Lustige Absagen, Disco-Barrieren und der kontrollierte Kontrollverlust
1. «Wisst ihr, was Mäusebussard auf Französisch heisst?»
Romanfigur Filipp in Max Küngs neuem Buch «Fremde Freunde», 2021
Als ich KOLT-Chefredaktor war, hatten wir im monatlichen Heft jeweils eine Gastkolumne. Einmal fragte ich Max Küng an, den bekannten und langjährigen Kolumnisten des Magazins vom «Tages-Anzeiger», ob er einen Beitrag zum Thema Olten beisteuern möge. Seine Absage war so erfrischend, dass ich sie in meinem digitalen Notizbuch aufbewahrt habe. Er antwortete mir: «Ich würde gerne für das sympathische Kolt schreiben, aber leider ist es so, dass ich zurzeit sehr, sehr faul bin.»
Küng ist immer noch Magazin-Kolumnist, seit 1998 schreibt er schon für die wöchentliche Beilage, und seit einer Weile schreibt er auch Bücher. Kürzlich erschienen: «Fremde Freunde». Drei Paare, drei Kinder, ein Ferienhaus in Frankreich. Die Kinder sind beste Freunde, die Eltern sollens in den Ferien werden. Wobei die Gastgeber Jean und Jacqueline mit der Einladung in erster Linie ein anderes Ziel verfolgen. Schon der Klappentext verrät: «Doch leider kommt es dann, wie es oft kommt: Ganz, ganz anders.» Das Buch aber ist, wie man es von Küng erwartet: schön in der Sprache, leger im Stil und freundlich-subtil in der Gesellschaftskritik, was in der Summe herrlich präzise Profile der verschiedenen Personen und ihrer Beziehungen ergibt. Man wähnt sich regelmässig in einem (guten) Woody-Allen-Film. Dem Witz frönt Küng auch ganz explizit: Als ein Mäusebussard über ihren Obstgarten fliegt, fragt Filipp, ein mässig erfolgreicher Schauspieler und der Vorlaute der Ferienrunde, ob jemand wisse, wie dieser Vogel auf Französisch heisse. Und löst dann selbst auf: «Le Musée des Beaux-Arts».
Die 430 Seiten sind dann aber plötzlich etwas viel, zumal das letzte Kapitel inhaltlich und formal abfällt. Vermutlich wurde Max Küng nach so viel Arbeit etwas faul.
2. «Jaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa!»
Alle Schweizerinnen und Schweizer beim Tor von Mario Gavranovic, 89. Minute
Auf einen Schlag war die Corona-Pandemie weit weg. Tausende Menschen im Stadion, Public Viewings, Jubelgesänge, Umarmungen mit wildfremden Menschen, die ganz grossen Emotionen. Das Timing der Fussball-EM war irgendwie surreal. Epidemiologen fanden den Zeitpunkt fürchterlich, für ganz viele Menschen kam die Euro gerade recht. Nach bald anderthalb Jahren Pandemie, nach einem harten Winter mit langen Monaten des Lockdowns war das menschliche Bedürfnis nach dieser Ausgelassenheit rund um den Kontinent und auch in der Schweiz enorm. Was hatte sich da alles aufgestaut in den letzten Monaten, und dann schiesst Mario Gavranovic in dieser 89. Minute dieses Tor gegen Frankreich und ein Land explodiert. Die kollektive Ektase als exaktes Gegenteil zum Lockdown. Dokumentiert in zahlreichen Videos, die für Ausserirdische wohl schwierig zu verstehen wären. Man kann beim Betrachten dieser Bilder zum Schluss kommen, dass der Mensch ein sonderbares Wesen ist: Ein Ball fliegt in ein Netz, und alle drehen durch. Doch die vermeintliche Nebensächlichkeit macht die Sache für mich noch schöner. Das Wunderbare ist die Echtheit und Intensität der Emotion. In einer zivilisierten Welt voller Kalkül, Konvention und Kontrolle tut es irgendwie gut, den Menschen in diesem unverfälschten Zustand zu sehen. Kontrollierter Kontrollverlust nennt das die Wissenschaft. Man kann die Videos dreissig Mal schauen und entdeckt jedes Mal aufs Neue urkomische Reaktionen. Jede und jeder für sich im eigentlich intimen Moment des Gefühlsausbruchs und doch alle zusammen, vereint in der kollektiven Ekstase: «Jaaaaaaaaaaaa!» Besonders intensiv gehen bekanntlich die Engländer mit. Im Guten wie im Schlechten.
PS: Zusammen singen tun sie auch gerne. Das gilt insbesondere für die lange leidgeprüften Liverpool-Fans. Nette Hintergrundgeschichte dazu: Wie ein Gesang durch Europa ging.
3. «Wenn es eine Antwort auf das Problem der Kontrolle gibt, wird es noch mehr Kontrolle sein.»
Journalistin Elizabeth Kolbert im Buch: Under a white sky: The nature of the future, 2021
Die Amerikanerin Elizabeth Kolbert schreibt seit Jahrzehnten Texte über die Natur und den Menschen und hat damit auch den einen oder anderen Pulitzerpreis gewonnen. In ihrem neusten Buch geht es um Kontrolle: Der Mensch manipuliert die Umwelt, um sie zu kontrollieren, erschrickt ob der ungewollten Konsequenzen, versucht dann diese krampfhaft unter Kontrolle zu bringen, es folgen weitere Katastrophen, der Mensch verliert die Kontrolle vollends. Ein besonders frappantes Beispiel aus Chicago: Damit der Müll und das Abwasser nicht in ihren geliebten Lake Michigan flossen, planten die Chicagoer 1892 ein Jahrhundertprojekt: Sie gruben monströse Kerben durch die Landschaft und kehrten den Fluss um, so dass er den ganzen Dreck der Grossstadt statt in den See neu nach Süden transportierte und schlussendlich im Mississippi-Delta ins Meer ergoss. Nur stellten sie damit das ganze hydrologische Profil der USA auf den Kopf, mit Folgen bis heute. Aktuell kämpfen sie mit einer Invasion von gefrässigen Karpfen, die etliche andere Fischarten im Lake Michigan auszurotten droht – und die ohne die Umkehrung des Flusses nie den Weg nach Norden gefunden hätten. Die Lösung? Mehr Kontrolle. So pumpen sie hunderte Millionen Dollar in Barrieren – aus Gift, aus Strom, aus Lärm, aus Luftblasen. «Disco-Barrier», sagen die Chicagoer. Und in fünfzig Jahren darf die nächste Generation dann die ungewollten Folgen der Disco-Barriere ausbaden. But the show must go on!
Buch: Under a white sky: The nature of the future. Elizabeth Kolbert. Crown Verlag. 2021
4. «Wenn ich Berichte über mich lese, denk ich oft: ‹Wow, wer ist das, diese Frau ist mega toll – ich bins nicht.›»
Radrennprofi Marlen Reusser im Podcast Fokus von SRF 3, 10. Mai 2021
Marlen Reusser aus dem Emmental, die Wunderfrau, 29 Jahre alt. Diese Woche gewann sie in Tokyo Olympiasilber im Rad-Zeitfahren, bei Olympia vor fünf Jahren in Rio de Janeiro war sie noch nicht mal Radrennfahrerin. Zuvor war sie Chirurgin am Spital Langnau, Präsidentin der Jungen Grünen im Kanton Bern und noch früher ein grosses Geigentalent. Die Olympiamedaille zeigt: Dieser Frau gelingt alles. Und wie sie danach zum Interview antritt – diese Lockerheit! Diese Lebensfreude! Das einstige Buremeitschi ist eine aussergewöhnliche Erscheinung und schreibt eine Märchengeschichte. Und weil die Medien Märchengeschichten lieben, blenden sie die Schattenseiten aus und vermitteln verzerrte Realitäten und den jungen Leuten, die nach Vorbildern dürsten, falsche Vorstellungen. Sagt Marlen Reusser selbst, in diesem sehr hörenswerten Podcast der Sendung Fokus von SRF 3. Darin geht es ihr vor allem darum, mit dieser perfekten Heldengeschichte aufzuräumen; ihr Leben als Teenie, sagt sie, war ein Knorz. Sie will nicht, dass die heutigen Jugendlichen das scheinbar einfache und erfolgreiche Leben einer Marlen Reusser, wie die Medien es erzählen, als Vorbild nehmen – denn genau dieser Druck führe zum Knorz. Das stündige Gespräch lässt mich fasziniert zurück: Da tritt jemand an, um den eigenen Heiligenschein zu demontieren und tut selbst das auf solch menschliche, selbstreflektierte und eloquente Weise, dass dieses Vorhaben ironischerweise gar nicht recht gelingen kann. Kurz: Marlen Reusser for President.
PS.
Das Bild zum Satz: «In den 90er-Jahren war das Leben bunt und sorglos und die Pandemie eine komische Übung.»
Kürzlich war ich in einem sogenannten GOPS, einer Geschützten Operationsstelle. Es ist eine Art unterirdisches Spital für den Krisenfall, ein Relikt aus früheren Krisenzeiten, heute existieren schweizweit nur noch einige wenige, in den Katakomben von regulären Spitälern. Der GOPS-Besuch ist eine Zeitreise. Die Geräte, die Einrichtung: Vintage pur. Auch diese Anschrift: «Pandemie». Einige Räume sind so angeschrieben, darin Betten für die möglichen Virus-Erkrankten. Das Schild selbst soll aus einer Übung aus den 90er-Jahren stammen. Word-Art in Rotorange für «Pandemie»? Die sorglosen Menschen in den 90er-Jahren hatten gut lachen.
* Pierre Hagmann war erster Chefredaktor von KOLT, stammt aus Olten und blickt heute von Bern auf die schöne, komische Welt.
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