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«Es geht auch lustvoll!»

In Fulenbach will Angela Müller eine Schule gründen, die Spass macht. Ein Gespräch über Bildung, Zwang und Selbstwert.
24. März 2022
Text: Jana Schmid, Fotografie: Timo Orubolo

Als Angela Müller Zumbrunn ihren jüngsten Sohn hinter dem Sofa hervorzerren musste, um ihn in den Kindergarten zu bringen, fragte sie sich, mit welchem Recht ein Kind in eine Bildungsinstitution gedrängt werden darf.

Und, ob Lernen nicht auch ohne Zwang geht. Mit den schulbedingten Stresssymptomen ihrer Söhne wuchs auch Angelas Interesse an Alternativen zum vorherrschenden Bildungssystem. Bis sie sich schliesslich sagte: «Ich gründe eine Schule.» 

Das war letzten Herbst. Heute steht der Businessplan, das Grundkonzept, das Logo. Interessierte Eltern, die das Angebot gerne für ihre Kinder nutzen möchten, gibt es genügend. 

Oft war es Mitternacht, wenn Angela Müller in den vergangenen Monaten die letzte E-Mail absendete, den Laptop ausschaltete, ihre Bücher wegräumte. Sie ist Mutter, Imkerin, studierte Sozialarbeiterin und Erziehungswissenschaftlerin. Früher war sie Personalchefin und Triathletin. Jetzt macht sie neben der Planung ihrer Schule eine Ausbildung in Montessori-Pädagogik. 

Was noch fehlt, damit es losgehen kann: ein Schulgebäude, eine Lehrperson. Der «Lernfreiraum» soll diesen Sommer sein Schulzimmer für Kinder im Kindergarten- und Primarschulalter öffnen, wenn alles gut kommt. Das erzählt Angela Müller, als sie uns in Olten besucht. Eine Privatschule in Fulenbach oder der nahen Umgebung, gestaltet als Tagesschule für vorerst rund fünfzehn Kinder. Mit einer Grundhaltung, über die wir mehr wissen wollen. 

Angela Müller, was läuft falsch im schweizerischen Bildungssystem?

Ich weiss nicht, ob etwas falsch läuft. Ich will nicht generalisieren. Aber es gibt Aspekte, die mir nicht entsprechen. Einer davon ist, dass alle Kinder zum selben Zeitpunkt denselben Stoff vorgesetzt bekommen. 

Was ist daran problematisch?

Es ist erforscht, dass bei Kindern Entwicklungsdifferenzen von bis zu vier Jahren bestehen können. Das heisst, dass eine 7-Jährige beim Lesen auf dem Stand einer durchschnittlichen 4-Jährigen sein kann, beim Rechnen aber schon viel weiter. Es gibt hier enorme Unterschiede bei verschiedenen Kindern. Und man weiss auch, dass sich das Gehirn Schritt für Schritt entwickelt und die verschiedenen Zentren unterschiedlich schnell. Deshalb macht es keinen Sinn, jemanden zum Lesen zu bringen, dessen Gehirn noch nicht bereit ist dazu – sowohl entwicklungstechnisch als auch von der Motivation her. Kinder spüren sehr gut, was bei ihnen ansteht. Darum ist es nicht realistisch, alle zur gleichen Zeit durch dieselben Stoffe durchzudrängen. 

Kindern werden in der Schule also Inhalte vorgesetzt, für die sie noch nicht bereit sind. Wie kann das verhindert werden?

Mit altersdurchmischten Lerngruppen. Ich möchte das an meiner Schule umsetzen. Es soll Lern-Inputs geben, und die Kinder, die sich interessieren, können teilnehmen. Egal, wie alt. Daran finde ich auch schön, dass ältere oder erfahrenere Kinder dann den jüngeren Dinge zeigen können. Denn wer Gelerntes in eigenen Worten wiedergibt und es jemand anderem erklärt, festigt auch sein eigenes Wissen. Zwei Fliegen auf einen Streich.

Blockiert das die älteren Kinder nicht in ihrem Fortschritt?

Nein. Wichtig ist, dass es auf Freiwilligkeit beruht. Das Kind muss gefragt werden, ob es einem anderen weiterhelfen will. Da darf kein Zwang dabei sein – der ist im Allgemeinen ein Problem. Mit Zwang entsteht Druck, und mit dem Druck schwindet die Lernmotivation und die Lernfähigkeit. 

Damit wären wir bei einem weiteren deiner Kritikpunkte am Bildungssystem – dem Zwang?

Ja, ich habe Mühe damit. Sowohl mit dem Zwang als auch mit dem Bewertungssystem. Aber zuerst zum Zwang: Wenn ein Kind einen bestimmten Inhalt zu einem bestimmten Zeitpunkt lernen muss, wenn extern entschieden wird, wie viel es lernen muss und wann eine Pause angemessen ist, dann gefährdet das sowohl die intrinsische Lernmotivation als auch die Fähigkeit des Menschen, seine eigenen Grenzen zu spüren und wahrzunehmen. 

Ist der Mensch denn nicht per se faul? Wenn man ein Kind nur dann und nur das lernen lässt, wann und was es will – lernt es dann, was es braucht, um in der Gesellschaft zu existieren?

Kinder lernen ja auch von alleine sprechen. Es ist meine Grundhaltung, dass der Mensch, wenn er sich wirklich für etwas interessiert, auch gerne lernt. Ich selbst bin ein gutes Beispiel: Ich will jetzt eine Schule gründen. Und plötzlich setze ich mich mit Themen auseinander, die mich noch nie interessiert haben in meinem bisherigen Leben: Selbständigkeit, Firmenformen, Umnutzungsgesuche. Und das Beste: Es macht mir Spass, weil ich ein übergeordnetes Ziel habe, das ich erreichen will. Ich glaube, so funktionieren Menschen – und Kinder insbesondere, weil sie eine gewisse Selbständigkeit erreichen wollen. Und dazu müssen sie Verschiedenes lernen: Du musst lesen können, damit du alleine Busfahren kannst, und du brauchst Grundkenntnisse im Rechnen, um dir etwas zu kaufen. 

Deinen Sohn musstest du zwingen, in den Kindergarten zu gehen. Wird das an deiner Schule anders sein? Dürfen die Kinder zu Hause bleiben, wenn sie nicht in die Schule wollen?

Im Idealfall werden wir ein Umfeld anbieten, in dem sich die Kinder so wohlfühlen, dass sie auch kommen wollen und wirklich Lust haben darauf. Ich würde sicher kein Kind in die Schule zwingen. Aber ich möchte einen Raum schaffen, den die Kinder mit Freude aufsuchen, weil sie sich ernst genommen und inspiriert fühlen. Aber natürlich kann es immer noch sein, dass ein Kind nicht kommen möchte. Da müsste man einerseits genau hinschauen, woran es liegt. Und andererseits ist es auch wichtig zu sehen, dass meine Schule nicht für alle Kinder die richtige Lösung sein wird. Das ist ganz normal – Menschen sind unterschiedlich, und das ist auch gut so.

Du hast vorher auch das Bewertungssystem angesprochen.

Ja, auch das sehe ich kritisch. Es wird Kindern damit unter Umständen suggeriert, dass sie schlecht sind, obwohl das nicht stimmt. Sie sind vielleicht einfach noch nicht so weit oder nicht so schnell. Oder ihre Fähigkeiten wurden schlicht nicht getestet. 

Zum Beispiel?

Mein Sohn hatte eine 3.5 in einem Test, der zwei Seiten lang war. Die erste Seite hatte er perfekt gelöst, und für die zweite Seite hat ihm die Zeit nicht gereicht. Er kam nach Hause und sagte zu mir: «Ich kann das nicht.» Dabei kann er es – nur nicht im geforderten Tempo. Also wird ihm das Gefühl vermittelt, dass er schlecht sei, obwohl das nicht stimmt. Oder ein Kind schreibt schlechte Noten in Deutsch. Das muss nicht heissen, dass es schlecht ist in Deutsch, sondern vielleicht ist es einfach noch nicht so weit, und in zwei Jahren wäre alles gut. Doch die Bewertung setzt Druck auf, und unter Druck können Lernprozesse gar nicht mehr wirklich stattfinden. 

Dann sollte bei Tests nicht auf die Geschwindigkeit geachtet werden.

Ja. Aber auch die unterschiedliche Priorisierung von verschiedenen Fähigkeiten macht mir Mühe. Mathematik, Deutsch, Naturwissenschaften werden viel mehr gewichtet als etwa musische, sportliche, kreative oder technische Fähigkeiten. Auch das gibt Kindern, die ihre Stärken vielleicht dort haben, das Gefühl, sie seien nicht gut genug. 

Wären gar keine Leistungsnachweise die bessere Lösung?

Mir gefällt bei diesem Thema der Ansatz von Maria Montessori gut. Hier wird sehr viel mit Selbstkontrolle gearbeitet. Ein Kind kann zum Beispiel eine Rechnung machen und dann selbst überprüfen, ob es richtig gerechnet hat oder nicht. Das finde ich sehr sinnvoll. Aber auch im Austausch mit den Lehrpersonen finde ich es grundsätzlich nicht falsch, Lernfortschritte sichtbar zu machen. Für die Kinder wie auch für die Eltern kann das hilfreich sein. Aber eben lieber im positiven Sinn, sodass das Kind vermittelt bekommt: «Hier bist du einen Schritt weitergekommen.»

Bist du nicht auch verpflichtet, an einer Schule gewisse Leistungsnachweise vorweisen zu können?

Ich habe die kantonale Vorgabe, mich an den Lehrplan 21 zu halten. Es gibt das Tool «Mirrocco», das auf diesem Lehrplan basiert. Damit können Lernfortschritte sichtbar gemacht werden in Form einer Blume, die langsam wächst. Das gefällt mir sehr gut, weil es Fortschritte positiv darstellt. Aufgrund der Eingaben im Tool kann auch ein Sprachzeugnis generiert werden – also ein Zeugnis in Worten statt in Nummern. 

Wenn all das in der Schulbildung umgesetzt wird – werden daraus bessere Menschen?

Ich habe von meinen Eltern gelernt, dass nichts besser ist als das andere. Es ist einfach alles gut, wie es ist. Aber ja, klar, ich wünsche mir, dass die Menschen sich mehr auf Kooperation und gegenseitige Unterstützung ausrichten. Mehr miteinander statt gegeneinander. Und die Schulbildung hat ja einen enormen Einfluss auf die Wertehaltung der Gesellschaft – und umgekehrt. Womit wir wieder bei der Bewertung wären: Ich glaube, dass damit tendenziell ein ungesunder Konkurrenzkampf gefördert wird. Ein Wettkampf eben, in dem man dem anderen nichts gönnt. Damit hängt auch unsere Definition von Erfolg zusammen. Und, dass so viele von uns Burnouts haben.  

Inwiefern?

Der Leistungsdruck, den teilweise auch Eltern ihren Kindern aufsetzen, der Kampf um gute Noten – das entsteht aus dem fehlenden Vertrauen darin, dass das Kind schon fähig ist und dass alles gut kommt. Und die Definition von Erfolg ist gesellschaftlich ziemlich eng definiert: Du bist erfolgreicher, wenn du Banker oder Anwältin bist, als wenn du Hausfrau und Mutter bist. Ich glaube, erfolgreich muss nicht eine Bankerin sein. Erfolgreich kann auch eine glückliche Reinigungskraft sein.

Wie hängen unsere Burnouts damit zusammen?

Ich glaube, dass uns in der Kindheit abtrainiert wird, auf unsere eigenen Grenzen zu achten. In der Schule ist der Takt sehr stark extern bestimmt: Klar definierte Rhythmen, Pausen nur, wenn Pause für alle ist, weitermachen, auch wenn man müde ist. Damit übt man, auf seine eigenen Gefühle nicht mehr zu hören oder eben darüber hinauszugehen. Diese Haltung, dass man nur unter Druck weiterkommt, dass es «noch niemandem geschadet hat», da bin ich überzeugt: Es geht auch lustvoll. Wirklich. Wenn man etwas gerne macht, dann macht man es meistens auch gut und ist dabei leistungsfähig. Aus der Natur heraus ist Lernen lustvoll, und wenn wir das beibehalten können, glaube ich, geht es uns allen besser. Mit dieser Grundhaltung möchte ich eine Schule gründen – das ist mein kleiner Beitrag an eine bessere Welt. 

Mit einer Privatschule schliesst du Kinder, deren Eltern nicht genügend finanzielle Mittel haben, von dieser Möglichkeit aus. 

Ja – und das ist mein grosser Wertekonflikt. Ich finde das eigentlich nicht in Ordnung. Es wäre natürlich toll, hätte ich Mäzene, sodass Familien mit weniger Einkommen entlastet werden könnten. Und im Idealfall hätte jedes Kind an jeder Schule die Möglichkeit, sich in seinem Tempo entwickeln und lernen zu dürfen mit Spass und Freude und sich Pausen zu nehmen, wenn es welche braucht. 

Eine Privatschule im ländlichen Fulenbach – weshalb dieser Standort?

Ich suche ja auch eine Lösung für meine eigenen Kinder – für die, die wollen. Deshalb wurde mir bewusst, dass es in dieser Region sehr wenige alternative Bildungsangebote gibt. Die Einzugsgebiete von Privatschulen in der Region, etwa in Oensingen, sind gross und die Schulen oft bereits ausgelastet. Und ich fände kurze Schulwege, die die Kinder selbst bewältigen können, eigentlich besser. In Städten ist wahrscheinlich die Nachfrage grösser, aber es gibt auch mehr Angebote von verschiedenen Schulen. Insofern ist der ländliche Standort nicht unbedingt ein Nachteil.

Was braucht es aus deiner Sicht, damit sich auch öffentliche Schulen in die Richtung entwickeln, die du dir wünschst?

Ich bin vernetzt an öffentlichen Schulen und sehe, dass dort sehr viel Arbeit in diese Richtung geschieht. Auch der Lehrplan 21 ist eigentlich eine wunderbare Grundlage, weil er Lernziele in Zyklen darstellt. Es steht und fällt mit der Umsetzung – und die ist je nach Schulleitung sehr unterschiedlich. Ausserdem geschieht gerade ein grosser gesellschaftlicher Wandel, der die klassische Leistungsgesellschaft hinterfragt. Aber öffentliche Institutionen hinken natürlicherweise gesellschaftlichen Entwicklungen, die eher punktuell geschehen, hinterher. 

Dann kommt es doch noch gut mit unserem Bildungssystem?

Ich bin guten Mutes!


Privatschulen – wichtige Alternativen? unerschwinglich und elitär? unnötig? wertvoll? Was denkst du?

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