Man muss im Alltag richtig aufpassen, dass man nicht stolpert. So viel Innovationen überall. Der Begriff tritt geradezu inflationär auf und hat sich in unserer Gesellschaft zum Schlagwort der Stunde entwickelt. Kaum ein Unternehmen, das nicht unablässig damit beschäftigt ist, seinen Innovationsgeist zu betonen. Oft mit dem Verweis auf die Digitalisierung. Übrigens ein Beispiel aus derselben Kategorie: Ein Wort, das eine Menge heissen kann, oder aber auch rein gar nichts.
Vom Trinkstrohhalm aus Bambus über die spezialisierte App, mit der sich der Inhalt der Frischhaltebox im Kühlschrank digital notieren lässt, bis zum elektrisch angetriebenen Auto. Dies alles leuchtet unter dem hellen Stern des Innovativen, und weil das I-Wort dermassen oft fällt und mantrahaft wiederholt wird, gehen wir ohne zu reflektieren davon aus, dass wir es mit der Wahrheit zu tun haben müssen. Dass beispielsweise die Elektromobilität vor mehr als 130 Jahren schon in den Startlöchern stand, kann da leicht mal vergessen gehen. Nicht selten handelt es sich bei sogenannten Innovationen um alten Wein in neuen Schläuchen, und es stellt sich erst bei zweitem Hinsehen heraus, dass die Innovation vor allem in der Marketingabteilung zu finden ist. Bei Leuten, die es gewohnt sind, sich Dinge herbeizureden. Hand aufs Herz: Der Innovationsbegriff schmeckt wie die Tomaten aus dem spanischen Gewächshaus, die zwar wunderbar aussehen, aber ungehörig fade schmecken. Höchste Zeit also, Innovation neu zu denken.
Dieser Ansicht ist Zukunftsforscher und Buchautor Joël Luc Cachelin, wobei er den Begriff der Innovation aus der Vereinnahmung durch Werbung und Wirtschaft befreit und ihn weiter fasst. Er denkt Innovation als Erneuerung des politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Systems. Während Cachelin für Kolt in seinen Zukunftskolumnen vorausschaut und sich die Frage stellt, welches Potenzial eine neu gedachte Zukunft für Olten und seine Region entfalten könnte, begleitet und berät er in seinem Beruf als Zukunftsforscher Unternehmen in Zukunftsfragen. Ende Januar erschien das neueste Buch des Futuristen unter dem Titel «Antikörper». Es nimmt sein Publikum mit auf eine Zeitreise in eine Zukunft, die nicht nur eine verlängerte Gegenwart ist, sondern deren Geschichte erst noch erzählt werden will. «Willkommen an Board», begrüsst der Reisebegleiter und «Maître de Cabine» seine Passagiere auf den ersten Seiten des Buchs. Im Grunde genommen sind es deren drei Reisen, auf die Zukunftsforscher und Reisebegleiter Cachelin einlädt.
Clusterfuck: gleichzeitiges Auftreten von mehreren Problemen, Katastrophen oder eben Infekten (von Körpern, Medien, Unternehmen und Maschinen)
Aus dem Glossar von «Antikörper»
Erste Destination ist die Gegenwart. Eine Gegenwart, die nur so von Scheininnovationen strotzt. Der Autor macht eine Fortschrittskrise aus. Er sieht die Menschheit gefangen im «Wartsaal der Zukunft», wenn er schreibt: «Statt Mobilität, Energie, Solidarität, Kommunikation, Finanzierung und Ernährung neu zu erfinden, halten wir an Autos, Atomkraft, Nationalstaaten, sozialen Medien, Banken und Fleisch fest.» Dabei entblösse die Pandemie, wie verwundbar unsere Zivilisation sei, und decke die «Entzündungen unserer Zivilisation» auf. Entzündet seien, so Cachelin, «die Körper, Unternehmen und Medien, weil wir Grenzen missachten». Diese Grenzüberschreitungen würden sich unter anderem in unserem Umgang mit Tieren, in der Landwirtschaft oder auch in der Kommunikation auf sozialen Netzwerken äussern. Um die Gegenwart besser verstehen zu können, bedarf es eines Blicks in die Vergangenheit, in die zweite Reisedestination. Das Augenmerk des Autors liegt dabei auf einer Krankheit, der Geissel der Menschheit schlechthin: der Pest.
Die Pest, welche vom Mittelalter bis in die Neuzeit in drei Epidemien über die Menschheit hereinbrach, bezeichnet Cachelin als «Anfang der Entstehung des gesellschaftlichen Immunsystems». Drei von vier neu auftretenden Infektionskrankheiten seien Zoonosen, bei denen die Erstübertragen von einem Tier auf den Menschen erfolge. Daher sei die wichtigste Aufgabe dieses Immunsystems, «Ansteckungen an den Schnittstellen von Menschen, Tieren und Pflanzen zu verhindern». Dazu seien Innovationen gefragt in der Ernährung, in der Land-, Vieh- und Forstwirtschaft. «Das erneuerte gesellschaftliche Immunsystem federt die wirtschaftlichen Schäden von Clusterfucks ab. Es sichert uns vor volkswirtschaftlichen Schocks aller Art – infolge neuer Viren, des Klimawandels, einer um 15 oder 50 Jahre gesteigerten Lebenserwartung, einer Energiekrise, eines Megavulkanausbruchs oder eines global wütenden Computervirus.»
Grauer Thomas: Thomas ist der häufigste Name von Schweizer Verwaltungsräten, Thomas-Kreislauf führt zu noch mehr Thomassen
Aus dem Glossar von «Antikörper»
Dritte und letzte Destination der Leserreise ist schliesslich die Zukunft. Als wichtige Hilfsmittel, um die Verbindung zwischen Maschinen, Menschen, Tieren und Pflanzen sichtbar zu machen, bezeichnet Cachelin Sensoren, das Internet der Dinge, Satellitenbilder und Smartphones. Das Sammeln von Daten könne Entzündungen in der Gesellschaft ohne grosse Eingriffe frühzeitig lindern. In der zukunftsweisenden Aufgabe des Datensammelns beziehungsweise der Datenauswertung sieht der Autor zudem eine Chance für Europa, die Innovationsführerschaft zu übernehmen und sich aus der Abhängigkeit von den USA und China zu befreien. Neue Technologien sind das eine, eine neue Denkweise das andere. Das beschriebene neue Mindset «vereint Bescheidenheit und Ökologie mit der Lust auf Innovation, verknüpft Zukunft mit Vergangenheit. Grüne und digitale Transformation wachsen zusammen».
Cachelins Analysen, Ausführungen und Schlussfolgerungen sind geschickt mit dem Thema der Stunde – ja des Jahrzehnts – verwoben. Die Analogie zum Virus dürfte sich als cleverer Schachzug erweisen, nicht zuletzt aus Marketingsicht. «Antikörper» liest sich angenehm flüssig. Der Informationsgehalt auf relativ bescheidener Seitenzahl ist beeindruckend. Die Gedankengänge von Joël Luc Cachelin eröffnen neue Sichtweisen auf aktuelle Diskussionen. Der Grat zwischen Realität und Utopie mag zuweilen ein schmaler sein. Für die Zukunft, wie Cachelin sie zeichnet, dürften eine, wenn nicht mehrere globale Revolutionen nötig sein. Ob die Menschheit dafür bereit ist? Schwer vorstellbar, wenn man sich vor Augen führt, dass in einem Zwergstaat wie der Schweiz sich zwei Dutzend Kantone nicht auf ein koordiniertes Handeln bei einem globalen Clusterfuck wie Covid-19 einigen können. Nach Ansicht des Autors ist mit der jüngsten Pandemie jedoch ein entscheidender Wendepunkt in der Geschichte gekommen, der ein umfassendes Umdenken auslösen wird, ja auslösen muss. Das Virus als Saatkorn eines neuen Innovationsverständnisses. Voraussetzung dafür sei es, «exponentiell, viral und zirkulär zu denken», das heisst, die Welt in grösseren Dimensionen und grösseren Zusammenhängen zu betrachten.
Infodemie: zusammengesetzt aus Information und Pandemie – wenn Lügen und Halbwahrheiten das Internet verseuchen
Aus dem Glossar von «Antikörper»
Es geht aber auch eine Nummer kleiner. Mit beiden Füssen am Boden und den Zeilen des Autors vor Augen kann Cachelins Einladung, die eigene Zukunft neu zu denken, als Anstoss verstanden werden, das Hier und Jetzt zu nutzen und an sich selbst zu arbeiten. «Antikörper» ist eine lohnenswerte Lektüre, die ab der ersten Seite fesselt und Reisefieber aufkommen lässt. Cachelin gelingt es, Neugierde zu wecken und Mut zu machen, sich mit festgefahrenen Gedankengängen kritisch auseinanderzusetzen und von Menschen gemachte Gegebenheiten nicht als Naturgesetze hinzunehmen. Wortkompositionen wie der «Clusterfuck» werden im enthaltenen Glossar neben weiteren Begrifflichkeiten wie «Grauer Thomas» oder «Infodemie» in wenigen Worten verständlich erklärt. Die Lektüre regt an, sich selbst im Spiegel zu betrachten. Denn Innovation neu zu denken, ist nur dann möglich, wenn sich der Mensch anders denkt.
Aber wie stellt man das an? Wir haben bei Joël Luc Cachelin nachgefragt.
Der Mensch liebt die Gewohnheit. Wird die Erfahrung der Pandemie daran etwas ändern können?
Kurzfristig haben wir alle unsere Gewohnheiten schon ändern müssen. Wir tragen Masken in Zug und Bus, arbeiten vermehrt von Zuhause aus, kaufen im Internet ein. Wie viele dieser Veränderungen sich halten werden, wissen wir wohl aber erst in zehn Jahren.
Sind Sie der Meinung, dass wir an einem historischen Wendepunkt stehen?
Auch diese Frage lässt sich heute nicht beantworten. Dagegen spricht für mich, dass die Ursachen des Virus viel zu wenig thematisiert werden. Wir müssten insbesondere über die Verhältnisse von Menschen und Tieren sprechen.
Welchen Stellenwert nimmt die Technologie bei der Transformation ein?
Für unsere Zukunft spielt Technologie sicher eine wichtige Rolle – auch für die Stärkung des gesellschaftlichen Immunsystems, wie ich es im Buch beschreibe. Aber Sensoren und Satelliten reichen nicht. Noch wichtiger ist ein neues «Mindset», eine neue Einstellung gegenüber Innovation – die zum Beispiel die Tiere, das in Daten versteckte Wissen oder auch unsere Erkenntnisse der Vergangenheit besser berücksichtigt. Diese Woche erschien eine Studie, die zeigt, warum uns im Umgang mit Covid-19 die Erfahrungen mit der Spanischen Grippe hätten helfen können.
Im Buch sind einige Bezüge zu Filmen und Serien zu finden. Wie viel Realität steckt in diesen fiktionalen Geschichten?
Serien und Filme sind immer auch eine Beschäftigung mit der Gegenwart, mit unseren Hoffnungen, Ängsten und Visionen. Von dem her gibt es sicher eine Menge Gegenwart in Science-Fiction-Erzählungen.
Wie wird man eigentlich Zukunftsforscher?
Das war kein bewusster Entscheid und hat sich über die Jahre so ergeben. Mein Vater war schon von der Zukunft begeistert, hat uns früh Laptops und Internet nach Hause gebracht. Ich habe dann im BWL-Studium begonnen, mich mit den Kräften zu beschäftigen, die ein Unternehmen verändern. Vor zwölf Jahren gründete ich die Wissensfabrik, um meiner Passion jeden Tag nachgehen zu können.
Antikörper – Innovation neu denken
Stämpfli Verlag, Kartonierter Einband, 116 Seiten
ISBN: 978-3-7272-6080-3