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«Ich habe mich nicht auf einen schwulen Mann, sondern auf einen liebenden Menschen vorbereitet»

Als Bub entdeckte er dank dem Zirkus Chnopf auf dem Oltner Munzingerplatz die Bühne für sich. Jahre danach kehrt Dimitri Stapfer mit seinem neusten Film «Beyto» an den Geburtsort zurück.
4. November 2020
Text: Yann Schlegel, Fotografie: Timo Orubolo

Beyto wirft sich aufs Mofa und umklammert Mike mit beiden Händen. An seiner Linken leuchtet der Ehering. Mike drückt aufs Gas und fährt davon, zurück bleiben Beytos Eltern und die frisch vermählte Seher. Nach der erzwungenen Hochzeit in der Türkei enteilt Beyto mit seinem Geliebten dem Leben, das er nicht gewählt hat.

Die Szene steht sinnbildlich für die Zerreissprobe, die Gitta Gsells neuen Film «Beyto» zu einem gefühlsstarken Drama macht: Schwul sein zwischen zwei Welten. Die Schweizer Filmregisseurin hat den Roman «Hochzeitsflug» des türkischstämmigen Schweizers Yusuf Yesilöz verfilmt. Es ist eine Geschichte über den gesellschaftlichen Druck, sich nicht in einen Mann verlieben zu dürfen.

Die Mofaszene mit den beiden Hauptdarstellern ziert das Filmcover, das derzeit an vielen Schweizer Kinos prangt. Auch von der Anzeigetafel des Kino Koni leuchtet das Poster auf den Bifangplatz hinunter. Eines der beiden Gesichter auf dem Mofa ist an diesem Abend unter dem Vordach des Kinoeingangs wiederzuerkennen. Dimitri Stapfer dreht sich eine Zigarette. Das breite Lachen ist das gleiche wie jenes von Mike, dem Schwimmtrainer, der seinen Schützling Beyto verführt. Den stählernen Oberkörper hat er gut ein Jahr nach den Dreharbeiten verloren. «Das 30er-Bäuchlein ist wieder da», sagt Dimitri Stapfer beim Gespräch im grün gepolsterten Kinosessel und lacht dabei herzhaft.

Bilder von damals

Als der 32-Jährige das Kino betritt, löst dies bei ihm Kindheitserinnerungen aus. «Ah, hier kam ich immer hin, um DVDs auszuleihen», ruft er. Damals hiess das Kino noch Tiffany und der in Wangen bei Olten aufgewachsene Teenager träumte von einer Schauspielkarriere. Dimitri Stapfer hat es geschafft. Im extravaganten Anzug ging er dieses Jahr über den Teppich am Zürcher Filmfestival. «Beyto» ist eben lanciert und ab Sonntag ist Stapfer in der neuen SRF-Serie «Frieden» als Nazijäger der Bundesanwaltschaft in einer Hauptrolle zu sehen. Zudem steht er auf den Theaterbühnen in Winterthur und Solothurn. Auch wenn ihm derzeit alles zufliegt und er zuletzt als neuer Star betitelt wurde, berührt dies Dimitri Stapfer nicht gross. «Die Niederlage gehört zum Schauspielberuf», sagt er nüchtern.

Momentan scheint es, als könnte nur das Virus seinen Höhenflug etwas ausbremsen. Noch ist ungewiss, ob die Theater diesen Winter öffnen können. Und ins Kino Koni dürfen an diesem Abend bloss dreissig Menschen zur Filmvorführung. Dimitri Stapfer hätte den Saal wohl mit den Freunden aus seiner Jugendzeit alleine füllen können.

Was löst «Beyto» bei dir aus, wenn du ihn dir anschaust?

Ich merke bei Gesprächen nach dem Film, dass er sehr berührt. Die Menschen bedanken sich oft und ich hörte Reaktionen wie «Du erzählst gerade eine Geschichte von einem Freund». Dieser Film ist ein politisches und gesellschaftliches Statement. Das war eine Grundmotivation, um mitzumachen. Homophobie ist nach wie vor in jeglichen Gesellschaftsschichten und Kulturkreisen ein krasses Thema.

Auch in der Schauspielbranche?

Schwule Schauspielkollegen sind froh, wenn sie Heterorollen spielen können, weil dann nicht die Frage aufkommt: Bist du schwul? Mich hat noch nie jemand gefragt, ob ich heterosexuell bin. Wenn ich einen Homosexuellen spiele, höre ich sogleich: Wie war das für dich? Man vergisst schnell, dass in unserer Branche viele homosexuell sind. Und sie werden noch immer stigmatisiert.

Wie hochaktuell das Thema ist, zeigte sich beim Casting: Wie ich gelesen habe, hattet ihr Mühe, die Rolle von Beyto zu besetzen.

Dadurch, dass wir wenig türkischstämmige Schauspieler haben, fehlt die Diversität. Wir mussten daher auf Laienschauspieler setzen und hatten die Rolle entsprechend ausgeschrieben. Viele sagten ab, als sie merkten, dass es um Homosexualität geht. Nicht nur wegen der Familie in der Schweiz, sondern auch wegen den Angehörigen im Ausland. Ich hatte einen Anwärter gecastet. Nach fünf Tagen sagte er ab, weil die Familie in der Türkei davon Wind gekriegt hatte. Seine Eltern hätten kein Problem damit gehabt. Mit Burak Ates hat es dann wunderbar funktioniert. Er liess sich nicht einschüchtern und ergriff die Chance, auch weil er Schauspieler werden will.

Wie fandest du in deine Rolle als Mike?

Ich habe mich nicht auf einen schwulen Mann vorbereitet, sondern auf einen liebenden Menschen. Auf jemanden, der sich verliebt, aber durch äussere Umstände daran gehindert wird. Dabei versuchte ich die Rolle extrem nah bei mir zu lassen: Die Körperlichkeit, Impulsivität und Sprechweise. Ich wollte die Situationen so nehmen, wie ich sie in dem Moment sehe und spüre.

Wieso wähltest du diesen Weg?

Weil ich gemerkt habe, dass Mike einen Charakter hat, der mir sehr ähnlich ist. Und ich fand es eine einfache Form, mit der Liebe zu hadern. Auch mit dieser Kompromisslosigkeit, die Mike prägt. Erst im Verlauf der Geschichte beginnt er, sich zu hinterfragen. Ich wollte keinem Klischee Platz machen, frei von irgendwelchen Stereotypen sein.

Apropos Klischees. Zu Beginn des Films wird die türkische Community stereotypisiert: Kebabbude, Machogesellschaft und heulende Autos.

Natürlich gibt’s ein Spiel mit Klischees. Aber auch visionäre Gedanken und Figuren. Jede Einzelne beginnt sich einmal zu hinterfragen. Die Mutter und der Vater merken: wenn wir den Sohn in die Enge treiben, ist er nicht glücklich. Die Gefahr der Klischees ist vorhanden, aber die Rückmeldungen der türkischen Community zeigen, dass wir den Nagel auf den Kopf getroffen haben. Dass nicht alle Türken so leben und Homophobie nicht überall verbreitet ist, ist den Menschen hoffentlich bewusst. Wir geben gezielt eine bestimmte Sichtweise auf dieses Thema.

Als Profi trafst du auf Laienschauspieler Burak Ates. Wie hat das funktioniert?

Wir haben sehr viel geprobt. Burak musste man ins Spiel einleiten, aber er hat ein grosses schauspielerisches Talent. Gewisse Hemmschwellen wie die Intimszenen gab es, wobei diese für einen Laiendarsteller ohnehin ungewohnt sind. Um das Vertrauen zu gewinnen, gingen wir diese Szenen bewusst als Choreographie an: Wo können wir uns berühren, dass wir uns gehen lassen können? Dies zu entdecken, war eine schöne Arbeit.

Du warst also ein wenig wie sein Mentor. Er hat dich als Bruder bezeichnet.

Das ist herzig (lacht). Film und Theater funktionieren immer nur mit dem Gegenüber.

Du bist im Moment sehr präsent in der Schweizer Filmlandschaft. Ein Zufall?

Nach der Schauspielschule fokussierte ich mich aufs Theater, konnte dann aber einen ersten Film machen (mit «Left Foot, Right Foot» gewann Dimitri Stapfer den Schweizer Filmpreis für die beste Nebenrolle, Anm. d. Red.). So kam ich immer mehr in die Filmbranche. Es fühlt sich sehr gut an. Vor der Kamera kann ich meine Erfahrungen vom Theater nutzen und vom Film fürs Theater lernen – das ergibt eine spannende Symbiose.

Was macht die gesteigerte Aufmerksamkeit um deine Person mit dir?

Dass ich eine stolze Mami und einen stolzen Papi habe. (lacht)

Sonst nichts? Keine stolze Freundin?

Das auch (lacht). Es ist ein Beruf, der von der Aufmerksamkeit lebt.

Auch wenn es für dich rund läuft: Die Kunst- und Kulturszene leidet unter den Einschränkungen. Was macht die Situation mit dir?

In den letzten sieben Jahren war ich fest angestellt, weshalb ich Anrecht auf Arbeitslosengelder und Kurzarbeit hatte. Das hat mir geholfen. Im März hatte ich gewissermassen ein Berufsverbot. Mir machen vor allem die nächsten fünf Jahre Sorgen. Wie ich die Politik kenne, wird sie in erster Linie bei Bildung und Kultur sparen. Vor diesen Auswirkungen habe ich brutal Schiss. Man vergisst immer wieder, dass die Kulturbranche ein wichtiger Wirtschaftsfaktor ist: Grafiker, Fotografinnen, Gastronomen und auch die Tourismusbranche hängen beispielsweise dran. Wir alle machen die Schweiz zu einem attraktiven Arbeits- und Wohnort. Die Situation ist teilweise krass absurd. Für die Swiss gibt’s keine Beschränkung auf fünfzig Passagiere. Dann kriegen sie noch immens hohe Corona-Kredite, erhalten Kurzarbeit und zahlen sich obendrauf riesige Boni aus. Sind wir im falschen Film?

Zur Person
In Olten wurde Dimitri Stapfer geboren, seine Kindheit und Jugendjahre verbrachte er in Wangen bei Olten. Mit dreizehn Jahren meldete er sich zum Casting beim Zirkus Chnopf. Und so wurde die Bühne schon als Bub zu seinem Daheim. Während zwei Sommerhalbjahren tourte Dimitri Stapfer mit dem Zirkus Chnopf durch die Schweiz. Heimweh hatte er nicht, im dynamischen Umfeld blühte er auf. «Ich hatte eine unglaublich freie Jugendzeit. Das ist immer noch in mir drin und niemand kann mir das nehmen», sagt er heute. Die Familie zog nach Solothurn, wo Dimitri Stapfer eine Buchhändlerlehre machte. Am Tag der Lehrabschlussprüfung erfuhr er von seiner Aufnahme an der Zürcher Hochschule der Künste. Seit elf Jahren lebt Dimitri Stapfer in Zürich und arbeitet von dort aus in alle Himmelsrichtungen, wie er sagt. Die Geleise führen ihn immer wieder an den Ort seiner Kindheit: «Olten kreuzt meinen Weg immer wieder.»


Was hat der Film «Beyto» bei dir ausgelöst?

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