Hellene
Ich habe da etwas entdeckt in Thessaloniki. Ein Muster. Ich weiss nicht, wie okay es ist, das laut auszusprechen. Es geht um ältere Frauen. Sagen wir, Frauen in ihren Sechzigern und frühen Siebzigern. Ihre Haare sind auffällig oft rot bis violett gefärbt, und, als korreliere das mit ihrer Haarfarbe, sie sind auffällig oft nicht allzu freundlich. Ich will jetzt nicht sagen, je röter das Haarfärbemittel, umso unfreundlicher deren Käuferin. Nein, das ginge zu weit. Und doch kann ich nicht leugnen, dass da was ist. Ich schreibe diesen Text aber eigentlich nur, um mir selber wieder einmal vor Augen zu führen, dass Generalisierungen nie funktionieren. Dazu weiter unten. Zuerst schulde ich eine Erklärung.
Selten wurden mir – und ich weiss, wie privilegiert ich damit bin als weisse, westeuropäisch aussehende Frau – von fremden Menschen solch misstrauische Blicke zugeworfen wie von eben erwähnten griechischen Frauen. Auf der Strasse, von Balkonen herab, aus Autos: Immer wieder blicke ich in Augenpaare, zentral platziert zwischen rotgefärbter Haarpracht und Maske, die mir, so interpretiere ich, nicht gut gesinnt sind. Freundliches Grüssen hat bisher nicht geholfen – es wird meistens nicht erwidert. Viel mehr als eine Zurechtweisung von einem Balkon herab, ich solle bitte den Dreck aufnehmen, den mein Hund da gerade hinterlassen hat (was ich ohnehin tun wollte), habe ich an Gesprächen nicht erlebt.
Warum bloss?
Ich kann nur spekulieren. Die älteren Frauen, die vielleicht zur Risikogruppe gehören, könnten sich fragen, was ich zu Corona-Zeiten in dieser Stadt zu suchen habe. Könnte ich verstehen. Vielleicht macht die Pandemie die Menschen auch generell misstrauischer. Daneben – unabhängig vom Virus – spüre ich in Thessaloniki einen Generationenkonflikt, mit dem sich meine Beobachtung möglicherweise auch deuten liesse: Eine konservativ-christliche ältere Einwohnerschaft lebt hier Tür an Tür mit jungen Hausbesetzerinnen und Anarchisten. Sich aber als Anarchistin zu bezeichnen, auf der Strasse zu demonstrieren, als Frau die Haare an den Beinen wachsen zu lassen, offen bi- oder homosexuell zu sein oder, vielleicht noch schlimmer, einen Arabisch sprechenden Liebespartner zu haben, scheint hier oftmals wirklich Rebellion gegen die Eltern- und Grosselterngeneration zu bedeuten.
Das wird nicht hingenommen, sondern von konservativen Eltern mit aller Kraft zu verhindern versucht – offenbar nicht allzu erfolgreich, denn die linke Szene ist relativ gross, aktiv und jung. Es mag sein, dass mein Alter und mein Aussehen in diese Szene passen würden, und sich so die misstrauischen Blicke erklären lassen. Schliesslich kann es aber genauso gut sein, dass ich einfach die Wege einiger rothaariger Damen gekreuzt habe, die gerade nicht ihren besten Tag hatten.
Eigentlich auch egal
Denn jetzt kommt endlich das Beispiel, an welchem meine krude Theorie zerschlägt: meine Nachbarin Hellene. Sie ist etwa siebzig Jahre alt, trägt den vielleicht griechischsten aller Vornamen und eine dunkelviolette Dauerwelle. Sie bewohnt zusammen mit ihrem Ehemann seit 1981 ein kleines weisses Haus in Ano Poli, dem ältesten Stadtteil Thessalonikis. Ihr trautes Heim liegt direkt gegenüber dem Haus, das in den letzten Monaten meine WG war: Eine stattliche alte Villa, die seit einiger Zeit von jungen Menschen griechischer, italienischer, marokkanischer, deutscher, syrischer, spanischer und schweizerischer Herkunft besiedelt wird.
Nicht alle dieser jungen Menschen haben einen legalen Aufenthaltsstatus, und eine gewisse Affinität für exzessives Kiffen kann einigen nicht abgesprochen werden. Ich kann auch nicht behaupten, ich hätte während meiner Zeit in dieser Villa weder laute Stimmen noch laute Musik gehört. Hinzu kommt, dass ich selbst nicht im Haus übernachte, sondern mit meinem Freund zusammen in einem Lieferwagen, den wir vor dem Haus geparkt haben. Streng genommen stimmt das möglicherweise auch nicht ganz mit sämtlichen griechischen Gesetzen überein. Wie auch immer, ich will einfach sagen, es gäbe durchaus die eine oder andere Gegebenheit, die eine Nachbarin fortgeschrittenen Alters etwas irritieren könnte.
Nicht aber Hellene
Hellene strahlt mich an und grüsst mich laut, wo auch immer sie mir begegnet. Vom Balkon herab, aus der Haustüre heraus, mit dem Einkaufstrolley vorbeispazierend. Hellene und ich führen auch Gespräche, obwohl wir keine gemeinsame Sprache sprechen. Dass ich kein Griechisch verstehe, hat sie noch nie davon abgehalten, mir Dinge zu erzählen. Ohne die geringste Ahnung, wovon sie spricht, antworte ich dann jeweils auf Schweizerdeutsch, bejahe das schöne Wetter und stimme ihr zu, dass der Frühling jetzt wohl langsam kommt. Sie lächelt dann immer und gibt hohe, gutheissende Töne von sich.
Dann kam der Tag, als in unseren Lieferwagen eingebrochen wurde. Das Fenster war eingeschlagen, unsere Wertsachen gestohlen, wir schlecht gelaunt, und Hellene stand mit finsterem Blick bei uns. Sie wandte sich an meine griechische Mitbewohnerin und sprach aufgebracht. Ich dachte mir: Jetzt kommt’s doch noch. Jetzt flucht sie über die Ausländer, die Roma, die besetzten Häuser im Quartier. Darüber, dass früher diese Stadt noch sicher war und dass heute alles anders ist. Aber okay, dachte ich, das ist eine Ausnahmesituation. Sie ist entschuldigt.
Hellene verstummte und ich bat meine Mitbewohnerin um eine Übersetzung. Ich erfuhr: Hellene hatte gesagt, sie hätte unseren syrischen Mitbewohner gesehen, wie er am Morgen nach dem Einbruch die Türe des Wagens geöffnet hatte, um uns beim Tragen zu helfen. Sie meinte, das könnte eventuell Probleme geben für ihn, wenn die Polizei seine Fingerabdrücke fände. Wir sollten aufpassen, sagte sie, vielleicht diese Klinke abwischen, bevor wir den Einbruch der Polizei meldeten.
Ich war etwas betreten. Innerlich entschuldigte ich mich bei der Nachbarin für meine falschen Vorurteile. Hellene, ich hätte Ihnen gerne gesagt, dass Sie mich mit dieser Aussage vom Hocker gehauen haben. Und für mich persönlich spätestens damit die Ehre aller etwas unfreundlichen älteren Damen wiederhergestellt haben.
*Jana Schmid (26) ist in Aarburg aufgewachsen und lebt seit diesem Winter in ihrem ausgebauten Lieferwagen in Griechenland, wo sie rund drei Monate für zwei Nichtregierungsorganisationen arbeitete.