«Die Sehnsucht nach Berieselung finde ich anstrengend. Wir versuchen darum, die Spielfreude zu kitzeln»
Sie hatte am Telefon angekündigt, was uns erwartet: «Der Eingang ist etwas Boheme, dann kommt die Fata Morgana.» Ein Backsteinbau. Ursprünglich eine Hemdenfabrik aus der ersten Hälfte das 20. Jahrhunderts. Drinnen leuchtet das Tanzstudio in beigen Farben. Wer den Raum betritt, möchte tatsächlich glauben, in eine kleine Traumwelt einzutauchen. Oder in eine Zeitmaschine, die einen in die rauschenden Zwanzigerjahre des Swings versetzt. Kurz: ein Raum, dem eine scheinbar unerschöpfliche Energie innewohnt. Und diese muss sich auf die Hausherrin übertragen haben.
Ursula Berger begrüsst herzhaft, mit ihrem Lachen, das wie ein Freudenjubel durch den Saal hallt. Oltens Grande Dame des Tanzes wirkt nimmermüde. Aber wie sie erzählt, ist die Pandemie auch an ihr nicht spurlos vorbeigezogen. Eben kam sie aus Paris heim, ihrer zweiten Heimat des Herzens. Erstmals seit zwei Jahren kehrte sie an den Ort zurück, der ihr viel Kraft und Inspiration gibt.
Dort habe sie die Aufbruchstimmung gespürt. «Die Künstler haben den Mut, etwas aus dem negativen Erlebnis zu machen», sagt die 71-Jährige. In einer Vorstellung erlebte sie, wie eine Tanzgruppe am Ende des Stücks rausströmte und die Menschen im Saal umarmte. «Alle weinten – alle waren so berührt, dies wieder zu erleben.» Mit dieser Emotion ist sie heimgekehrt. Mit der Kraft, die aufgeschobenen 25. Oltner Tanztage doch noch auf die Bühne zu bringen. Ein Jubiläum, das viel über die Schaffenskraft von Ursula Berger aussagt. Woher diese Kraft? Sie führte uns durch ihre kleine Oltner Fata Morgana und erzählte, wie sie ihre Inspirationsquellen anzapft.
Wie fühlst du dich momentan?
Ich bin sehr inspiriert und beseelt. Ich habe gesehen, dass alle, die sich mit Kunst befassen, Kraft aus dieser Zeit schöpfen. Dass sie nicht aufgeben. Die Energie des Tanzes – das Stück, das ich in Paris erleben durfte, hat mir gezeigt, dass wir mit unseren Gefühlen arbeiten können, ohne dass es zum plumpen Narrativ wird. Ein Flow entsteht, eine Lösung, in der du weitergehen kannst. Deshalb freue mich ich auf die Tanztage. Endlich.
Wenn du auf die Bühne stehen würdest, wie würde die Choreographie aussehen?
Was ich mache, sind Wellen, es ist der Raum. Die Schwerkraft, das Fliegen. Uns verbinden, mit dem, was im Raum ist. Und die Freiheit. Freiheit! Eine Sehnsucht nach Weite, die wir jetzt alle zumindest teilweise wieder erobert haben. (lacht)
Du sagtest, deine physische Inspirationsquelle sind jene Dinge, die du von unterwegs aufnimmst.
Oder wenn ich selbst tanze. Die Kraft des Tanzes ist, was wir aufnehmen und in Energie umwandeln. Wenn die Nachrichten nur negativ sind, versuchen wir, einen anderen Flow zu entwickeln. Daraus entsteht eine Vision, die als Kontext für das Programm der Tanztage steht. Die Frage, was wir eigentlich mit unserem Programm aussagen wollen.
Ist es ein Manko unserer Gesellschaft, dass sie sich zu wenig der Suche nach Inspiration hingibt?
Wir treffen viele Menschen, die sagen, sie verstehen nicht, was wir machen. Für den Tanz musst du Spielfreude haben. Ob als Zuschauerin, als Künstlerin oder Kuratorin. Du musst loslassen können. Im Nichts entwickelt sich etwas Magisches und der Horizont öffnet sich uns. Wir müssen uns erlauben, in den Flow zu kommen. Das ist, wie wenn man sich im Kindergarten den Sinnen hingibt. Oder beim Räuber und Poli auf dem Pausenplatz. Nicht immer alles mit den beiden Hirnhälften analysieren zu wollen, braucht Überwindung. Dass wir mit dem Ohr, dem Auge, dem Rücken wahrnehmen – als ganzes Wesen.
Und Scheitern gehört dazu.
Wenn’s mal nicht gefällt, so what?! Menschen, die sagen: «Das war ja schrecklich!», erzählen noch in zehn Jahren davon. In einer Zeit, die von Negativschlagzeilen geprägt ist, spüre ich, dass die Menschen weniger experimentierfreudig sind. Die Produktion muss nur noch schön sein. Die Sehnsucht nach Berieselung finde ich anstrengend. Wir versuchen darum, die Spielfreude zu kitzeln. Momentan befasse ich mich mit Wolken. Ein Künstlerkollege aus Paris hat mir ein Leporello gemacht, eine Art Anleitung, um Wolken zu bauen. Ich bin drauflos gestürzt und habe gedacht: Das ist, was ich mache. Natürlich ist eine Ratio dahinter. Aber zuerst kommt die kreative Phase. Wenn wir es kuratieren, bauen wir einen Kontext, für den wir die Hirnhälften aktivieren. Wichtig ist, zuerst die Kontrolle aufzugeben.
Der zeitgenössische Tanz nimmt die ständige Veränderung, die neuen Strömungen auf. Wo steht er aktuell?
Das Problem der Gesellschaft ist, dass wir immer zuerst ein Bild oder einen Text verinnerlichen wollen. Das ist gefährlich. Alles, was wir machen, ist der Veränderung ausgesetzt. Darum ist das, was der Choreograph in Paris umsetzte, indem er die Menschen mit Maske sich umarmen liess, eigentlich ein gefährlich kitschiges Element. Aber es war so grossartig gemacht, dass es nicht peinlich war. So wird eine Produktion zu Kunst.
Was machte es so grossartig?
Die Tänzer kamen aus allen Türen auf sämtlichen Stockwerken. Es hätte auch beschämend sein können. Corona ist ja fast zum Tabu geworden. Wenn du diesen Akt als Kunstwerk behaupten kannst, hast du es geschafft. Viele versagen dabei. Die Tanzschaffenden spüren nach der grossen Lücke eine enorme Kreationskraft. Auf einmal kommt zu viel. Im Moment entsteht fast ein Stau. Wir müssen zusehen, dass ein Flow entsteht, auch wenn die Hektik bleibt.
Kommen nun die Roaring Twenties?
Es wäre schön, wenn jedes Mal noch fünfzig Menschen vor der Schützi Schlange stehen. Meine Sehnsucht ist, dass wir uns wieder mehr anfassen können ohne Angst. Dass wir dabei nicht jedes Mal ein Sterillium-Bad nehmen müssen. Ich bin ein taktiler Mensch. Im Tanz arbeiten wir gerne mit Berührung – mit Körperkontakt. Wir fliegen, fallen und erobern mit der Tanztechnik neue Körperräume.
Wann ermüdet dich die Suche nach Inspiration?
Wenn ich Angst spüre. Die Existenzangst, die Angst vor Corona. Die Regeln. In Amerika musste ich oft hören: «It’s not the rule, lady.» Wir brauchen ja Regeln, aber Verbote, die von Angst genährt sind, manipulieren uns. Das bremst mich.
Wo findest du Ruhepausen, schöpfst du neue Kraft?
Das kann ein Bad sein. Es kann das Zusammensein mit der Familie oder Freunden sein. Oder wenn ich vierzehn Tage für mich alleine nach Paris reisen kann. Ich benötige ab und zu Einsamkeit, aber kann diese auch in einer Stadt finden. Die Eindrücke als Mensch aufnehmen zu können, ist für mich wie ein Biotop. Alleine Aufführungen anschauen gehen oder im Café Menschen beobachten, das inspiriert mich.
Seit über vierzig Jahren bist du im Tanz tätig. Warum gehen dir die Ideen nicht aus?
Improvisation. Ich glaube, den zeitgenössischen Geist verinnerlicht zu haben. «Never stop moving» – einfach weitertanzen – weiterbewegen und im Fluss bleiben. Solange ich mich mit dem Tanz auseinandersetze, bleibe ich dran. Was war vorher, was jetzt, was könnte kommen? Was ist die Herausforderung in der heutigen Zeit?
Warum veränderst du dich weniger schnell?
Ich versuche, täglich zu trainieren. Am besten geht es mir, wenn ich jeden Tag tanze. Am besten den ganzen Tag. (lacht) Was mich fasziniert – du kannst nach Indien gehen oder wohin du willst: Je mehr wir in einer hybriden Welt leben, desto wichtiger ist der Körper und seine Ausdruckskraft. Desto mehr treffen wir uns auf dieser Ebene. Du spürst, wenn jemand auch körperlich kommunizieren kann.
Im Tanz drückst du deine Emotion aus. Wie intim ist der Tanz für dich?
Er bleibt eine Kunstform, wie etwa die Malerei. Das Verständnis, was «intim» ist, hat sich seit den 1920er- oder 30er-Jahren verändert. Im zeitgenössischen Tanz ist die Bewegung in der Wirbelsäule zentral. Zur Kunst wird es, wenn du dich der Frage stellst, wie du eine Botschaft umsetzen kannst. Da kommt der Intellekt, die Ratio ins Spiel, welches zu einem wundersamen, entdeckungsreichen Ganzen verwebt und interpretiert wird.
Sind dein Körper und Geist abgesehen von den Alterserscheinungen über die vierzig Jahre gleich fit geblieben?
Neulich habe ich mich erstmals an der Hüfte leicht verletzt. Trotzdem funktioniert mein Körper noch ganz gut. Das hat damit zu tun, dass wir versuchen, beim Tanz die Wirbelsäule so beweglich zu lassen, als wären wir Kleinkinder geblieben. Das ist sehr gesund und macht den Körper geschmeidig, weil es nicht mit falscher Kraft geschieht.
Und der Geist?
Mein Geist ist quirlig, offen und schnell geblieben. Manchmal fast zu schnell, dann muss ich mir selbst einreden, das Tempo zu drosseln. Mit dem Tanz bleibst du wach. Wenn ich Tanzstunden nehme, ist mein Jahrgang nicht ersichtlich. Hoffentlich.
Wie hat sich dein Blick für Ästhetik verändert?
Schönheit ist für mich nicht Schönheit. Ich sehe als Schönheit zum Beispiel die Durchlässigkeit der Wirbelsäule und des ganzen Körpers. Tanzstücke sind nicht immer schön. Aber mit performativem Blick kann ich in der Hässlichkeit was Schönes sehen. Die Tänzerinnen bringen mit ihrem Körper Unausgesprochenes, Emotionen und abstrakte Denkprozesse zum Ausdruck. Als Kunstform.
Alle Infos zu den Oltner Tanztagen: www.tanzinolten.ch
Wie kommst du in den Fluss, den schwerelosen Zustand, wie Ursula Berger ihn beschreibt?