Advent, Advent, die Lunte brennt
«Schöni Musig!», platzt es neulich aus unserer Dreijährigen heraus, als gerade die ersten Takte von «Last Christmas» aus den Deckenlautsprechern im Sälipark rieseln. Eine musikalische Premiere für die unschuldigen Ohren meiner Tochter, ein zwielichtiges Wiederhören für mich. Während wir uns vorbei an Skibrillen, Herzfrequenzmessern und sonstigen Sonderangeboten Richtung Elektronikabteilung vorarbeiten, singen George Michael und ein gewisser Andrew Ridgeley – den Namen musste ich googeln – von einem verschenkten Herz und verflossener Liebe, und die Kleine wippt zufrieden mit ihrem Kopf dazu. Ich für meinen Teil bleibe fokussiert. Einer muss ja. Doch leichter gedacht als getan. Die Typen von Wham! sorgen jedes Jahr zuverlässig dafür, dass ein toxischer Mix an Emotionen in mir hochkommt. Gänsehautmomente gepaart mit kaltem, über den Rücken laufenden Schauer. Dieses Jahr ist es besonders ätzend. Selten zuvor schien mir Weihnachten und alles, was so dazu gehört, derart weit weg von der Realität zu sein wie in diesen Tagen.
Während der Weihnachtsmarktbesuch und damit einhergehende Glühweineskapaden auf die Folgejahre verschoben sind, scheint es in den Schaufenstern der Geschäfte und in den Gassen umso trotziger festlich zu leuchten und zu funkeln. Über den Köpfen der Passanten an der Bahnhofstrasse in Zürich hängt Lucy mit ihren Diamanten, in Oltens Altstadt und Kirchgasse die namenlosen, deshalb aber nicht weniger schicken, überdimensionalen Weihnachtskugeln. Landauf, landab sind die Kulissen fürs grosse Fest aufgebaut und herausgeputzt. Nur die Protagonistinnen wirken wie eine Fehlbesetzung. Vermummte, überall Vermummte. Auf den Gassen und in den Läden. An der Bushaltestelle, am Bahnhof, im Zug. Soweit man sehen kann nur Vermummte.
Man hat sich im Lauf des Jahres an so einiges gewöhnt. Erwachsene grüssen einander wie Kleinkinder. Winke, winke, statt sich die Hand zu reichen oder sich zu drücken. Den neuesten Klatsch aus dem Quartier wirft man heutzutage lauthals und ohne jegliches Aufkommen eines Schamgefühls einander an die Köpfe. Abstand, Abstand, Abstand, das ist die Devise. Zeichnen sich am Horizont die bedrohlichen Umrisse eines nahenden Joggers ab, ist der Strassenseitenwechsel kein Zeichen der Unfreundlichkeit, sondern ein Affekt, der einem bereits in Fleisch und Blut übergegangen ist. Eine kuriose Konstellation für ein Fest, das einen daran erinnern soll, seinen Nächsten zu lieben. Wie sollen wir das nur schaffen, wenn man niemandem mehr nah sein darf?
So der Bundesrat will, werden dieser Tage aller ungünstigen Prognosen zum Trotz in schweizerischen Stuben Weihnachtsfeierlichkeiten auf die eine oder andere Weise abgehalten. In den rar gewordenen Momenten zwischen Händewaschen, Patschendesinfizieren und Maskenlüften macht sich jeder so seine Gedanken, wie man als Familie das Fest auf halbwegs würdige Weise hinter sich bringen kann. Für unsere Familie bedeutet das nach aktuellem Stand der Dinge: Das kleine Heer an Enkelkindern wird bei seinen Grosseltern gestaffelt über mehrere Tage hinweg einfallen. Die Urgrosseltern bleiben aus gebotener Vorsicht den Feierlichkeiten fern. Kirchenbesuche stehen keine auf dem Plan. Nicht weil sie verboten wären, sondern weil unsere Familien damit schon längst abgeschlossen haben. Ein kleines bisschen Beständigkeit in schwankenden Zeiten. Beruhigend.
Wie so oft in schwierigen Lagen trifft es auch in dieser Krise einzelne Bevölkerungsgruppen im Land besonders hart. Aktuell sind das – einmal mehr, ist man geneigt zu denken – die Alten und die Ausländer. Während ältere Semester gut beraten sind, vorsichtig zu sein und physische Kontakte zu Mitmenschen aufs nächste Frühjahr zu verschieben, steht jüngeren Menschen mit Familienangehörigen im Ausland zumindest theoretisch die Möglichkeit offen, über die Festtage ihre Lieben zu besuchen. Zu Recht überlegen sich viele die Reise jedoch fünfmal, denn niemand kann vorhersehen, wann die Schotten das nächste Mal dichtmachen und wie sich die Quarantäneauflagen in Zukunft entwickeln werden. Hinzu kommt die Tatsache, dass Gäste aus der Schweiz nicht mehr bedingungslos und überall gern gesehen sind. Eine ganz neue Erfahrung für die sonst doch allseits mit offenen Armen empfangenen Schweizerinnen. Seit die Welt Wind davon bekommen hat, wie unser Finanzminister übers Sterben an Corona denkt und dass die freundlichen Schweizer nicht nur für feine Schokolädli unter dem Weihnachtsbaum sorgen, sondern mit glaubhafter Wahrscheinlichkeit zusätzlich ein paar Virenpakete mitführen, verzichtet man begreiflicherweise nur zu gern auf unsere Anwesenheit.
Das Weihnachtsfest und die Tage davor zählen naturgemäss nicht zu jenen Momenten im Jahr, in denen es gilt, möglichst ausgefallene Ideen in die Tat umzusetzen. Ganz im Gegenteil. Mailänderli, Spitzbuben und Zimtsterne werden nach denselben Rezepten gebacken, wie es Generationen vor uns schon vorgemacht haben, der Ablauf während der Festtage scheint einem ungeschriebenen wie drögen Protokoll zu folgen, und die immer gleichen Lieder bilden das gleichtönige Hintergrundrauschen. Doch in diesem Jahr ist nichts, wie es einst war. Eine Gelegenheit für einfallsreiche Köpfe zu zeigen, was in ihnen steckt. Hört man sich im Bekanntenkreis um und fragt nach dem Festtagsprogramm, erfährt man von allerlei unterschiedlichen Plänen und Schutzkonzepten, die dem Virus das Leben schwer machen sollen. Manche davon werden Anbieter von Outdoorausrüstung frohlocken lassen, denn sie versprechen gute Umsatzzahlen im sonst lauen Coronajahr.
Von Feuerschalen und Familientreffen im Garten ist die Rede. Andere wollen ihre Feier in den Wald verlegen, Schlangenbrot backen und Cervelats bräteln. Und wieder andere ziehen es vor, die diesjährige Weihnacht im Keim zu ersticken, bevor die trockene Tanne Feuer fängt. Jetzt, wo ohnehin alles anders ist, ist die Zeit gekommen, mehr Mut in der Ausgestaltung der Festlichkeiten zu zeigen. So darf beispielweise die Musikauswahl für die Festtage ruhig vom vermeintlich für die Ewigkeit bestimmten Standardrepertoire abweichen. Warum also nicht ausnahmsweise Jack Black statt Barry White spielen? Statt Bo Katzman die Bonzo Dog Doo-Dah Band auflegen und Wham! durch God damn ersetzen?
In der Krise sind es die vermeintlich kleinen Dinge, denen das Glück innewohnt. Ohne Zweifel kann sich glücklich schätzen, wer niemand in seiner Familie weiss, der Querflöte spielt. Oder falls doch, es zumindest aus Gründen der Nächstenliebe und der Pandemieeindämmung dieses Jahr unterlässt, seine Liebsten nach der Bescherung mit dem Medley der fünfzig grössten Weihnachtsklassikern zu unterhalten. Stichwort Aerosole. Wie Forscher herausgefunden haben, ist die Querflöte im Bereich der Verteilung von Spuckpartikeln das führende Instrument. Ebenfalls eine erfreuliche Begleiterscheinung der Pandemieauflagen: Der liebe Onkel mit der Nuschelstimme kann dem liederlichen Ausklang an Heiligabend entspannt entgegensehen. Summend hat sich noch keiner zum Kasper gemacht.
Oft sind ja die Wochen vor dem grossen Fest die stressigsten im Jahr. Nicht so in diesem Winter. Das Risiko, mit einem unpassenden Geschenk ins Fettnäpfchen zu treten, ist heuer absolut vernachlässigbar. Denn wer niemanden trifft, verschenkt auch nichts, und wer keine Geschenke kaufen muss, schont die Nerven, spart Geld und gewinnt an Lebenszeit. Ressourcen, die sich zweifelsfrei in Gescheiteres investieren lassen. Alles in allem darf festgehalten werden, dass Weihnachten 2020 mit wohltuend überschaubarem Aufwand verbunden ist. Ganz dem Pareto-Prinzip folgend, das besagt, mit einem Einsatz von zwanzig Prozent ein Ergebnis von achtzig Prozent erreichen zu können. Wichtig ist es, die Prioritäten richtig zu setzen. In diesem Fall: gesund zu bleiben. Eine frohe Botschaft in verrückten Zeiten, so meine ich. Freuen wir uns auf die mit Abstand besinnlichsten Tage in der Geschichte von Weihnachten.
Wie überstehst du dieses Jahr Weihnachten?