Ein kleiner Bruder für die Schützi
Graue Schwaden hängen am schwarzen Himmel, der Asphalt ist feucht, die Strasse leer und die Lichter der Büros in den benachbarten Gebäuden sind erloschen, als wir uns hinter dem Coop City, im Hinterhof zwischen Kloster und Shishabar, zur Baustellenbesichtigung treffen. Nur ein heller Lichtstreifen, der die Ritzen eines zugeklebten Schaufensters markiert, kündigt an, dass hier noch einer am Arbeiten ist. Als die Tür an der Römerstrasse 7 sich öffnet, legt Christoph Birrer den Spachtel aus seiner Hand, mit dem es dem abbröckelnden Verputz in der Foyerecke gerade an den Kragen geht. Er dreht das Stativ des Baustellenscheinwerfers ein halbes Mal um die eigene Achse, sodass die Augen des Besuchers wieder sehen können.
Was derzeit eine grosse Baustelle ist, soll sich in den kommenden Monaten in ein kleines, schmuckes Kulturlokal für Olten verwandeln. Der Name steht bereits fest. KultA möchte das Lokal getauft werden, was so viel wie Goldstück und Schatz auf Finnisch bedeute, wie Marielle Studer verrät. Für sie und die anderen Mitglieder des Vereins «Aktion Platz für alle» (APA), die hinter dem Projekt stehen, ist es dann auch ein wertvoller Schatz, den sie hier mit ihren eigenen Händen und mit fachmännischer Unterstützung in den nächsten Wochen und Monaten heben und für ein möglichst grosses und vielfältiges Publikum zugänglich machen wollen.
Bei den Räumlichkeiten handelt es sich um das ehemalige Kino Camera, von 1981 bis 2006 Teil der Oltner Kinolandschaft und von der Familie Schibli betrieben. Besitzerin der Immobilie ist die Suva. Wie APA erfahren hat, wurden die Räumlichkeiten zuletzt von einer freikirchlichen Gemeinschaft genutzt. Im Gebäude haben sich die neuen Mieter mit einem Brief angekündigt. Aufgrund der aktuellen Lage wurde auf eine persönliche Vorstellungsrunde verzichtet. Man freue sich aber, spätestens bei der Eröffnung die Nachbarschaft kennenzulernen, sagt Studer.
«Leider sind die Kinosessel weg – bis auf einen, den wir uns krallen konnten.»
Marielle Studer
Die Treppenstufen hinab führt Birrer ins Untergeschoss, wo aus dem ehemaligen Kinosaal ein Konzertsaal für maximal hundert Personen entstehen soll. Die mit schwarzem Filz verkleideten Wände, der kleine Projektionsraum mit Guckfenstern im Rücken des kleinen Saals und der schräg abfallende Boden lassen erahnen, wie sich hier auf der Leinwand einst Hollywoods Helden die Klinke in die Hand gaben und der Duft von Popcorn in der Luft lag. «Leider sind die Kinosessel weg – bis auf einen, den wir uns krallen konnten», sagt Studer und zeigt mit ihrem Fuss auf die von der Bestuhlung verbliebenen Dübellöcher im Beton.
Wo sich das Kinopublikum einst auf seinen Sitzen fläzte und ein Teppichboden für wohnliches Ambiente sorgte, wartet nun der nackte Beton auf seine künftige Bestimmung. Eigentlich sei geplant gewesen, den Saal in dessen ursprünglicher Form zu belassen. «Wir haben aber schnell gemerkt, dass das Gefälle zu stark ist, um dem Publikum einen entspannten Konzertabend bieten zu können», sagt Studer. Deshalb soll der Boden begradigt werden. Dazu werden die Zargenelemente der alten Schützibühne verwendet, welche die Leute von APA zu einem fairen Preis kaufen konnten, wie Michael Suter erzählt, der sich bei APA unter anderem um die Vereinsfinanzen kümmert.
«Wir wollen kein Luxusobjekt, es soll aber auch kein Gebastel werden.»
Marielle Studer
Aus eigener Erfahrung weiss Suter, wie Corona die Veranstaltungsbranche in den letzten Monaten durchgeschüttelt hat. Infolge des ersten Shutdowns seien ihm als selbstständiger Lichttechniker sämtliche Aufträge weggebrochen. Er habe die Zeit genutzt, um einem befreundeten Winzer im Wallis bei der Traubenernte zu helfen. So ist heute schon klar, welcher Wein im KultA einst auf der Karte zu finden sein wird.
Während die Leute von APA gewisse Umbauarbeiten selbst in die Hand nehmen wollen, sind sie bei anderen Vorhaben auf professionelle Unterstützung angewiesen. So soll die geplante akustische Decke im Konzertsaal durch Spezialisten einer Trockenbaufirma eingebaut werden, wie Birrer erklärt. «Wir wollen kein Luxusobjekt, es soll aber auch kein Gebastel werden», meint Studer. Man wolle die Dinge nicht zweimal in die Hand nehmen müssen, was schlussendlich teurer komme.
Keine Debütanten
Wie Birrer ist auch Studer beruflich beim Luzerner Theater tätig. Als Produktionsassistentin arbeitet die gelernte Hochbauzeichnerin und Floristin seit drei Jahren Hand in Hand mit Bühnenbildnern. Sie plant und zeichnet am Bildschirm Bühnenpläne, bevor die Kulissen in den theatereigenen Werkstätten wie der Schreinerei und Malerei Form und Farbe annehmen. Auch Spezialaufträge, für die sich keine spezifische Abteilung verantwortlich fühlt, übernimmt Studer. «Ich bau auch mal einen Wasserhahn in ein Bühnenbild, wenn es sein muss.» Dazu kommt viel Organisationsarbeit, eine weitere Leidenschaft, die sie im Beruf ausleben kann.
Studer erinnert sich an die Zeit vor zwei Jahren, als sie bei APA richtig eingestiegen ist. Sie meldete sich auf einen Hilferuf von Christoph Birrer auf Facebook. «Über viele Jahre hat er vieles selbst gemanagt und das meiste aus dem Kopf organisiert», erzählt Studer. «Als ich Chrigu zugesagt habe, ihm zu helfen, hat er mir zwei Papiertaschen mit Unterlagen in die Hand gedrückt», erzählt Studer und lacht. Um ihren Kollegen langfristig zu entlasten, hat sich APA in den vergangenen zwei Jahren reorganisiert und professionalisiert. Es wurden Ressorts geschaffen und die Zuständigkeiten auf die vierzehn Mitglieder verteilt.
«Heute wissen wir, dass es ganz ohne Konsumation nicht geht.»
Michael Suter
Erstmals in der 16-jährigen Vereinsgeschichte wurden ein Businessplan und ein Finanzplan aufgestellt. Ausserdem gründeten die Kulturmacher eine Interessensgemeinschaft. «Wir sind älter geworden, haben unsere Erfahrungen in der Eventbranche gesammelt und möchten diese jetzt in unser eigenes Projekt einfliessen lassen», meint Suter, der zusammen mit Birrer zu den Gründungsmitgliedern von APA zählt. Grundidee vor sechzehn Jahren war es, in Olten eine autonom geführte Lokalität ohne Konsumationszwang zu schaffen. «Heute wissen wir, dass es ganz ohne Konsumation nicht geht», sagt Suter. Die Getränkepreise an der künftigen Bar sollen dennoch moderat ausfallen, damit grundsätzlich alle sich einen Besuch im KultA leisten können. «Vom Krawattenträger bis zum Hippie», wie Birrer das angestrebte Zielpublikum in eine knackige Formel fasst.
Die Bar soll nur dann offen haben, wenn eine Veranstaltung stattfindet. APA setzt nicht auf Laufkundschaft, sondern auf Gäste, die ins KultA kommen wegen eines Konzerts, Theaters oder einer anderen Veranstaltung. «Wenn du einen Liedermacherabend organisierst, kommt das Publikum, um die Texte zu hören», sagt Studer. In einer Bar, wo sich Konzertgängerinnen mit jenem Publikum mischen, das nur eins trinken will, kann es zu Konflikten kommen. Diese Erfahrung hätten sie erst kürzlich wieder im Galicia gemacht, wo ein paar grölende Gestalten nicht nur das Konzertpublikum gestört hatten, sondern auch den Künstler nervten. «Als Veranstalter und Dienstleister willst du natürlich niemanden aus der Bar kicken. Aber wie soll man in einer solchen Situation reagieren?», sagt Studer. Zudem bietet ein eigenes Vereinslokal den Vorteil, auch einmal spontan etwas organisieren zu können, was ganz dem Geschmack von Studer und Co. entspricht.
Ergänzung statt Konkurrenz
Die Lokalität sei über ein Jahr lang im Internet ausgeschrieben gewesen. Für ein Verkaufsgeschäft ist die Lage im Hinterhof denkbar ungünstig. Zu versteckt. Für ein Kulturlokal aber, das nicht auf spontane Kunden angewiesen ist, könnte sie viel besser nicht sein. Mitten im Stadtzentrum, nicht weit vom Bahnhof entfernt, wenig direkte Anwohnerinnen, Parkplätze rund ums Haus. Hinzu kommt, dass die Räumlichkeiten in einem soliden Zustand sind und als ehemaliges Kino bereits eine Geschichte als Veranstaltungsort haben. Nichtsdestotrotz muss APA ein Baugesuch einreichen für die Umnutzung eines Kinos zu einem Kultur- und Konzertlokal. Wird dieses bewilligt, lässt sich das Lokal mit relativ wenig Aufwand für die Bedürfnisse von APA umgestalten. Der Bühnenbereich, wo später Musikerinnen und andere Künstler sich dem Publikum präsentieren sollen, ist bereits mit rotem Klebeband markiert. Studer, die schon mit ihrem Vater zum Filmschauen ins Camera kam, kann sich keinen besseren Ort vorstellen. Über ihre Motivation sagt sie: «Ich liebe es, zu planen und zu organisieren und dann am Abend der Veranstaltung zu sehen, wie die Leute sich vergnügen.»
Das KultA soll niemanden konkurrenzieren, sondern eine Ergänzung sein zum bestehenden kulturellen Angebot in Olten. Das Lokal lässt sich am ehesten mit der Schützi vergleichen. Aber einige Hausnummern kleiner und ohne finanzielle Unterstützung durch die öffentliche Hand. Grundgedanke bei den APA-Leuten bleibt die Unabhängigkeit. «Subventionen sollen jene Kulturleute erhalten, die von ihrer Arbeit leben müssen», findet Studer. Das KultA bleibe ein Hobby für die APA-Mitglieder, die alle neben ihrem Kulturengagement einer Arbeit nachgehen.
Der Mietzins für die Räumlichkeiten wird über einen Mitgliederbeitrag finanziert. Das Geld für den nötigen Umbau und die technische Infrastruktur soll mit dem laufenden Crowdfunding gesammelt werden. Insgesamt 50’000 Franken sind nötig, um das Lokal auf Vordermann zu bringen. Die Macherinnen sind zuversichtlich, dieses Ziel zu erreichen, trotzdem haben sie sich schon einmal ein paar Glücklose gekauft. Sicher ist sicher. Nach der Eröffnung, die für kommenden Frühling geplant ist, soll das KultA so schnell wie möglich selbsttragend werden, so der ehrgeizige Plan. Von Corona wollen sich die Initianten nicht ausbremsen lassen. Klar bereite die derzeitige Situation ein wenig Bauchschmerzen und man mache sich so seine Gedanken, aber sie würden weitermachen, komme, was wolle, sagt Studer. «Wir freuen uns auf die Eröffnung, und wenn wir am Anfang auch nur zehn Gäste begrüssen dürfen». Für sie und die anderen sei das KultA wie ein Baby. Dazu passt, dass der Wickeltisch für den kleinen Bruder der Schützi immer noch da ist. Diesen haben die Vormieter dankenswerterweise zurückgelassen.
Welche Bühne in der Region besuchst du, sobald man wieder in den Ausgang darf?