«Ich konnte nicht mehr selbständig essen, nicht mehr schreiben. Mit so viel Sport kann ich dies wieder»
Für Schönrederei hat Cynthia Mathez keine Zeit. Sie bevorzugt das Direkte. Die Wahrheit. Und sie scheut sich nicht, mit ihr konfrontiert zu sein. Fast gleichmütig erinnert sie sich an den Tag, als ihr der Neurologe offenbarte, dass sie an Multipler Sklerose erkrankt sei. Er habe einen Stapel Bücher aus dem Regal gezogen und gesagt: «Wenn Sie Fragen haben, können Sie hier nachlesen.» Cynthia rief ihre Mutter an und erzählte ihr von der Diagnose, ohne wirklich zu wissen, was sie bedeutete. «Ihrer Reaktion wegen wusste ich, dass es schlimm ist», erinnert sie sich. Sie war 24 Jahre alt. Soeben hatte sie drei Wochen in der Rehabilitation in Montana verbracht – «weil ich wie betrunken herumlief». In der Nacht vor der Diagnose waren ihre Beine ganz steif geworden und hatten geschmerzt. Sie brauchte einen Stock als Gehhilfe, weshalb die Kolleginnen im Büro sie «Doctor House» nannten.
«Ich war immer positiv eingestellt», sagt Cynthia. Ihr Leben wurde nach und nach durch den Rollstuhl bestimmt. Sie gab die Wohnung in Zürich auf, die im dritten Stockwerk ohne Lift lag, und zog nach Olten Südwest. Kaufte sich einen Fernseher. Doch sie merkte bald: Auf dem Sofa würde sie nicht vor sich hinvegetieren. «Am Anfang erwartete ich immer den nächsten Schub», erzählt sie. «Aber dann dachte ich mir: Es kommt einfach, wie es kommen muss. Hoffentlich so spät wie möglich.» Also lebte Cynthia fortan wann immer möglich ihren aktiven Alltag weiter. Sie weiss, dass die Gegenwart alles ist, was zählt. Sollte die Multiple Sklerose ihr eines Tages die Freiheit nehmen, ihren Alltag selbständig zu bestimmen, Dinge zu tun, die ihr Freude und Sinn vermitteln, würde sie ihr Leben beenden. Als sie die Diagnose erhielt, schrieb sie sich bei der Sterbehilfeorganisation ein. Wenn sie darüber spricht, übersetzt sie gerne ein französisches Sprichwort: «Je ne veux pas finir comme un légume». – «Ich will nicht wie Gemüse herumliegen.»
Leben am Limit
Doch der Tod ist nicht allgegenwärtig. «Ich bin voll im Leben», sagt Cynthia. Draufgängerin war sie schon als Teenagerin gewesen, und sie ist es bis heute. Mit 13 fuhr sie erstmals bei einem Autocross-Rennen mit. Das «Rallye für die Bauern», wie sie es nennt, ist in Tramelan, ihrem Heimatdorf im tiefen Berner Jura, eine populäre Sportart. Ihren Vater, dem die Leidenschaft fürs Autocrossen erhalten geblieben ist, begleitet sie noch heute an Rennen. Mit 15 zog Cynthia für ein Jahr von zuhause weg, um im grossen Zürich Deutsch zu lernen. Und mit gut 20 führte sie ihr eigenes Hotel im Kanton Waadt.
Vier Jahre später, nach der Diagnose, gab sie die Hotellerie auf. «Die Krankheit zwang mich zu einem gewissen Grad in ein normales Leben», erklärt sie. «Es ist ein anderes, ein anständigeres Leben. Im Hotelbereich erlebten wir viel, arbeiteten viel, machten viel.» Sie lacht herzlich, ohne mehr zu verraten.
Die Diagnose Multiple Sklerose muss sich anfühlen wie ein haushoher Felsblock, der einem plötzlich vor die Füsse fällt auf einem Pfad, auf dem man vorher leichtfüssig vorangeschritten war. Cynthia Mathez fand den Pfad, der am Felsblock vorbeiführte. Obwohl die Multiple Sklerose ihr Nervensystem beschädigt und sie deswegen seit der Diagnose an den Rollstuhl gebunden ist. Obwohl sie ihre Beine und ihren Rumpf bis zum Bauchnabel hoch nicht mehr spürt und in den Händen kein Gefühl mehr hat.
Der Rollstuhl hat Cynthias Blick auf die Welt verändert. «Wir leben in einer Parallelwelt zu euch Fussgängern», sagt sie. Und sie selbst habe diese Parallelwelt damals mitgeformt, indem sie Menschen im Rollstuhl weitgehend ignorierte. «Ich war so dumm. Vorher hab ich nie mit jemandem im Rollstuhl gesprochen, weil ich nicht wusste, wie ich mit dieser Person umgehen soll. Dabei sind wir die gleichen Menschen.»
Das «normale Leben»
Die Multiple Sklerose raubt ihrem Körper viel Kraft. Statt 15 Stunden zu arbeiten, wie es in ihrem früheren Leben Normalität war, benötigt Cynthia Mathez nun bis zu 15 Stunden Schlaf. Sie gab deswegen ihre Arbeit bei einer Pensionskasse auf, als die Last der Krankheit zu gross wurde. Ohne Arbeit, ohne Plan fühlte sich Cynthia nutzlos. Da war es, das Dahinvegetieren, das sie so fürchtete. «Je weniger du machst, desto weniger willst du machen», sagt die 35-Jährige. «Aber es ist extrem wichtig, etwas zu tun, denn nur so bleibst du selbstständig.» Sie suchte nach einem Rollstuhl-Sport und stiess zuerst auf Rugby. Die Sportart interessierte sie, durch ihren grossen Bruder war sie mit ihr vertraut. Doch die Ärzte rieten ihr wegen ihrer Krankheit davon ab.
Also begann Cynthia Mathez vor gut sechs Jahren mit Parabadminton. Es war der Beginn einer Passion, die sie bis an die Paralympischen Spiele in Tokio bringen würde. Schon als Kind war Japan zu ihrem Sehnsuchtsort geworden. Als Judoka war sie von der japanischen Kultur fasziniert. «Das wird für immer mein Lieblingsland bleiben», sagt sie. Eines Tages möchte sie sich einen Kirschblütenbaum auf den Rücken tätowieren lassen.
Apéro, Kuhglocken, Gemeindepräsident
Das Ziel Tokio vor Augen wäre für Cynthia Motivation genug gewesen. Doch nicht der blosse sportliche Erfolg treibt sie an. Mit dem Parabadminton als Lebensaufgabe erlangte sie grosse Teile ihrer Autonomie zurück. «Ich konnte nicht mehr selbständig essen, nicht mehr schreiben. Mit so viel Sport kann ich dies wieder», erzählt sie auf ihrer Terrasse in Boningen. Sie will nicht im Schatten sitzen. Lieber die Herbstsonne aufsaugen. Mit stundenlangem Training lernte sie von neuem, wie sie ihre durch die Nervenkrankheit gefühllos gewordenen Hände brauchen kann. Ohne ihre Augen weiss sie nicht, ob das, was sie gerade anfasst, heiss oder kalt ist, aus Plastik oder Holz besteht. «Neulich nahm ich die Eier aus dem heissen Wasser und hab sie einfach so geschält. Mein Partner sagte: ‹Du spinnst, die sind brühend heiss!›.» Vor einem Jahr ist Cynthia mit ihm aufs Land gezogen. Das 800-Seelen-Dorf machte ihr den Hof, als sie von den Paralympischen Spielen in Tokio heimkehrte: Apéro, Kuhglocken, Gemeindepräsident. 100 Menschen empfingen sie lautstark, um sie zu feiern. «Das war mega geil», sagt Cynthia.
Parabadminton: auf dem ½ Feld
Anders als im Fussgänger-Badminton wird das Einzel auf halber Breite des üblichen Spielfeldes gespielt. «Wir können uns seitlich nicht so schnell bewegen», erklärt Cynthia. Badminton ist als Sportart schneller als Tennis oder Pingpong. Das Ziel ist es, die Gegner fahren zu lassen. «So wie ihr die Gegner mit langen Bällen laufen lässt», sagt Cynthia Mathez. Das ist ihre grösste Stärke: «Ich bin schnell und kräftig. Das hilft mir bei den langen Ballwechseln.»
Ihre persönliche Nummer 1
«Wir sind eine grosse Familie im Parabadminton», sagt Cynthia. Geld gebe es keines zu verdienen – an Turnieren erhält die Siegerin eine Plastikmedaille. Dafür entstehen tiefe Freundschaften, erzählt sie. Besonders verbunden fühlt die Boningerin sich mit einer thailändischen Spielerin. «Für mich ist sie die Nummer eins, als Mensch und als Spielerin. Ich liebe diese Frau.» Einen engen Austausch pflegen auch die europäischen Athletinnen untereinander. Im Oktober treffen sich mehrere Nationen jeweils zum Trainingslager. «Ohne Coaches», frohlockt Cynthia. «Wir spielen und chillen am Abend zusammen.» An den Turnieren aber, da gelte es ernst. Sie lacht und sagt: «Auf dem Feld sind wir alle Bitches.»
2 Kategorien
Im Einzel kennt das Parabadminton zwei Kategorien: Jene Athletinnen, die bis zu den Beinen gelähmt sind, treten gegeneinander an. Die Höhergelähmten, welche keine Rumpfkraft haben, bilden eine zweite Kategorie. Im Doppel gibt es keine Unterscheidung dieser beiden Kategorien. «Weil wir in der zweiten Kategorie die Kraft im Rumpf nicht haben, sind wir weniger schnell. Das macht viel aus in unserem Sport», erklärt Cynthia.
Rang 4
Mit ihrer Doppelpartnerin Karin Suter-Erath blieb Cynthia Mathez an den Olympischen Spielen die undankbare lederne Auszeichnung. Doch Cynthia sagt: «Das war unser höchstes Ziel – mehr war nicht realistisch.» Die asiatischen Mannschaften sind für die Europäerinnen kaum zu schlagen. «Sie trainieren ganz anders, leben im Trainingszentrum mit ihrer ganzen Familie», erzählt Cynthia. In Europa war das Schweizer Duo das Mass aller Dinge: An der EM feierte es mit der Goldmedaille seinen grössten Erfolg. Mit 50 Jahren geht Karin Suter-Erath nun in «Pension», wie Cynthia sagt. Ihre neue Doppelpartnerin steht bereits in den Startlöchern.
Im Einzel wurde der Schweizerin an den Paralympics eine schwierige Gruppe zugelost. Gegen eine chinesische Konkurrentin war Cynthia Mathez nahe an der Sensation, eine scheinbar übermächtige Gegnerin zu bezwingen. Das Dreisatzspiel dauerte über eine Stunde: «Ich hätte gewinnen können, aber im Kopf war ich nicht bereit dazu.»
5 Jahre lang …
… drehte sich im Leben von Cynthia Mathez alles um die Paralympischen Spiele. Jedenfalls fast: Die Boningerin kann mit ihrem Partner abschalten. «Für ihn ist Sport Mord», sagt sie, lacht und scherzt: «Ich glaube, er kennt nicht einmal die Regeln vom Parabadminton.» Darum störte es sie überhaupt nicht, dass ihr Partner sie nicht nach Tokio begleiten konnte.
In Cynthias Alltag aber drehte sich alles um die Spiele in Japan. «Du stehst auf und denkst an die Paralympics, du isst und denkst an die Paralympics», sagt Cynthia Mathez, bald drei Wochen, nachdem sie aus Japan heimgekehrt ist. «Darum bin ich auch froh, ist der ganze Druck weg.»
10 Turniere …
… bestritten die Schweizer Doppelpartnerinnen ab 2019, um sich für Tokio 2020 zu qualifizieren. Dafür mussten sie zu den besten sechs Teams der Welt gehören. «Wir durften bei all den Turnieren nicht unsere Taktik verraten, um für die Paralympics einen Joker offen zu haben», sagt Cynthia.
Zwischen 12 und 15 Stunden …
… Schlaf benötigt Cynthia Mathez pro Nacht, seit sie an den Symptomen der Multiplen Sklerose leidet. An einem Turnier kann sie ihren Schlafbedarf nicht decken. «Das Adrenalin und das Mentale helfen mir, dass ich dies aushalte. Ich zwinge meinen Körper, etwas zu machen, was er nicht will. Er will nur pennen», sagt sie. «Aber wenn ich heimkehre, bin ich jeweils eine Woche todmüde und muss den Schlaf nachholen.»
20 bis 25 Stunden …
… trainiert Cynthia Mathez jede Woche verteilt auf sechs Wochentage – den Sonntag ausgenommen. Mit ihrem umgebauten Auto ist sie vollständig autonom und kann zu den Trainings in Birr, Luzern und Nottwil fahren. Weil ihr das Gefühl in den Händen fehlt, musste sie das Spiel mit dem Schläger neu erlernen. Wie fest sie ihn halten muss, wie stark sie schlagen kann je nach Situation: «Vieles erlerne ich mit den Augen.»
Paris 2024
In drei Jahren möchte Cynthia Mathez erneut an die Paralympischen Spiele fahren. Gemeinsam mit der 21-Jährigen Ilaria Renggli arbeitet sie in den kommenden drei Jahren an diesem Ziel. Zu ihrer neuen Partnerin sagt Cynthia: «Sie ist sehr stark und hat grosses Potenzial.»