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Eskalierende Experimente, moderne Barbaren und ein Schmerzparadox

4 Sätze, die mir diesen Monat zu denken gaben: Kulturtipps, Fanhymnen und Neues aus Absurdistan.
3. Mai 2021
Text: Pierre Hagmann*
Still aus dem Musikvideo «S erscht Mol» von Manuel Stahlberger

1. «Sagen Sie all Ihren Freunden, und schreiben Sie es am besten auch in Ihren Artikel: Nie, unter keinen Umständen, soll jemand ein Mobiltelefon benutzen beim Autofahren.»

Thomas Vinterberg in der «Sonntagszeitung» vom 25.04.2021

So endet das Interview von Journalist Matthias Lerf mit dem dänischen Regisseur Thomas Vinterberg. Lerf tut also, was Vinterberg wünscht. Es kommt selten vor, dass ein Interviewer tut, was der Interviewte wünscht, aber es kommt auch selten vor, dass man einen solchen Mann mit einer solchen Geschichte interviewen kann. Eigentlich geht es um «Druk», den neuen Streifen von Vinterberg, der seit 1998 und dem Dogma-Wunder «Festen» auch ausserhalb seiner Heimat eine Filmgrösse ist. Die Dogma-Zeit ist um, doch Vinterberg bleibt ein Meister seines Fachs, mit «Druk» gewann er soeben den Oscar für den besten fremdsprachigen Film. Darin experimentieren vier Lehrer-Freunde (überragend wie immer: Mads Mikkelsen) mit Alkohol gegen die Mid-Life-Krise. Der Mensch, so die (echte) Theorie eines norwegischen Psychiaters, wäre mit einem Grundpegel von 0,5 Promille Alkohol im Blut besser dran. Das Experiment eskaliert, wen wunderts, doch was bleibt, ist die Wucht der Schlussszene. Die gewissermassen dasselbe sagt wie der Schluss des Interviews: Wir begegnen dem Leid mit Hoffnung und Kraft, Aufgeben ist keine Option. Was der Interviewer erst im Verlauf des Gesprächs erfährt: Vinterbergs 19-jährige Tochter ist kurz nach Beginn der «Druk»-Dreharbeiten bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Ein vom Handy abgelenkter Fahrer war in ihr Fahrzeug gekracht.

«Druk»: Ab 6. Mai im Kino


2. «Das Gehirn selber spürt keinen Schmerz.»

Neurochirurg Henry Marsh im Podcast «Confessions of a Brain Surgeon»

Bild von Mykola Vasylechko

Der Mann weiss, wovon er spricht: Henry Marsh operiert seit vierzig Jahren menschliche Gehirne. In diesem englischen Podcast mit dem Titel «Geständnisse eines Neurochirurgen» gibt er eindrückliche Einblicke, die unter die Schädelhaut gehen. Wussten Sie zum Beispiel, dass die Patienten heutzutage während der Hirnoperation wach sind? Damit kann der Operateur besser kontrollieren, was seine Eingriffe für Folgen haben. Zum Beispiel, indem er mit der Patientin spricht. Besonders faszinierend daran ist das Schmerzparadox: Das Gehirn kreiert Schmerz als Antwort auf Stimuli vom restlichen Körper. Wenn ich Schmerzen im Finger spüre, ist es eine Illusion, dass der Schmerz im Finger selbst ist. Das heisst, aller Schmerz ist im Gehirn, das Gehirn selber spürt aber keinen Schmerz. Fürs Öffnen der Schädeldecke verabreicht Marsh seinen Patienten dennoch gerne eine Vollnarkose, weil das Aufbohren extrem laut ist … Mir wärs übrigens lieber umgekehrt: dass das Gehirn selber zwar schmerzempfindlich wäre, aber kein Schmerzempfinden produziert. Dann würde ja auch der Gehirnschmerz nicht schmerzen. Und das ganze Leben wäre wunderbar schmerzlos. Und vielleicht aber, so ganz ohne Warnsignale, etwas kurz.


3. «Und denn isch irgendwenn Pause und dSpieler gönd id Kabine und mir schiffet as Gitter hinder dr Gegetribüne.»

Aus dem Song «S erscht Mol» von Manuel Stahlberger (2020)

Manuel Stahlberger ist ein bisschen der neue Mani Matter, nur dass er aus der Ostschweiz stammt, aber er schafft es sogar, dem St. Galler Dialekt einen sanften Klang zu verleihen. Auf seinem neuen Album «I däre Show» singt Stahlberger wie gewohnt über das scheinbar banale Alltägliche, dazu gehört ein Spielbericht als Song, 19. März 1983, FC St. Gallen gegen GC, sein erstes Mal am Match, mit dem Vater im Stadion Espenmoos und immer wieder seither. Es ist eine kleine Hymne fürs Fansein geworden, für dieses Ritual, wenn der Vater das Kind erstmals ans Spiel des geliebten Teams mitnimmt und für ewig mit dem Club-Virus ansteckt. Bei mir wars der 27. September 1988, Stadion Kleinholz. Der EHC Olten gegen Ambri, Nationalliga A, es fallen 14 Tore. 4050 Menschen im Publikum erleben, wie der EHCO 4:10 untergeht, zum ersten Mal bin ich einer von ihnen, ich schiffe nicht ans Gitter, aber fiebere mit, leide mit und lerne früh, dass das Leiden bei diesem Club zum Standardprogramm gehört. Stahlberger hatte mehr Glück, St. Gallen gewann 5:1.

Playlist: Meine Lieblingslieder des Monats


4.  «Aber dann, vor ungefähr 10’000 Jahren, lief es schief.»

Rutger Bregman im Sachbuch «Im Grunde gut – eine neue Geschichte der Menschheit» (2019)

Jeder Fortschritt hat seinen Haken, das ist nichts Neues. Die These des Niederländers Rutger Bregman geht aber viel weiter. Die Menschen waren keine Barbaren, bevor das Zeitalter der Zivilisation begann, sagt er, sie sind es seither. Wer auch immer vor rund 10’000 Jahren die Landwirtschaft erfand, ist fürchterlich falsch abgebogen. Homo sapiens, als Wesen im Grunde gut, verlor da seine Unschuld; Privatbesitz, Kriege, Unterdrückung, Zivilisationskrankheiten, das alles kannten die Jäger und Sammler nicht, und in der Kombination entpuppte es sich als pures Gift. Bregman ist mit seiner Überzeugung bei weitem nicht mehr alleine, unser gesamter Fortschritts- und Wachstumsglaube ist in Frage gestellt. Sind wir zivilisierten Wesen am Ende gar nicht die Gewinner der Geschichte? So schreibt er auch: «Wir können die Geschichte der Zivilisation als eine Geschichte zusammenfassen, in der die Machthaber ständig neue Gründe für ihre Privilegien erfinden.» Man kann davon halten, was man will, eins aber demonstriert die lesenswerte Lektüre in grosser Klarheit: Die Geschichte wird immer von den Gewinnerinnen geschrieben. Und muss daher immer kritisch hinterfragt werden.


PS.

Zum Schluss noch etwas Sinnloses: Wissen Sie, was ein Lipogramm ist? Dieser Satz zum Beispiel ist ein Lipogramm. Ein Lipogramm ist ein Text, in dem bewusst und konsequent ein bestimmter Buchstabe des Alphabets nicht verwendet wird. In diesem Abschnitt zum Beispiel f. Aber es gibt auch ein ganzes Buch, das ohne Buchstaben e auskommt. Ich weiss nicht, wieso man so etwas macht, aber ich glaube nicht, dass es lesenswert ist.

* Pierre Hagmann war erster Chefredaktor von KOLT, stammt aus Olten und blickt heute von Bern auf die schöne, komische Welt.


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