Die Mitte und die Pflanzenzukünfte
Pflanzenzukünfte als Retrozukünfte
Entlang der Bahnstrecke Aarau-Olten gibt es so etliche nicht mehr genutzte Industriebauten und Werkstätten. Was, wenn die Mitte diese Reste alter Zeiten nutzen würde, um an der Zukunft zu arbeiten? Sie könnte diese Bauten und Brachen zu Zukunftslaboren umfunktionieren – und für die vorbeifahrenden Passagiere auf Plakaten und mit riesigen QR-Codes illustrieren, woran man gerade tüftelt. Zum Beispiel an Pflanzenzukünften, also an Zukünften, für die und in denen die Pflanzen eine zentrale Rolle spielen. Es handelt sich eigentlich um Retrozukünfte. Angesichts der erwarteten Bevölkerungsexplosion machte man sich bereits in den 1950er Jahren intensiv Gedanken darüber, welche Rolle die Pflanzen und die sie umgebenden Pilze als Textilien, Nahrungsquelle und Grundlage von neuen Medikamenten einst spielen könnten. Freilich wurden diese Zukünfte der Lebensreformerinnen und Botaniker vom viel mächtigeren Atomzeitalter der Physikerinnen überdeckt.
Algen stopfen den Bauch
Die Futuristen der 1950er erkannten das Potenzial der 4000 Algenarten, um die Bäuche einer global wachsenden Bevölkerung zu stopfen. Mit Chlorella, einer Gattung von Süsswasseralgen, erhoffte man sich, – gerade im Vergleich zur Sojabohne – zahlreiche Menschen ernähren und dabei noch viel mehr Proteine ernten zu können. Denn Algen wachsen zehnmal schneller als andere Nutzpflanzen, zudem binden sie dreimal so viel CO2. Die Mitte könnte also in, auf und unter ihren leerstehenden Fabrik- und Werkstattgebäuden riesige Algentanks aufstellen. Dabei geht es nicht nur darum, an Algen und mit ihnen an Algensnacks, Algensirup, Algengemüse und Algendesserts zu pröbeln. Genauso wichtig ist die Diskussion, wie wir uns in Zukunft ernähren. Uns weiterhin mit so viel tierischen Proteinen zu ernähren, ist aufgrund der Treibhausgas-Emissionen, der Gefahr von neuen Zoonosen und der Abholzung von Regenwäldern – vor allem für die Produktion von Tierfutter – keine Option.
Löwenzahn gibt Gummi ohne Erdöl
Eine zweite Pflanze, die für die Zukunft der Mitte interessant sein könnte, ist der Löwenzahn. In den 1950er Jahren wollte man wissen, ob man – wie die Russen aus der Wurzel des russischen Löwenzahns Taraxacum Kok Saghyz – Kautschuk herstellen konnte. Hintergrund waren die in den Weltkriegen aufgetretenen Lieferengpässe von Kautschuk beziehungsweise die sichtbar gewordenen Abhängigkeiten von asiatischen Ländern. Damals gab man die Pläne auf. Heute könnte der Löwenzahngummi deshalb wieder zum Thema werden, weil er einen Beitrag zum postkarbonischen Zeitalter leisten würde. In diesem verabschieden wir uns vom Erdöl, verzichten auf Plastik, vermeiden Mikroplastik und suchen nach Alternativen, die kreislaufgerechter sind. Aus den Löwenzahnfeldern auf den Dächern und Brachen der Industriebauten könnte man zudem Tierfutter und Salat und aus überschüssigen Wurzeln Kaffee herstellen.
Bäume als Wunderwaffe der Zukunft
Retromässig klingt auch die letzte Idee, um die Industriehallen, deren Brachen und Gärten entlang der Zugstrecken Aarau-Olten, Olten-Zofingen oder Olten-Liestal für Innovationsleuchttürme der Mitte zu nutzen. Man könnte ganz einfach möglichst viele Bäume pflanzen. Diese leisten nicht nur einen Beitrag, um CO2 zu binden, über die Zeit generieren sie auch einen sehr wertvollen Rohstoff: Holz. Trendforscherinnen werden nicht müde, darüber zu berichten, warum wir in Zukunft wieder mehr mit Holz bauen werden. Beim Wohnen und Arbeiten vermittelt es uns ein Gefühl der Geborgenheit und es ist umweltfreundlicher als Zement. Zudem umgeht es die Knappheit von Sand. Gegenwärtig konsumiert die Welt jährlich 50 Milliarden Tonnen davon, wobei Wüstensand die falsche Konsistenz zum Bauen hat. Auch das örtliche AKW und seine Sicherheitszone könnten wir mit Bäumen ersetzen. Ingenieurinnen tüfteln daran, einst mit den im Wind schwingenden Bäumen Strom zu produzieren.
Die Mitte – was meine ich damit?
Meine ganz persönliche Mitte liegt in der Nähe meiner beiden schwarzen Katzen, meines Schlaf- und Schreibzimmers – und die befinden sich in Dulliken. Zu dieser Mitte gehört auch der Bahnhof Olten, der mich vom elften Gleis nach Bern, vom siebten nach Zürich, vom zwölften nach Luzern und vom zehnten nach Basel führt. Diese Mitte liegt in Zwischenräumen. Es ist ein Viereck mit den Ecken «Lenzburg», «Liestal», «Sursee» und dem Moment, wo ich auf der Neubahnstrecke Richtung Bern in den ersten Tunnel eintauche.
Welchen Innovationsleuchttum siehst du für unsere Region?