Fliegende Besen gibts halt nicht
Die Bifangmatte an einem spätsommerlichen Samstagabend: Kinder rennen kreuz und quer, auf dem roten Platz im Hintergrund wird Fussball gespielt, im Rasen sitzen zwei Teenager, schauen sich verliebt an. Und dazwischen: zweimal drei Ringe in jeweils einer Reihe, auf unterschiedlich hohe Stangen montiert. «Der höchste muss glaubs 1.71 Meter hoch sein, der niedrigste zirka 90 Zentimeter», erklärt mir Stefan, seines Zeichens Captain der Occamys Olten. «Muss der tall hoop nicht mindestens 1.81 sein?», schaltet sich Patrick in rot-gelb geflammtem Trikot der Phönixe Solothurn ein. «Ich kann mir die Masse auch nie merken. Die sind ungerade, weil in den USA mit Inches gemessen wird. Aber das steht alles im Rulebook der IQA.»
Tall hoop? Rulebook? IQA? Ich verstehe Bahnhof. Beziehungsweise fühle mich wie ein Muggel, wie die Nicht-Zauberer und -Hexen in den Fantasy-Büchern der britischen Autorin J.K. Rowling genannt werden, während Stefan, Patrick und ihre drei Mitspieler über Torringe und Spielpositionen fachsimpeln, als wäre es das Normalste auf der Welt. Und mir dabei von der International Quidditch Association erzählen und dem Regelbuch, welches von ihr herausgegeben wird. 164 Seiten dick sei dieses und enthalte alles, was man über Quidditch wissen müsse.
Dabei dachte ich, über den magischen Ballsport eh schon alles zu wissen. Denn ich gehöre zur «Generation Potter». Als 1997 der erste Band der Geschichten um den jungen Zauberer auf Deutsch erschien, war ich selber zehn Jahre alt, ein Jahr jünger als die Hauptfigur, also Zielpublikum. Zusammen mit Harry, Hermine und Ron wurde ich erwachsen und zusammen mit ihnen erlebte ich nicht nur epische Kämpfe zwischen Gut und Böse, sondern eben auch fast so epische Quidditch-Spiele im Stadion von Hogwarts. Ron, der als Keeper versuchte, den Quaffel abzuwehren, während seine Brüder Klatscher knallten und Harry in seiner Position als Sucher nach dem goldenen Schnatz Ausschau hielt. Und das alles auf fliegenden Besen hoch durch die Luft sausend.
Keine Hexerei, dafür abwechslungsreich!
Natürlich schwirrt an diesem Samstagabend nichts und niemand über der Bifangmatte herum. Weder Besen noch goldener Schnatz. «Ja, Magie, insbesondere das Fliegen können wir halt nicht bieten», gibt Stefan den vermutlich grössten Unterschied zwischen Fantasie und Realität in leicht bedauerndem Ton zu. Doch auch so sei das «Muggel-Quidditch», wie die reale Version zur Unterscheidung auch genannt wird, unglaublich abwechslungsreich und fordernd, «Quidditch ist Handball, Völkerball und Rugby in einem.» – «Und die verschiedenen Bälle und der Besen gibt es sonst natürlich nirgends», fügt Patrick an und führt umgehend aus, wie der Vollkontakt-Sport (in gewissen Situationen sind auch Tacklings erlaubt) Mitte der Nullerjahre in den USA aus magischen Höhen auf die Sportplätze amerikanischer Universitäten heruntergebrochen und seither fortlaufend verfeinert wurde.
Ich falle ihm ins Wort. Also doch Besen? Stefan lacht: «Ganz am Anfang wurde sogar noch mit richtigen Besen gespielt, doch die Verletzungsgefahr war damit zu hoch. Heute spielen wir drum mit diesen Brooms.» Er nimmt einen der rund ein Meter langen, schwarzen Kunststoffstangen, die neben ihm im Rasen liegen und hält ihn mit einer Hand zwischen seine Oberschenkel. «Du siehst: Durch den Besen hast du immer nur eine Hand frei und das wirkt sich natürlich auch auf dein Ballspiel aus.»
Magisches Quidditch
Gespielt wird auf fliegenden Besen, sieben Spieler pro Team. Drei Jäger (engl.: Chaser) versuchen einen Ball, den Quaffel, vorbei am Torwart (Keeper) in die drei gegnerischen Ringe zu werfen und damit Punkte zu erzielen (10 Punkte pro Treffer). Zwei Treiber (Beater) versuchen die Jäger dabei mit drei schwarzen Kugeln, genannt Klatscher, abzuknallen. Währenddessen sucht der Sucher (Seeker) davon unabhängig den Schnatz, eine kleine, goldene, fliegende Kugel. Wird dieser gefunden, gibt es nicht nur 150 Punkte, sondern ist die Partie zu Ende (was in der magischen Welt von Harry Potter auch bedeutet, dass eine Partie gut und gerne auch mal über mehrere Tage dauern kann).
Muggel-Quidditch
Gespielt wird auf Rasen, ebenfalls sieben Spieler auf dem Feld (wobei ein Team aus maximal 21 Spielern bestehen darf). Der Besen (Broom), ein nachgiebiger, zirka 1 Meter langer Plastikstab, muss auf dem Spielfeld permanent entweder mit einer Hand oder durchs Zusammenklemmen zwischen den Oberschenkeln gehalten werden. Die Positionen, durch Stirnbänder in bestimmten Farben kenntlich gemacht, und die Bälle sind die gleichen wie im magischen Quidditch. Wird ein Spieler von einem Beater mit einem Klatscher (Softball) getroffen, muss er zurück zur eigenen Torlinie und den Quaffel (Volleyball) fallen lassen. Regelverstösse werden mit blauen (1-Minuten-Strafe, unbegrenzt sammelbar), gelben (1-Minuten-Strafe, nach zwei vom Platz) und roten Karten (direkter Platzverweis) geahndet. Da es (noch) keine selbst fliegenden Bälle gibt, wird der Schnatz von einem neutralen Spieler verkörpert, an dessen Rücken eine Art Socke mit Tennisball drin befestigt ist. Das Team, dessen Sucher den Schnatz, also die Socke ergattert, erhält 30 Punkte. Im Verlauf des Spiels wird die Bewegungsfreiheit der den Schnatz spielenden Person immer weiter eingeschränkt, sodass eine Partie normalerweise maximal eine Stunde, meistens aber deutlich weniger lange dauert.
Der Hägendörfer Patrick, 31 und Postangestellter, wie auch der Oltner Stefan, 26 und Ingenieur, sind so etwas wie Veteranen in der Schweizer Quidditch-Szene. Zwar wurde die real existierende Variante bereits Anfang der Nullerjahre von Studierenden in den USA konzipiert und seither fortlaufend verfeinert, doch in die Schweiz fand der Sport erst vor wenigen Jahren. Und seither sind Patrick und Stefan dabei. Als 2017 der Schweizerische Quidditchverband SQV gegründet wurde, als 2018 die zweite Schweizer Meisterschaft von Patricks ehemaligem Team, den Hyppogreifen Hägendorf, ebendort ausgetragen wurde, und sie waren dabei, als die Schweiz ebenfalls 2018 nach Florenz fuhr, um erstmals am IQA Worldcup, der Quidditch-Weltmeisterschaft, teilzunehmen. Als Teil der Schweizer Nationalmannschaft spielten sie dabei gegen Länder aus allen Ecken des Globus, von Island bis Australien und von den USA bis Malaysia.
Ein Fluch namens Corona
2020 hätte erneut eine Weltmeisterschaft stattfinden sollen. Doch die fiel, wie praktisch alles andere auch, Corona zum Opfer. Wann und in welchem Rahmen die Schweizer Quidditch-Liga, die derzeit aus acht Teams besteht, wieder startet, ist unklar. Ebenfalls, ob die beiden Solothurner Teams daran überhaupt teilnehmen können. Der Mitgliederschwund, über den nicht nur Sportvereine, sondern etwa auch Guggenmusiken klagen, hat auch sie getroffen. Waren die Occamys Olten 2019 noch zu neunt, zählen sie aktuell noch vier Aktive, bei den Solothurner schrumpfte die Mannschaft auf fünf und da bei einem regulären Quidditch-Match sieben Spieler auf dem Feld stehen … «Und Spielerinnen», fällt mir Patrick ins Wort, «Quidditch ist ein gemischtgeschlechtlicher Sport. Eigentlich musst du mindestens drei Frauen im Team haben. Das macht die Sache noch schwieriger …»
Das Freundschaftsspiel zwischen den beiden Vereinen hätte daher auch eine Art Neustart sein sollen. Irgendwann muss man ja wieder anfangen. Doch zeigt sich auch an diesem Samstagabend das Problem fehlender Mitglieder. Neben Stefan und Patrick haben es nur drei weitere Spieler, allesamt Männer, allesamt von den Phönixen Solothurn, auf die Bifangmatte geschafft. «Den einen ist der Weg zu weit, die anderen haben Stress im Beruf oder in der Schule», erklärt es sich Patrick und erzählt mit Bedauern, dass sie sich 2020 an der abgesagten SoloCon, einer Convention für Gamer, Fantasy-Fans und anderem Nerdtum, hätten vorstellen können. Es ginge immer noch drum, den Sport bekannt zu machen. «Beim Fussball war das ja am Anfang auch nicht anders», pflichtet ihm Andi, 33, Laborant und seit 2018 dabei, zu.
Saugutes Cardio
Ein reguläres Spiel liegt an diesem Abend also nicht drin. Gespielt werden soll aber trotzdem. Weil die Ringe stehen (und bisher nur einmal von einem übermütigen Kind umgestossen wurden). Weil wir hier sind. Und weil es halt einfach verdammt viel Spass mache. Also wird kurz besprochen, wie. Raus kommt: Zwei Jäger gegen zwei Jäger und Stefan macht den Treiber, der anstatt wie üblich einem Team zuzugehören, dieses Mal neutral allen Jägern mit seinen Klatschern das Leben schwer macht. Nachdem sich alle einen Besen geschnappt haben, knien sich die Jäger bei ihren jeweiligen Torlinien auf den Rasen. Stefan gibt das Kommando: «Ready? Ready? Brooms down! Brooms up!» Die Mini-Partie ist eröffnet.
Und tatsächlich: Da geht ordentlich was ab auf dem Spielfeld. Schon nur bei fünf statt vierzehn Spielern scheint es schwierig, den Überblick zu behalten. Die Bälle wechseln schnell, wer von Treiber Stefan getroffen wird, muss den Ball an Ort und Stelle fallen lassen und einen seiner Torringe berühren. Dementsprechend wird gerannt, viel gerannt. Tore fallen, Menschen fallen zu Boden. Es wird auch mal gecheckt. Nach etwa fünf Minuten stehen sie nicht mehr auf. «Stopp! Pause!», keucht Niels, mit 44 der Älteste in der Runde. Und an uns gewandt: «Saugutes Cardio ist das – aber ich bin nach zwei Minuten k. o.!»
Gesucht: Quidditch-Nerds
Acht Quidditch-Mannschaften gibt es in der Schweiz, die meisten davon in grossen Städten – in Zürich, Basel, Genf, Luzern. Im Kanton Solothurn hat es gleich zwei und beide kämpfen um Mitglieder. Ob eine Fusion nicht die Lösung für das Problem wäre? «Haben wir auch schon überlegt», meint Stefan, «aber wir haben jetzt schon das Problem, dass für manche die Anfahrt zu lange dauert.» Das richtige Mittel, da sind sich alle einig, ist mehr Aufmerksamkeit. Ihre Hoffnung: Die Schweiz wird Austragungsort der Weltmeisterschaft. Das würde einen Boom auslösen, sind sie überzeugt.
Wer bis dahin nicht warten will: Sowohl die Occamys Olten als auch die Phönixe Solothurn freuen sich jederzeit über Interessierte, die an einem Schnuppertraining teilnehmen oder auch einfach mehr über die so kuriose wie fordernde Sportart erfahren wollen. Einen Vorteil hat dabei der Umstand, dass es in der Muggel-Welt keine fliegenden Besen gibt: Man muss sich selber kein eigenes, sauteures Exemplar anschaffen. Die der Norm der International Quidditch Association entsprechenden Brooms werden ebenso vom Verein zur Verfügung gestellt wie die Torringe. Sportbekleidung, ein Paar Fussballschuhe und schon ist man mit dabei.
Kontakt Occamys Olten: qcoccamysolten@hotmail.com oder via Facebook
Kontakt Phönixe Solothurn: phoenixesolothurn@bluewin.ch oder via www.phoenixeso.ch
Patrick
Alter: 31
Beruf: Postangestellter
spielt Quidditch seit: 2016
Verein: Phönixe Solothurn
Lieblingsposition: Keeper
Stefan
Alter: 26
Beruf: Ingenieur
spielt Quidditch seit: 2016
Verein: Occamys Olten
Lieblingsposition: Treiber
Niels aka Prof. Ottow
Alter: 44
Beruf: Hauswart
spielt seit: Frühling 2021
Verein: Phönixe Solothurn
Lieblingsposition: Sucher
Martin
Alter: 28
Beruf: Koch
spielt seit: 2019
Verein: Phönixe Solothurn
Lieblingsposition: Treiber
Andi
Alter: 33
Beruf: Laborant (unterbezahlt)
spielt seit: 2019
Verein: Phönixe Solothurn
Lieblingsposition: Jäger
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Vielen Dank für diesen spannenden Bericht. Jetzt gluschtet es mich richtig, dem Spiel mal live zuzusehen.
Das Format mit den kleinen Portraits mit Steckbrief am Schluss gerne auch bei anderen Artikeln weiterführen. Gefällt.