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Aussenterrassen, Ameisenmühlen und überall Angst

4 Sätze, die mir diesen Monat zu denken gaben: Kulturtipps, Pandemiegefühle und ein wenig Exotik fürs Ohr.
1. Juni 2021
Text: Pierre Hagmann*

1. «Das geht ganz schnell.»

Die Frau in Weiss, 5. Mai 2021

Über ein Jahr Pandemie, eine Million Medienberichte und eine Milliarde Streitereien, knapp 11’000 Tote in der Schweiz und 3,5 Millionen Tote in der Welt, Lockdowns und Shutdowns, harte und weiche, 500’000 Jammerinterviews mit Casimir Platzer (den vor Sars-CoV-2 kein Schwein kannte), ebensoviele Bundesratspressekonferenzen (die vor Sars-CoV-2 kein Schwein schaute), ein ewig langer Winter namens Flockdown, ein Frühling, der keiner war, wie eine weitere Provokation der Natur, der kälteste seit 34 Jahren, Bibbern auf den Aussenterrassen, Bibbern über neue Mutationen, überforderte und abgewählte Populisten, tonnenweise systemrelevantes WC-Papier, zwei Meter Abstand, eineinhalb Meter Abstand, zwei Wochen Quarantäne, eine Woche Quarantäne, alles abgesagt, ganz viel Sorgen und Ängste und Hass und Liebe und Forschung, fantastisch schnelle Forschung, und dann sitze ich da, 5. Mai 2021, frage die Frau in Weiss «Wie lang dauert das?», und sie antwortet «Das geht ganz schnell», ich entblösse meinen Oberarm, sie setzt die Nadel an, und zwei Sekunden später strömen 0,5 ml mRNA-1273 durch meine Blutbahnen, Moderna gegen Corona, ein simpler Stich gegen die Katastrophe, ich bin gerührt und denke: «Danke.»


2. «Vielleicht ist dieser Mistkerl wirklich mal unersetzbar?»

Marina Maximilian Blumin als Hila in der Serie «Fauda» (2015 – heute)

«Fauda» ist Arabisch und bedeutet Chaos. Die gleichnamige Serie ist ein internationaler Erfolg, von der «New York Times» zur besten Serie 2017 erkoren. Es gibt drei Staffeln, die ersten beiden hab ich vor einiger Zeit geschaut, zunächst fasziniert von diesem bildstarken Einblick in den Nahost-Konflikt anhand einer israelischen Spezialeinheit mit seiner Hauptfigur Doron. Die Lust auf Staffel 3 verging mir dann, weil die Serie zur Aneinanderreihung von immer neuen, sich gleichenden blutrünstigen Einsätzen der Spezialeinheit verkommt. Als am 10. Mai der reale Israel-Gaza-Krieg entfachte, kam mir «Fauda» wieder in den Sinn und ich begann doch noch mit Staffel 3. Und wieder jagten die Israelis den gerade führenden palästinensischen Unruhestifter, bis dieser tot oder gefangen war – und der nächste Top-Terrorist seinen Platz einnahm. So erzählt die zermürbte Bürochefin Hila in Folge 4, in einer zweisamen Nacht mit Doron, wie sie sich manchmal fragt: «Vielleicht ist dieser Mistkerl wirklich mal unersetzbar?» Da realisierte ich: Die Wiederholung des immergleichen Grausamen muss keine Einfallslosigkeit der Serienmacher sein, es ist bittere Realität. Immer noch ein Hinterhalt, noch ein Angriff, noch ein paar Tote, noch ein Krieg. Ein Konflikt dreht sich im Kreis, wie die Ameisen in der Ameisenmühle, wenn der Anführer die Orientierung verloren hat und ihm doch alle blind folgen, obwohl er sich im grossen Kreis dreht, bis in den Erschöpfungstod. Die vierte Staffel von «Fauda» folgt voraussichtlich Anfang 2022.


3. «Weit weg»

Aus dem Titel der neuen Single von «Jeans for Jesus» (2021)

Es sind gerade etwas komplizierte Zeiten für Menschen, die gerne reisen. Gegen Fernweh oder die Sehnsucht nach dem aufregend Anderen, dem Exotischen hilft mir manchmal Musik. In der digitalen Welt gibt’s zwar auch Viren, aber keine Quarantänen, jedenfalls bietet das Internet wunderbar kuratierte Angebote für den gepflegten musikalischen Eskapismus. Lust auf Nicaragua in den 60er-Jahren oder das postmoderne Japan? Zeit- und Regionenreisen bietet zum Beispiel die Sammlung von radioooo.com an. Echtes Radio in Echtzeit gibt’s auf radio.garden, wo man sich auf so banale wie faszinierende Weise durch den Globus klickt, von Station zu Station. Mein vergleichsweise altmodischer Favorit ist und bleibt die tägliche Sendung von Couleur 3, die früher Tanger-Glasgow hiess und heute Brooklyn-Maputo. Tanger ist eine marokkanische Hafenstadt, Maputo die Hauptstadt von Moçambique, und die Sendung früher wie heute eine tägliche dreistündige Reise durch die Kontinente voller guter neuer und alter Musik. Wobei es selbstverständlich auch vorzügliche Musik von ganz nah gibt. Zum Beispiel von «Jeans for Jesus», die sind gar im gleichen Berner Quartier zuhause wie ich. Und scheinen allerdings auch an Fernweh zu leiden. Ihre neue Single heisst «Weit weg».

Playlist: Meine Lieblingslieder des Monats


4.  «Die einen fürchten sich vor Überfremdung, die anderen vor der Klimakatastrophe, die einen vor Pandemien, die anderen vor der Gesundheitsdiktatur: Fest steht, dass alle Angst haben und dabei meinen, dass nur die eigene Angst die richtige ist.»

Juli Zeh in ihrem neuen Roman «Über Menschen» (2021)

Die tolle deutsche Autorin Juli Zeh hat ein tolles neues Buch geschrieben. Der Roman handelt von der linksliberal sozialisierten Dora, die von Berlin nach Bracken zieht, mitten in die Provinz, mitten in der Pandemie. Corona ist in der Literatur angekommen, und das liest sich im ersten Moment etwas widerwillig – selbst in der Fiktion hat man also keine Ruhe mehr vor dem Thema. Doch dann erlebe ich dieses jubelnde Gefühl des Verstandenwerdens, das einen erfasst, wenn eine fremde Stimme eine eigene Haltung in so klare und schöne Worte fasst, wie man es selbst noch nicht geschafft hatte. Wobei die eigene Haltung in diesem Fall vor allem darin besteht, sich von zu eindeutigen Haltungen zu distanzieren. Doras neuer Nachbar ist ein Nazi, ihr Ex-Freund ein Klimaaktivist, die Pandemie treibt die Spaltung der Gesellschaft voran, und Dora wundert sich in ihrer Lethargie, wieso partout keiner den anderen verstehen will. Dabei wärs doch recht einfach: Die Welt ist komplex, es gibt keine eindimensionalen Zusammenhänge, Handlungen und Haltungen entstehen aus Gefühlen und Erfahrungen, und die eigenen sind nicht mehr wert als die anderen. Oder hat da jemand eine andere Haltung?


PS.

Newsmeldung des Monats, gelesen auf tagesanzeiger.ch «Emma Watson meldet sich auf Twitter zurück». Die Frage ist nur: Wo ist der Bus? Der mit den Menschen, die das interessiert?

* Pierre Hagmann war erster Chefredaktor von KOLT, stammt aus Olten und blickt heute von Bern auf die schöne, komische Welt.


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