«Jetzt führe ich Interviews mit Menschen, die genau solche Dinge erlebt haben»
Es scheint manchmal, als ob die Pandemie alle anderen Sorgen dieser Welt aus unserem Bewusstsein verdrängt hätte. Kein Tag vergeht, ohne dass das dreisilbige Wort auf der Titelseite der Zeitungen gedruckt steht. Gut möglich, dass dies in Thessaloniki vordergründig nicht anders ist.
«Viele Menschen hier haben keine Angst vor Corona, sondern davor, ihren Job zu verlieren und dass die Pandemie Griechenland wirtschaftlich wieder zurückwirft», sagt Jana Schmid in die Videokamera ihres Laptops. Sie sitzt im ausgebauten Lieferwagen, mit dem sie im Dezember gemeinsam mit ihrem Freund Benj nach Griechenland gefahren ist.
Jana wuchs in Aarburg auf, studierte nach der Kanti in Bern Jura. Ein halbes Jahr nach ihrem Masterabschluss zur Juristin zogen sie und ihr Freund los. Trotz Corona. «Wir sagten uns: Abstandhalten geht unterwegs vielleicht sogar besser als zu Hause, Abgelegenheit mögen wir ohnehin, genauso langsames Reisen», schreibt Jana auf ihrer Plattform erzaehlt.com, auf welcher sie und Benj Reportagen und Gedanken teilen.
Seit November geht Griechenland einen repressiven Weg, um das Virus einzudämmen. Ein Lockdown, den die Regierung von Woche zu Woche verlängert. Die Polizeipräsenz sei enorm und die Regeln seien streng, harte Bussen drohen, erzählt die 26-Jährige. Die Art und Weise, wie die Massnahmen durchgesetzt werden, ist für sie ungewohnt. Auf ihrer Plattform schreibt Jana in einem Beitrag:
«Der Lockdown in Griechenland lässt alle ein klein wenig spüren, wie ein Leben ohne Papiere sein könnte – und dann gibt es noch jene, die wirklich ohne Papiere leben.»
In der griechischen Metropolregion mit über einer Million Einwohnerinnen ist Covid für viele Menschen nicht die grösste Sorge. Thessaloniki ist durch seine Nähe zur Türkei ein Tor zum Osten und hier macht sich der Weg der Abschottung spürbar, den Europa nach den grossen Fluchtbewegungen von 2015 eingeschlagen hat. Seit dem EU-Türkei-Abkommen ist die Route über den Balkan weitgehend unterbunden. Im Gegenzug leistet die EU Gelder an die Türkei, damit diese die geflüchteten Menschen versorgen kann. Trotzdem gelangen viele Flüchtlinge von den Inseln und über den Grenzfluss Evros auf das griechische Festland, wo sie ihr Glück versuchen. 2019 stellten gemäss Aida (Asylum Information Database) gut 77’000 Menschen in Griechenland einen Asylantrag. Zum Vergleich: In der Schweiz waren es leicht über 14’000. Viele Menschen finden in den offiziellen Camps keinen Platz und landen auf der Strasse. Recht auf Asyl mögen sie haben oder nicht – ein Menschenrecht, Asyl zu erhalten, gibt es nicht. Aber es gibt das internationale Recht, einen Asylantrag zu stellen und somit ein Verfahren zu kriegen. Staaten sind verpflichtet, dieses Recht allen Menschen zu gewähren, die auf ihrem Staatsgebiet darum ersuchen. Oftmals wird dieses Recht jedoch übergangen und Flüchtlinge werden illegal zurückgeführt.
«Ich hatte schon länger im Kopf, mal in Griechenland Freiwilligenarbeit leisten zu wollen», sagt Jana. Während drei Monaten arbeiten sie und ihr Freund Benj in den beiden Nichtregierungsorganisationen Wave Thessaloniki und Border Violence Monitoring Network. Die eine Organisation führt eine Art Gassenküche für Menschen, die auf der Strasse leben; die andere dokumentiert illegale Rückführungen der Staaten – sogenannte Pushbacks. Jana hilft mit, die englischsprachigen Berichte zu verfassen. Die Organisation tut dies, indem sie Menschen interviewt und ihre Pushback-Erfahrungen festhält. In Thessaloniki handelt es sich oft um Rückführungen von Nordmazedonien zurück nach Griechenland oder aus Griechenland in die Türkei. Es gäbe aber auch Fälle von Kettenabschiebungen, bei welchen Menschen nacheinander von verschiedenen europäischen Staaten über Grenzen geschoben werden, erzählt Jana. «Als ich in der Schweiz diese Berichte las, war ich etwas kritisch und hatte das Gefühl, sie suchen einfach die hässlichsten Geschichten von Menschen, die brutale Sachen erlebt haben. Jetzt führe ich Interviews mit Menschen, die genau solche Dinge erlebt haben», sagt Jana.
Wie hat sich deine Perspektive auf die Flüchtlingsthematik in Griechenland verändert?
Schon in der Schweiz habe ich mich damit beschäftigt. Im Studium legte ich den Fokus aufs Migrationsrecht und Menschenrechte. Ich nehme die Flüchtlingsthematik als das grösste Problem wahr, das auf Europas Schultern lastet, und glaube, dass wir alle dafür verantwortlich sind. Ganz Europa hat dies verkackt. Verändert hat sich für mich der Blick durch die Polizeigewalt, die ich mitkriege und die mich einfach nur schockiert. Europa schottet sich ab und das ist nicht in Ordnung, aber darüber kann man diskutieren. Die Art und Weise, wie es dies tut, ist einfach nur schockierend. Die Willkür war mir vorher schon bewusst; was dies im Einzelfall für Auswirkungen hat, sehe ich nun. Viele Menschen hätten im rechtlichen Sinn zweifelsfrei einen Flüchtlingsstatus. Nur gibt es keinen Staat, der sich dazu bequemt, ihren Fall anzuschauen. Und das bewirkt, dass sich diese Person illegal irgendwo verstecken muss.
Nach den grossen Migrationsströmen 2015 ist es in der Schweiz rund um die Flüchtlingsthematik weitgehend ruhig geworden. Wie nimmst du es vor Ort wahr?
Das Problem hat sich nicht abgeschwächt. Ganz viele Menschen stecken hier fest. Das griechische Asylsystem ist total überfordert. Bis die Flüchtlinge ein Asylverfahren kriegen, dauert es Monate oder Jahre. Griechenland hat seit dem Rechtsrutsch 2019 ein restriktiveres Asylgesetz. Die Balkanroute ist zu. Die EU hat mit der Türkei einen Deal abgeschlossen und versucht die Menschen fernzuhalten. Sie werden äusserst brutal daran gehindert, weiterzugehen. Ich habe bei der Arbeit vor allem mit Männern zu tun, die alleine unterwegs sind, sich illegal hier aufhalten und keinen Platz in Camps finden.
Europa ist weit davon entfernt, eine Lösung zu finden, die Migrationsströme zu stoppen. Die Abschottung hat die Probleme bloss verlagert. Was wäre für dich ein möglicher Ausweg?
Ich finde es schwierig, mich in diesem Diskurs zu positionieren. Was würde geschehen, wenn man die Grenzen öffnen würde? Wahrscheinlich würden sehr viele Menschen kommen. Daraus ergäbe sich wohl zuerst ein schwieriger Moment, aber dann würde es sich ausbalancieren. Europa wäre dann vielleicht nicht mehr so viel attraktiver. Davor hat man Angst, denn wir leben in einer Blase, in der sehr viel mehr Wohlstand da ist als in der sonstigen Welt. Viele Probleme werden geschaffen, indem Menschen illegalisiert und kriminalisiert werden. Und dann gibt’s noch den menschlichen Aspekt: Vielleicht gibt es einen Grund, Grenzen zu haben. Aber diese auf brutale Art und Weise zu verteidigen, ist nicht okay. Menschen in Länder zurückzuschicken, wo ihnen Folter droht, ebenso wenig.
Bürgerliche stellen sich auf den Standpunkt: Viele Wirtschaftsflüchtlinge würden womöglich weniger Elend erleiden, wenn sie nicht migrieren würden.
Jeder Mensch hat das Recht zu migrieren. Ein gutes Gedankenexperiment finde ich, zu überlegen, was es brauchen würde, dass ich meine Heimat hinter mir lassen und weggehen würde. Dazu würde es viel brauchen. Ich glaube, sowas macht man nicht ohne Leidensdruck. Ich kann mich in meiner idealen Welt fast überallhin bewegen. Nur schon, dass wir jemanden als Wirtschaftsflüchtling und jemand anderen als politischen Flüchtling kategorisieren, impliziert Ungleichheit. Aber ja, derzeit wird dieser Unterschied rechtlich gemacht. Darum mag es sein, dass viele Menschen mit falschen Vorstellungen nach Europa kommen.
Leistest du auch Aufklärungsarbeit und informierst die Menschen, wenn sie schlechte Aussichten auf den Flüchtlingsstatus haben?
Ich mache keine Rechtsberatung, aber im Einzelgespräch mit den Menschen weise ich sie schon darauf hin. Ich weiss von Menschen, die verprügelt und inhaftiert wurden. Sie hatten kein Recht auf einen fairen Dialog und waren von Beginn weg der Gewalt ausgesetzt. Das finde ich schockierend.
Bei eurer Arbeit zeichnet ihr die Geschichten der Menschen auf, die ohne Recht auf einen Asylantrag zurückgeschafft wurden. Wie könnt ihr belegen, dass die Schilderungen «wahr» sind?
Wir versuchen die Berichte so zu formulieren, dass sie möglichst als Beweis verwendet werden können, und befragen die Menschen möglichst detailliert. Wenn vorhanden, dokumentieren wir die Berichte mit Bildern oder anderen Nachweisen wie beispielsweise medizinische Atteste von Verletzungen. Am Ende stützen wir uns immer noch auf Interviews – das ist, was wir machen können.
Welche Wirkung kannst du mit den Berichten erzielen?
Nur schon, dass es einzelnen Personen hilft, wenn sie ihre Erlebnisse erzählen können, empfinde ich als positiv. Wir versuchen mit unseren Berichten politisch etwas zu bewirken. Im europäischen Parlament wurden im Dezember zwei dicke Bücher veröffentlicht, «The Blackbooks of Pushbacks». Momentan passiert auch relativ viel an europäischen Gerichten. Frontex hat sich etwa von der ungarischen Grenze zurückgezogen, weil die Beweislage von illegalen Pushbacks erdrückend wurde. Unsere politische Arbeit ist ein kleines Rad von vielen.
Wie gehst du mit den täglichen Erlebnissen um?
Ich bin viel am Arbeiten und dabei sehr fokussiert. Mein Hirn ist richtig leistungsfähig, weil ich merke, dass meine Arbeit viel Sinn ergibt. Aber ich merke, dass ich kaputt wäre, wenn ich diese Arbeit jahrelang machen würde. Die brutalen Geschichten sind neu für mich und ich muss herausfinden, wie ich damit umgehen kann.
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Eigentlich schade, dass Jana und Benj in ihrem Lieferwägelchen kein Plätzchen mehr für einen zusätzlichen Passagier gefunden haben. Sozusagen als Schlepper in die Gegenrichtung. Ich denke da an die politisch verhaltensauffällige Frau Martina B. aus Aarburg, die im Städtchen eine nachhaltige Abwehrkultur aufgebaut hat und nach einem One-Way-Trip nach Griechenland sicher einen Job bei Frontex gefunden hätte. Als Mittäterin bei der Push-Back-Politik der EU-Migrationsabwehr-Agentur, wo wir als Schweizer Steuerzahler ja wacker mitbezahlen. Uebrigens: Vor vier Tagen – vor 150 Jahren freilich – sind gerade die letzten der 87’000 französischen Soldaten-Flüchtlinge mit ebensoviel menschlicher Wärme wie persönlichen Opfern der ohnehin armen Bevölkerung in der Schweiz aufgenommen und gerettet worden. http://www.freystefan.ch