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Grounding und Aufbruch

Mit der Pandemie war die Logik auf den Weltmärkten plötzlich infrage gestellt. Der Welthandel wurde durchgeschüttelt. Bis nach Melchnau. Wie seine Firma langsam aus dem Schock erwacht, erzählt uns der Oltner Luzius Rickenbacher. Auf einer Reise in den Oberaargau.
6. Mai 2022
Text: Yann Schlegel, Fotografie: Timo Orubolo

Vom Leinenfabrikanten für Emmentaler-Käse zum Teppichhersteller der internationalen Flugbranche: Geschichten wie jene der Textilweberei Lantal gibt es in der Schweiz wohl hunderte. Aber in einem Punkt ist sie doch einzigartig: In den tiefen Oberaargauer Hügeln dauert die Epoche der Industrialisierung bis heute an.

Fabrikhallen mit ratternden Webmaschinen. Ein grosser Teil der Produktion findet noch in Melchnau statt. Aus Schafswolle webt der Familienbetrieb Teppiche und Sitzbezüge. Bilder wie aus einer anderen Zeit. Nicht viele Geschäftsleute können wie der Oltner Luzius Rickenbacher am Abend noch ein vor Ort gefertigtes Produkt in den Händen halten.

Das klassische Industriegebäude mit hölzernen Flügelfenstern und nüchterner Fassade erinnert von aussen an ein Kloster. Mitten ins Dorf gepflanzt, zwischen alte Berner Bauernhäuser. Die Strassen nach Melchnau führen über grüne Felder in liebliche, aus Molasse geformte Hügel – die Vorboten der rauen Alpen. Das perfekte Schweizer Postkartensujet.

Und ein gutes Verkaufsargument.

«Wenn asiatische Kunden kommen und wir mit ihnen übers Land fahren, bei einem Bauernhof etwas Käse kaufen und ihnen die Kühe zeigen, drehen die fast durch», sagt Luzius Rickenbacher. Einwöchiger Bart. Mit weiten Schritten führt er in den Schauraum. Teppichmuster an den Wänden geben dem Raum etwas Mondänes, erinnern an eine Flughafenlounge. Das bäuerliche Melchnau scheint hier drin weit weg.

Während gut zweier Jahre verschlug es keine Kundinnen mehr in die Fabrikgebäude im Oberaargau. Die Pandemie bremste die Mobilität rund um die Erdkugel abrupt aus. Bilder von gegroundeten Flugzeugflotten gingen um die Welt. Und in Melchnau wurden die Webmaschinen runtergefahren. Im August 2020 kam die Firma – als grosse Arbeitgeberin eigentlich stolzes Vorzeigebeispiel der Region – in die Schlagzeilen.

Textilfirma in der Krise. Stellenabbau. Der Umsatz brach ein. Die Firmengeschichte, die wie ein American Dream klingt, war in ihren Grundfesten erschüttert. Luzius Rickenbacher sitzt im Schauraum-Ledersessel und rollt die bald 150-jährige Firmengeschichte auf.

In die weite Welt

In Langenthal gründet Albert Brand 1886 die Leinenweberei Baumann & Brand. Sie webt Leinen für die Käseproduktion im Emmental. Als die Söhne Fritz und Willy Baumann übernehmen, ist die Harmonie bald vorbei.

Willy Baumann geht eigene Wege und gründet eine Möbelstoffweberei. Diese hebt 1954 ab: Ihre Produkte finden in der jungen Flugindustrie Absatz, die Firma produziert Sitzbezugsstoffe für die holländische Fluggesellschaft KLM. Der Betrieb wächst rasch und kauft andere branchenverwandte Firmen auf. In den 80er-Jahren etwa die Melchnauer Teppichfabrik, die ursprünglich Matten aus Kokosfasern produziert hatte.

«Heute machen wir Textilien für alle möglichen Verkehrsmittel», sagt Luzius Rickenbacher. Die Stoffe und Teppiche aus Langenthal und Melchnau gehen hauptsächlich an Bus-, Bahn- und Flugbetriebe.

Der klobige Namen «Möbelstoffweberei» taugte für Geschäfte mit den Airlines rund um die Erdkugel nicht. Lantal Textiles – angelehnt an die Wurzeln in Langenthal – lautete deshalb der neue Firmenname Ende der 90er-Jahre. In dieser Nische gedieh der Betrieb prächtig, und wie der weltweite Transport über Jahrzehnte fast ungebrochen wuchs, so tat es auch die Textilweberei in Melchnau.

Und genauso waren grosse Ereignisse draussen in der Welt in Melchnau unmittelbar spürbar. Der Vulkanausbruch des Eyjafjallajökull in Island. Die Terroranschläge von 9/11 in New York. Sobald der Flugverkehr stockte, stockten auch die Melchnauer Webmaschinen. Aber der Rhythmus von vorher kehrte jeweils bald zurück.

Bis das Coronavirus kam. Die Flugzeugproduktion wurde runtergefahren. In den stillstehenden Flugzeugflotten gab es keinen Verschleiss der Teppiche und Sitzbezüge. Kurz: Die Airlines brauchten vorübergehend kaum noch Teppiche aus Melchnau.

«Vor der Pandemie machte die Aviatik 70 Prozent unseres Umsatzes aus, jetzt noch ungefähr 50 Prozent», sagt Luzius Rickenbacher an diesem Märztag. Doch die Verlagerung fusste nur bedingt auf einem Wachstum in den Bereichen Bahn und Bus. Der Firmenumsatz schrumpfte insgesamt. Die guten Neuigkeiten in der Krise waren rar. Positive Signale spürte die Firma immerhin von der anderen Seite des Atlantiks mit dem Präsidentschaftswechsel zu Joe Biden. «Die USA investiert seither massiv in den Zugverkehr, das spüren wir», sagt Rickenbacher.

Trotzdem musste Lantal auf die verschiedenen Ableger in Portugal, Tschechien, England und den USA verteilt fast die Hälfte der Belegschaft entlassen. In der Schweiz strich sie fast 100 Stellen – heute sind in Langenthal und Melchnau noch 170 Menschen beschäftigt.

Dankbar, noch hier zu sein

Alle grüssen sie Luzius Rickenbacher aufrichtig, während er durch die Fabrik führt. Kurzer Smalltalk hier und dort. Die Stimmung wirkt trotz schwieriger Jahre wenig bedrückt. Seit gut vier Jahren gehört der Oltner zur Geschäftsleitung und verantwortet den Bereich Aviatik, der zuletzt am stärksten litt. Sein Onkel Urs Rickenbacher übernahm in den Nullerjahren den Betrieb von Urs Baumann, der die Lantal in dritter Generation führte.

Die Familie Baumann habe sich viel Zeit gelassen bei der Nachfolgesuche, erzählt Rickenbacher. Denn eines war den Baumanns wichtig – Lantal sollte weiterhin im Oberaargau produzieren. Hätte eine international tätige Firma den Traditionsbetrieb geschluckt, wären die Fabrikhallen in Melchnau wohl bald leer gestanden. Teppiche, Sitzbezüge und andere Textilien wären fortan in einem Billiglohnland produziert worden.

Swissness ist deshalb bei der Lantal nicht nur Fassade, sondern ein glaubwürdiges Verkaufsargument, auch wenn die Firma mittlerweile einen Teil ihrer Textilien in den USA und in Portugal produziert. Luzius Rickenbacher führt in eine Halle, in der handgetuftete Teppiche gefertigt werden. Mit einer Tufting-Pistole schiesst der Mitarbeiter das Garn in die grossdimensional aufgespannte Leinwand. Hier entstanden schon Teppiche für die Air Force One – die Präsidentenmaschine der USA. Viele der handgemachten Teppiche sind für Privatjets oder Jachten von Scheichen aus dem Mittleren Osten bestimmt. Manchmal kommen auch Anfragen von Hotels. «Diese Teppiche sind unsere Liebhaberstücke», sagt Luzius und nimmt die Treppe, die nach draussen zu den hinteren Fabrikhallen führt.

Die Stahlkolosse

Dort lebt die Industrialisierung noch. Was man in der Schweiz sonst fast nur noch im Museum sehen kann, ist für die Mitarbeiterinnen der Lantal Alltag. Gross wie Bücherregale der Nationalbibliothek sehen die Gestelle aus, in welchen die Garnrollen wie Aktenordner aneinandergereiht eine eigene Geometriesprache bilden. Wie ein Strahl wird das Garn zusammengeführt, ehe es in der Maschine verschwindet, die ein zusammenhängendes Stück daraus fertigt. Der Stahlkoloss spuckt ratternd den Teppich aus, der aus verschiedensten Grautönen ein Ganzes bildet: Einen Teppich, der bald in den Flugzeugen der Qatar Airways ausgelegt sein wird.

Man fragt sich, wie der Mann hinter der Maschine im Garn-Wirrwarr den Überblick behält. Viele arbeiten schon Jahrzehnte in der Firma, kennen jedes Teil der alten Maschinen, die zuverlässig dienen. «Unsere Mitarbeiter hören am Geräusch der Maschine, wenn etwas kaputt ist, und können es selbst reparieren», sagt Luzius Rickenbacher.

Im Untergeschoss zeigt der Oltner ein weiteres Prunkstück des Maschinenparks. Der Standort scheint nicht zufällig gewählt, steht doch die mehrere Meter lange Maschine in einem dunklen Bereich, als habe sie ein Geheimnis zu hüten. «Hier steckt viel Wissen drin», sagt Luzius Rickenbacher.

Seit Jahrzehnten schon tut die Beschichtungsmaschine unermüdlich ihren Dienst. Mit ihr überziehen die erfahrenen Angestellten die fertiggewobenen Teppiche mit einer Kunststoffschicht. Die Rezeptur dafür ist geheim. Sie gibt den Teppichen die Feuerfestigkeit, die in Flugzeugen vorgeschrieben ist.

Lantal müsse sich trotz bewährter Maschinen wie dieser immer weiterentwickeln, um am Markt zu bestehen, erklärt Rickenbacher. «Uns treibt immer die Frage um, wie wir Gewicht sparen und trotzdem langlebige Produkte bieten können.»

Gegenüber in der Färberei wird das weisse Garn in grosse Behälter getüncht. Es kommt frisch angeliefert von der Tochterfirma in Huttwil. Sie spinnt das Garn aus Rohwolle, die hauptsächlich aus Neuseeland und England importiert wird. Ein Mitarbeiter begrüsst uns im Labor, wo entschlüsselt wird, was es für den richtigen Farbton braucht. Er demonstriert, wie er im Experimentkasten testet, ob das gefärbte Garn auch bei möglichst allen Lichtverhältnissen im gleichen Farbton erscheint.

Das Karussell dreht weiter

In den Melchnauer Fabrikhallen rattern die Maschinen. Noch nicht wie vor der Pandemie, als die Maschinen im Dreischichtbetrieb durchliefen. In den Oberaargauer Hügeln ist aber zu spüren, dass der Verkehr nach der Pandemie allmählich wieder Fahrt aufnimmt.

«An unserer Strategie ändern wir nichts, wir glauben, dass die Aviatik zurückkommt», sagt Luzius Rickenbacher. Mit weltweit vier anderen Firmen konkurriert die Lantal im Bereich der Textilproduktion für Fluggesellschaften.

Wer aufs globale Karussell aufgesprungen ist, will nicht mehr runtersteigen. Die Rickenbachers planen für die Zukunft. Unabhängig der Pandemie, die sie zurückgeworfen hat. Luzius Rickenbacher bleibt hinter den ratternden Webmaschinen stehen. Die Stahlkolosse in dieser Hallenhälfte sind stillgelegt. Mit den Armen zeichnet der Oltner eine Schneise und sagt: «Hier kommt unsere neue Innovation hin. Wir haben uns lange überlegt, ob wir die Maschine in der Schweiz installieren. Ein klareres Bekenntnis zu Melchnau könnte die Geschäftsleitung nicht geben.» Wie die neue Maschine die Teppichproduktion revolutionieren wird, verrät er nicht. Die Konkurrenz lauscht mit.


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