Hamburger, Hacktätschli und Heroin
Kurz bevor das Wasser zu sieden beginnt, legt Mitarbeiter André Gerber den Salat und das Rüstmesser beiseite und schmeisst eine herzhafte Portion Spaghetti mit Bolognese-Sauce in den grossen Kochtopf. Eine halbe Stunde später wird es in der Stadtküche nur noch vereinzelt einen freien Platz geben. Noch bleibt aber Zeit für die letzten Vorbereitungen und Gelegenheit für einen Blick in den Konsumationsraum der Suchthilfe Ost an der Aarburgerstrasse. Patrizia Twellmann, die Abteilungsleiterin der Stadtküche sowie der Kontakt- und Anlaufstelle, führt eine Tür weiter in die Räumlichkeiten, in denen mitgebrachte Drogen in einem geschützten Rahmen konsumiert werden können.
Drei Räume stehen für die unterschiedlichen Konsumarten zur Verfügung, erzählt Twellmann. «Kokain, Heroin, Valium oder andere Betäubungsmittel werden von den Klienten auf ganz unterschiedliche Weise konsumiert.» Direkt neben dem Raucherzimmer befindet sich in einer Nische ein schmaler Wandtresen aus Chromstahl. «Da wird gesnifft», erklärt Twellmann die Vorrichtung, von der Substanzen durch die Nase konsumiert werden. Ein paar Schritte weiter befindet sich der Injektionsraum. Für Süchtige, die ihre Droge spritzen.
Anders als früher gibt es heute kaum noch Suchtkranke, die sich auf eine Droge beschränken. Zum Alltag gehört der Mischkonsum. «Der klassische Heroinjunkie, wie es ihn in den Achtzigern gab, existiert nicht mehr. Die Leute konsumieren, was das Angebot gerade hergibt», erklärt Twellmann. Das kann zu kritischen Situationen führen, da nicht immer leicht vorhersehbar ist, wie sich der Cocktail auf den Körper auswirkt. Die Mitarbeiterinnen sind für den Ernstfall vorbereitet. Sie wissen, was zu tun ist, wenn jemand zusammenklappt.
Die Drogenszene in Olten sei in ihrer Grösse überschaubar, so der Eindruck von Ursula Hellmüller. Seit August ist sie als Co-Geschäftsleiterin bei der Suchthilfe Ost tätig. Zuletzt dozierte sie an der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz. Davor arbeitete sie im Zürcher Unterland unter anderem in der Gassenarbeit. Seit drei Jahren gibt es die Konsumationsräume in Olten. Noch immer reise ein Teil der lokalen Süchtigen nach Basel, wo vergleichbare Stellen bereits vor bald dreissig Jahren eingerichtet wurden. Zum einen ist es die Macht der Gewohnheit, zum anderen sind es die Drogenpreise, die in der Grenzstadt tendenziell tiefer seien und die Leute anziehen würden, erklärt Hellmüller.
Für die Zukunft ist angedacht, die Öffnungszeiten der hiesigen Kontakt- und Anlaufstelle zu erweitern. Bisher steht das Angebot der Suchthilfe nur an Werktagen zur Verfügung. Da der Drogenkonsum übers Wochenende keine Pause mache, sei das im Grunde genommen unsinnig. «Je ausgedehnter unsere Öffnungszeiten, umso weniger sieht man die Leute an lauschigen Plätzen, in Hauseingängen oder auf der Strasse ihre Drogen konsumieren», begründet Hellmüller die Pläne. Ziel der Kontakt- und Anlaufstelle sei es nicht zuletzt, die Bevölkerung zu schützen vor dem Anblick und der «Dauerirritation» durch konsumierende Abhängige.
Die Nadelwahl
Im Injektionsraum sorgt kühles, grelles Licht dafür, dass Süchtige ihre Venen leichter finden. Twellmann öffnet eine grosse Schublade, deren Inhalt an einen Arztbesuch erinnert. Nach dem vorgeschriebenen Händewaschen erhält die Konsumentin aus dem Schrank ihr steril verpacktes Spritzmaterial. Zu den Utensilien in der Schale gehören neben einer Spritze zwei unterschiedliche Nadeln. Je nachdem, an welcher Körperstelle die Injektion erfolgt, kommt die eine oder die andere zum Einsatz. «Wird die Spritze beispielsweise am Hals angesetzt, braucht es eine längere Nadel als am Unterarm», erklärt Twellmann.
Im beigelegten Esslöffel kann die mitgebrachte Substanz in sterilem Wasser aufgelöst werden. Damit sich beispielsweise Heroin leichter auflöst, liegt in der Schale ein Beutelchen mit Ascorbinsäure in Pulverform, reines Vitamin C. Durch einen Zigarettenfilter, der anschliessend in die Flüssigkeit gelegt wird, kann der Klient die Droge mit der Nadel aufziehen, ohne dass fremde Partikel in die Spritze gelangen. Mittels eines Alkoholtupfers wird die Körperstelle desinfiziert, bevor die Spritze angesetzt wird.
In normalen Zeiten finden vier Personen Platz im Injektionsraum. Zurzeit sind es nur zwei, damit der Abstand gewährleistet ist. Immer anwesend ist eine Mitarbeiterin der Suchthilfe, die das Spritzbesteck aushändigt und den Konsum überwacht. «Durch die Anwesenheit verhindern wir, dass Spritzen getauscht werden», sagt Hellmüller. Damit lassen sich Krankheitsübertragungen vermeiden. Aus Sicherheitsgründen dürfen die Klienten nur sitzend konsumieren. «Wir wollen niemanden mit einer Nadel herumlaufen sehen», so Twellmann.
Ebenso wichtig wie die Sicherstellung der hygienischen Bedingungen ist das Gespräch mit den Süchtigen. «Wir lernen die Leute kennen, sehen, wie es ihnen geht, und können in schwierigen Situationen frühzeitig Massnahmen ergreifen», sagt Twellmann. Mit der Polizei habe man eine Vereinbarung, dass diese nicht direkt vor dem Gebäude die Leute abpasst und kontrolliert. «Wäre das anders, hätten wir von heute auf morgen niemanden mehr hier.»
Derzeit suchen pro Tag rund zwanzig Personen die Räumlichkeiten auf. Seit der Coronakrise seien die Besucherzahlen deutlich zurückgegangen, sagt Twellmann. Infolge des Lockdowns und des Aufrufs an die Bevölkerung, zu Hause zu bleiben, waren weniger Menschen auf den Strassen unterwegs. Gleichzeitig gab es mehr Polizeipatrouillen. Die Dealerinnen zogen sich zurück, weil das Risiko stieg, erwischt zu werden. Damit gab es weniger Stoff auf dem lokalen Markt und die Klienten wichen in andere Städte aus.
«Im Austausch mit verschiedenen Institutionen in der Schweiz erfuhren wir, dass kleinere Städte dieselbe Erfahrung machten wie wir», erzählt Twellmann. In der gleichen Zeit verzeichneten Städte wie Zürich oder Basel, in denen der Drogenhandel weiterhin funktionierte, in ihren Anlaufstellen einen merklichen Zuwachs an Suchtkranken. Hinzu kam eine weitere Entwicklung: Private stellten ihre eigene Wohnung als Konsumationsraum für andere Abhängige zur Verfügung. «Die Wohnungsmieter haben für ihren Dienst vom Dealer den Stoff gratis erhalten, weil es die Belieferung einfacher und risikofreier machte.»
Die momentane Zurückhaltung bei den Gästen ist auch in der Stadtküche spürbar. Twellmann macht bei ihren Klientinnen zwei Reaktionen auf die Pandemie und die ausgerufenen Massnahmen des Bundesamts für Gesundheit aus. «Entweder sie haben enorme Angst vor einer Ansteckung oder es ist ihnen schnurzpiepegal.» Generell stelle sie aber fest, dass ein Grossteil der Leute vorsichtiger geworden sei. «Es ist ihnen sehr wohl bewusst, dass sie einer Risikogruppe angehören.» Jede Abteilung der Suchthilfe Ost verfügt über ein eigenes Schutzkonzept.
Eine Woche ist es her, dass sich das Amt für soziale Sicherheit des Kantons in der angegliederten Werkstatt umgesehen und die Einhaltung der Schutzmassnahmen überprüft hat. «Wir begrüssen solche Kontrollen, schliesslich ist es wichtig, dass die Konzepte keine Schreibtischtat bleiben, sondern sauber umgesetzt werden», sagt Hellmüller. Von Behördenseite wurden keinerlei Mängel festgestellt.
Im Frühling gab die Stadtküche ihre Mahlzeiten nur noch zum Mitnehmen heraus, die Werkstatt für betreutes Arbeiten stellte ihren Betrieb ein, der Kontakt zu den Klientinnen im begleiteten Wohnen wurde telefonisch statt mit persönlichen Besuchen aufrechterhalten, und auch die Anlaufstelle schloss vorübergehend ihre Türen. «Wir merkten schnell, dass das kein dauerhafter Zustand sein kann, und haben uns bemüht, die Anlaufstelle schnellstmöglich wieder zu öffnen», sagt Co-Geschäftsleiterin und Leiterin Case Management Esther Altermatt. Die Anlaufstelle wurde bereits nach einigen Wochen wieder geöffnet. Seit August laufe der gesamte Betrieb der Suchthilfe wieder zu hundert Prozent.
Gesamtschweizerisch gesehen sei das Phänomen zu beobachten, dass Drogenkonsumenten, die in den Anlaufstellen der Institutionen verkehren, von einer Coronainfektion bisher weitgehend verschont blieben. Trotzdem ist die psychische Belastung da. «Wie für alle anderen Menschen ist es keine leichte Zeit. Meiner Erfahrung nach führen Abhängige harter Drogen aber per se ein relativ einsames Leben und kennen die Einsamkeit. Da sie vor allem damit beschäftigt sind, Drogen zu beschaffen und zu konsumieren, bleibt weder Zeit noch Geld für Aktivitäten, wo es zu Begegnungen mit anderen Menschen kommen würde», sagt Hellmüller. Möglicherweise einer der Faktoren, der gegen das Virus spielt.
Hausgemacht schmeckts am besten
Zurück in die Stadtküche, wo die Spaghetti al dente auf dem Teller landen. «Unser oberstes Ziel ist es, dass die Leute essen und nicht nur Drogen konsumieren», sagt Twellmann. Sechs bis sieben Menüs zwischen drei und sechs Franken stehen jeden Tag auf der Menükarte. Fürs Wochenende können sie auch mitgenommen werden. Die Mahlzeiten werden von den Stadtküchenmitarbeitern vorgekocht und in Plastikfolie einschweisst eingefroren. «Unsere Hamburger schmecken den Leuten besser als jene der bekannten Fastfoodkette», zeigt sich Gerber erfreut über die positiven Rückmeldungen seiner Gäste.
Während gerade jemand eine Portion Hacktätschli mit Reis abholt, bringt Gerber zwei Schüsseln gefüllt mit Äpfeln, Rüebli und Kohl aus der Küche. Daneben legt er ein halbes Dutzend Brotlaibe auf den Tresen. Drei Mal die Woche erhält die Suchthilfe Gemüse, Früchte und weitere Lebensmittel von der Schweizer Tafel geliefert. Fleisch wird dazugekauft. Was sich nicht in einem der hausgemachten Gerichte wiederfindet, geht an die Klienten, die sich frei am Tresen bedienen dürfen.
Eine legale Droge, die alle Schicksale auf betrübliche Weise eint, ist der Alkohol. Auf der Getränkekarte der Stadtküche sucht man ihn vergebens. Den Gästen ist es jedoch erlaubt, ihre alkoholischen Getränke selbst mitzubringen und beim Essen zu konsumieren. «Weil es ohne halt einfach nicht geht», erklärt Twellmann. Und Altermatt ergänzt: «Über alle Klienten gesehen ist der Alkohol jene Substanz, mit der wir bei der Suchthilfe am meisten konfrontiert sind.» Es ist eine oft im Verborgenen bleibende Abhängigkeit, der nicht im überwachten Konsumationsraum nachgegangen wird. Vielmehr ist sie Thema in den persönlichen Beratungsgesprächen, welche die Suchthilfe Ost ebenfalls anbietet.
Die Suchthilfe Ost Die Suchthilfe Ost GmbH begleitet und unterstützt Menschen mit Suchtproblemen in den Gemeinden der Bezirke Dorneck, Gäu, Gösgen, Olten, Thal und Thierstein. Ihr Hauptsitz befindet sich in Olten. Ihre Schwesterorganisation, die PERSPEKTIVE Region Solothurn-Grenchen deckt die Bezirke Solothurn, Lebern, Bucheggberg und Wasseramt ab. Die beiden Organisationen haben die Aufgabe, im Kanton Solothurn ein Angebot bereitzustellen in den Bereichen Prävention und Früherfassung, Beratung und Case-Management sowie Risiko- und Schadensminderung. Grundlage ist der kantonale Leistungskatalog. Finanziert werden die Organisationen durch die Einwohnergemeinden und durch einen Beitrag aus dem Alkoholzehntel aus der Spirituosenbesteuerung. Die Suchthilfe Ost bietet in Olten neben der Stadtküche und Kontakt- und Anlaufstelle unter anderem ein Arbeitsprogramm in der hauseigenen Werkstatt und begleitetes Wohnen an. |
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