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Navigationsschwierigkeiten, mit Ueli im Dreitannendorf und Absurdes aus Amerika

4 Sätze, die mir diesen Monat zu denken gaben: Der moderne Serienheld ist lieb und trägt Schnauz, der Bundesrat kämpft mit sich selbst und die Shuffle-Funktion gehört abgeschafft.
1. Oktober 2021
Text: Pierre Hagmann*

1. «Exactamundo, Dikembe Motumbo»

Jason Sudeikis als Ted Lasso in der gleichnamigen Serie (2021)

Ted Lasso, der amerikanische American-Football-Coach, der eine englische Fussballmannschaft trainiert, ist die Serienfigur der Stunde. Apple TV hat kürzlich die zweite Staffel der gleichnamigen Serie («Ted Lasso») geschaltet und hofft, damit den riesigen Rückstand auf Netflix wieder ein Stück verkleinern zu können.

Wahrscheinlich können sie bei Apple TV selbst nicht fassen, dass ihnen ausgerechnet mit Ted Lasso ein kleiner Welthit gelungen ist. Dieser durch und durch liebenswürdige Schnauzträger, fern von jeder Ironie und immer für einen saftigen Spruch im breitesten Kansas-Dialekt gut. Ted Lasso antwortet auf simple Fragen nicht mit simplen Antworten wie «Yes», er sagt lieber absurde Dinge wie «Exactamundo, Dikembe Motumbo» und nervt dabei nicht mal. Er trainiert also eine englische Fussballmannschaft in der Premier League, obwohl er keine Ahnung von Fussball hat. Irgendwann wird dann auch klar, wieso er das tut, aber eigentlich ist das Nebensache. Hauptsache, wir amüsieren uns, die Pandemie ist weit weg und Ted Lasso verbreitet gute Stimmung und die Geschichte um AFC Richmond, so heisst sein Team, plätschert fröhlich vor sich hin – hin und wieder arg überzeichnet, dann wieder mitten aus dem Leben und wirklich lustig. Jason Sudeikis hat dafür einen Golden Globe als bester Serien-Schauspieler gewonnen. Seine Figur Ted Lasso taucht mittlerweile in Meditations-Apps auf («Die Ted-Lasso-Challenge: So kultivieren Sie Ihre Herzensgüte»), und das Internet ist voll mit Best of Ted Lasso-Quotes. Wie hat er das geschafft? «Weniger Ironie, mehr Wärme», titelte «Das Magazin» kürzlich treffend in einer Kolumne. Wir sollten alle ein bisschen mehr Ted Lasso sein. Hilft auch gegen Pandemie-Wut.


2. «Das Kollegialitätsprinzip, das im Artikel 12 des Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetzes festgehalten ist, bedingt, dass die im Rahmen der Bundesratssitzungen geführten Diskussionen vertraulich bleiben und nicht an Dritte kommuniziert werden – im gleichen Geiste kommentiert der Bundesrat keine Äusserungen eines seiner Mitglieder in der Öffentlichkeit.»

Bundespräsident Guy Parmelin auf die neun Fragen der SP-Fraktion, wie der Gesamtbundesrat zu SVP-Bundesrat Ueli Maurers Aussagen an einer Rede in Wald ZH steht.

Screenshot des erwähnten Youtube-Videos. Ueli Maurer an einer Rede in Wald ZH.

Nein, liebe Oltnerinnen, Ueli Maurer war nicht in Olten. Auch wenn es im Video so aussieht. Drei Tannen im Wappen gibt es auch anderswo. Nämlich in der zürcherischen Gemeinde Wald. Oder in Langnau im Emmental. Beide Gemeinden haben aber kein Stadtrecht, weshalb doch nur die Oltner Dreitannenstädter sind. Aber darum geht’s hier nicht. Hier geht’s um die bemerkenswerte Reaktion eines Bundesrats auf die bemerkenswerte Aktion eines anderen. Maurer war also in Wald und spielte dort Donald Trump. In einem Stall, nebenan grasen die Kühe, legen die Hühner Eier, und Magistrat Mauer schimpft eine Tirade gegen die Wissenschaft, gegen die Elite, gegen «all die Massnahmen, die in Bern beschlossen werden», gegen den machthungrigen Bundesrat (sic!), der in der Krise versagt, gegen die Medien natürlich.

Nun gibt es in der Schweizer Regierung das Kollegialitätsprinzip. Dass sich Ueli Maurer damit schwertut, ist nichts Neues. Dass er es ad absurdum führt, schon eher. Wirklich interessant finde ich aber die Reaktion des Gesamtbundesrats in Form einer Stellungnahme von Guy Parmelin. Die SP hatte im Rahmen der Fragestunde des Nationalrats neun Fragen eingereicht. Und als Antwort diesen einen Satz oben erhalten. Ist das jetzt eine unglaublich elegante Antwort, weil Parmelin nicht den gleichen Fehler wie sein Parteikollege machen will, nämlich das Kollegialitätsprinzip zu brechen? Oder ist es schlicht schweizerisch rückgratlos, im Sinn von: Wen interessieren politische und gesellschaftliche Werte, wenn wir Geld oder Diplomatie sprechen lassen können? Oder ist das Kollegialitätsprinzip einfach nicht mehr zeitgemäss und am Ende Maurer der Gewinner der Geschichte? Eindeutige Antworten gibt es selten, aber ich hoffe, in der Dreitannenstadt hat die neue Regierung in solchen Fragen etwas mehr Eier.


3. «Er machte halt das Maul auf und schwafelte los, egal bei welcher Gelegenheit, und so eben auch bei seiner Anfeuerungsrede auf der Ellipse am 6. Januar, einfach, um Raum und Zeit zu füllen, im ewig wiederholten Rückgriff auf seine Standardgedanken.»

Buchautor Michael Wolff in seinem neuen Trump-Buch «77 Tage»

Apropos Donald Trump: Das Jahr, das sich langsam schon wieder dem ersten Weihnachtsschmuck nähert, begann ja mit dem Sturm aufs Capitol, der das definitive Ende der irren Regentschaft von Trump einläuten sollte. Er war zu weit gegangen, Trump kassierte sein zweites Impeachment. Und wurde bekanntlich wieder freigesprochen. Nun sagt der amerikanische Starjournalist Michael Wolff, der mit «77 Tage» schon sein drittes Buch über Trump veröffentlicht und sich dabei nicht als Freund des abgewählten Präsidenten hervorgetan hat: zu Recht freigesprochen. Man könne Trump nämlich nicht vorwerfen, dass er diesen Angriff geplant habe. Denn das würde ja die Fähigkeit voraussetzen, Ursache und Wirkung aufeinander zu beziehen, «die Logik eines Plans zu entwickeln, und niemand, der Trump kannte oder für ihn gearbeitet hatte, schrieb ihm diese Fähigkeit zu.» Wolff kennt sehr viele Leute in Washington, das sind dann manchmal etwas viele Namen auf den 410 Seiten, aber die Lektüre gibt faszinierende Einblicke und macht deutlich: Während der Trump-Amtszeit war im Weissen Haus tatsächlich alles noch viel schlimmer als gemeint. Und etwas war noch schlimmer als Trump selbst: der stets betrunkene und furzende Rudy Giuliani.

Buch «77 Tage – Amerika am Abgrund: Das Ende von Trumps Amtszeit» von Michael Wolff. Rowohlt Verlag, 2021


4. “U.n.p.o.c.”

Akronym-Bandname des schottischen Musikers Tom Bauchop

Ich bin im Spotify-Loop gefangen. Obwohl mir mehr oder weniger die ganze Musik der Welt auf meinem kleinen Telefon zur Verfügung steht, fällt es mir zunehmend schwer, neue Musik zu finden, die mich packt. Obwohl mir (und ganz vielen anderen) der Spotify-Algorithmus zweimal die Woche eine neue personalisierte Liste präsentiert, immer montags («Mix der Woche») und freitags («Release Radar»). Obwohl ich viel Musik höre. Ich weiss nicht, woran das liegt, aber ich glaube nicht, dass heute schlechtere Musik gemacht wird als vor 15 Jahren. Ich glaube, Spotify ist mitschuldig, und Shuffle, die aufregende Funktion von einst, ist zur ungeduldigen Achtlosigkeit verkommen. Ein Song hat 15 Sekunden Zeit, sich zu beweisen, sonst next, Jetzt-alles-sofort-Mentalität, eine Milliarde andere wartet auf ihre Chance und fast alle erfahren dann das gleiche Schicksal: next. Die Aufmerksamkeitsspanne sinkt auch beim Musikhören. Das Album als Gesamtkunstwerk, wie bitte? Nächster Interpret, nächster Song, nächstes Genre, next. Alles verschwimmt ineinander zu einer grellen Menge, als würde jeder Song gleichzeitig spielen. Ich könnte schreien vor Sehnsucht nach Stille. Wie schwer wiegen alle Spotify-Songs der Welt zusammen?

Doch dann, hie und da, magische Momente: Hörliebe auf den ersten Bass, ein Lied packt mich, schenkt Energie und Emotion. Zum Beispiel «Here on my own» von U.n.p.o.c. Ich könnte mitschreien. U.n.p.o.c. steht für «unable to navigate, probably on course», wie auf der fantastisch banalen Website zu lesen ist. Unfähig zu navigieren, wie ich auf Spotify. Wahrscheinlich trotzdem auf Kurs? Ich nehme mir vor, wieder mehr ganze Alben zu hören. Das kann man ja auch auf Spotify.


* Pierre Hagmann war erster Chefredaktor von KOLT, stammt aus Olten und blickt heute von Bern auf die schöne, komische Welt.


Welcher Satz hat dir diesen Monat zu denken gegeben?

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