettbuben. Am Wochenende sei aber gerade die Kombination der beiden Sportarten bei Familien sehr beliebt, sagt Tobias.

3 Disziplinen

Sportklettern war an den Olympischen Spielen in Tokio erstmals Teil des Programms, was die Popularität der modernisierten Sportart befeuerte. Bouldern ist eine der drei Disziplinen, in welchen sich die Athletinnen auch bei Weltmeisterschaften und weiteren Wettbewerben messen. Die anderen beiden Disziplinen bilden das (gesicherte) Schwierigkeitsklettern, das im Fachjargon als Leadklettern bekannt ist, und das Speedklettern. Bei der letzten Form treten jeweils zwei Athleten auf einem identischen Kurs gegeneinander an. Wer zuerst oben anschlägt, kommt eine Runde weiter.

4 Meter …

… hoch sind die aus Holz gebauten Boulder-Wände, an welchen die Routen hochführen – zum Teil auch überhängend. Am Boden ist eine 30 Zentimeter dicke Matte fixiert. Wenn die Kraft nachlässt, kann sich der Kletterer auch gehen lassen und landet aus sicherer Absprunghöhe auf dem abfedernden Boden.

6a-6a+ Schwierigkeitsgrad

Die Zahl zeigt an, auf welchem Niveau sich Tobias mit seinen bald vier Jahren Klettererfahrung an den Boulder-Wänden bewegt. Entwickelt wurde das Schwierigkeitsgrad-System im bekannten Bouldergebiet Fontainebleau, weshalb von der Fb-Skala gesprochen wird. Sie reicht von 4 bis 9a. Im Momentum wird der Schwierigkeitsgrad in Farben übersetzt. Mit seinem fortgeschrittenen Niveau klettert Tobias derzeit vor allem grüne Routen. In den Sommermonaten zieht er das Klettern im Freien an den echten Felswänden vor. Dort ist die Skala leicht verschoben und Tobias kann Aufstiege mit dem Schwierigkeitsgrad 6b-6c meistern.

45 bis 50 verschiedene Routen …

… sind im Momentum angebracht und stellen den Besucherinnen «Boulderprobleme», wie sie genannt werden. «Bouldern hat den Vorteil, dass man nicht gesichert sein muss», sagt Tobias. Das senkt die Schwelle, mit dem Sport anzufangen. Wer sich an ein Boulderproblem wagt, kann dieses immer und immer wieder versuchen. Bis die Kraft nachlässt oder die Hände wund sind … «Weil ich nicht so beweglich bin, muss ich die schwierigen Passagen mit Kraft zu überwinden versuchen», erzählt er.

Rund 60 Kletter- und Boulderabos

Die Stammkundschaft ist die wichtigste Grundlage, damit das Momentum den Betrieb aufrechterhalten kann, erklärt Tobias. Wer 540 Franken pro Jahr bezahlt (360 fürs Halbjahr), kriegt einen Badge und hat jederzeit Zugang zur Kletteranlage. «Bis zum Corona-Lockdown hatten wir ein gutes Wachstum», sagt er. Danach seien die Menschen verunsichert gewesen. In diesem Winter nimmt das Interesse wieder zu – und dies trotz der Covid-19-Massnahmen.

An diesem Winterabend ist die Halle zumindest voll belegt. An allen Wänden hängen Kletterinnen an den Kunstgriffen und versuchen, die gestellte Aufgabe zu lösen. Ein Schnupperkurs hat viele Teilnehmer ins Momentum gelockt. Rund alle zwei Monate bietet das Momentum solche an. Dies sei für sie eine gute Gelegenheit, neue Menschen fürs Klettern zu begeistern und für die Momentum-Familie hinzuzugewinnen, sagt Tobias.

Er zeigt an eine Wand, wo sich ein Zweierteam an einer mittelschweren Route versucht. Vor drei Monaten seien auch sie beim Schnupperkurs dabei gewesen. Stefanie und Fabian lösten gleich ein Abo und sind nun regelmässig in der Halle. «Eigentlich kam ich hierhin, um meine Höhenangst zu überwinden», erzählt Stefanie. Das sei ziemlich gut gelungen. Fabian fügt bei: «Wir waren erstaunt, wie schnell wir Fortschritte erzielten.» Sagt’s und hievt sich am nächsten orangenfarbenen Boulderproblem hoch.

Infos: Momentum Olten, der nächste Schnupperkurs findet am 21. Februar 2022 statt.


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