puppy love
Ein Freund war – also ist immer noch – sehr, sehr broke. Er brauchte dringend eine Bleibe, um nicht auf der Strasse zu landen. Als er die Hoffnung schon fast aufgegeben hatte, kam die Nachricht von dieser Bekannten, die er 2016 irgendwo kennengelernt hatte: Ihr Haus stehe leer, sie sei gerade von Thessaloniki nach Athen gezogen für eine Weile. Bis sie wieder zurück sei, könne er dort einziehen. Sei eh gut, wenn jemand da ist, erwähnte sie nebenbei, weil dann der Hund nicht so alleine sei.
Weil das nur ein Nebensatz war und der Freund ihn mir noch viel nebensätzlicher mitteilte, dachte ich mir nicht viel dabei. Bis ich ein paar Tage später als Zügelhilfe hinter ihm in dieses Haus eintrat. Ein kleines Häuschen im ältesten Stadtteil Thessalonikis, charmant, wenn auch etwas heruntergekommen. Soweit alles nice, eigentlich. Als wir aber die knarzige Holztür einen Spalt weit öffneten, sprang uns dieses unglaublich aufgeregte Geschöpf entgegen. Winzig klein, mit samtig schwarz-weissem Fell, tapsigen Pfoten und tieftraurigen Augen wedelte sich der Hundewelpe direkt in mein Herz. Wie kann sie nur, diese «Scheisskerlin», dachte ich mir. Was muss das für ein Mensch sein? Ein Hündlein alleine in einer Wohnung lassen. Ein Baby. Allein. Ich war fassungslos.
Der Welpe konnte sich kaum beruhigen ob der menschlichen Aufmerksamkeit, und ich nahm ihn in die Arme. «Liebstes, alles ist gut, ich bin ja da.» Tränen der Wut und des überbordenden Mutterinstinkts stiegen mir in die Augen (okay, vielleicht ist das übertrieben, aber ich war sehr aufgewühlt).
Als der Hund und ich wieder normal atmen konnten, merkte der Freund an, dass eine Nachbarin ihn offenbar gefüttert habe und auch manchmal mit ihm spazieren gehe. Egal, dachte ich mir, diese Hundehalterin ist eine Teufelin, das macht man einfach nicht. Ich nahm mir vor, den Hund und den Freund täglich zu besuchen.
«Schätzeli, komm auf meinen Schoss, jetzt lässt dich niemand mehr alleine.»
Ich erzählte meiner Mama in einer bestürzten SMS davon und natürlich kam auch zur Sprache, ob ich den Hund adoptieren sollte. «Das ist nicht so einfach!», meinte sie. «Ja, ich weiss, ein Hund ist so aufwendig», antwortete ich. Sie darauf: «Nein, ich meine wegen der Papiere. Der braucht einen Impfausweis, einen Chip, muss in der Schweiz registriert werden, und wenn der einreist, muss er in Quarantäne!» Ich: «Also wegen Corona?» Sie: «Nein, Hunde müssen auch sonst in Quarantäne in der Schweiz. Wegen Hundekrankheiten. Ich hab das gegoogelt!»
Als ich zwei Tage danach den Hund besuchen ging, öffnete der Freund die Tür. Ich trat ein – Stille. Kein aufgeregtes Schnaufen, kein Schwanzwedeln, nichts. Ob ich Tee wolle, fragte der Freund. «Gerne.» Komisches Schweigen. Dann, nachdem er mir in aller Ruhe einen Tee eingeschenkt hatte, meinte er mit einem wirklich langen Joint im Mund: «Der Hund ist weg.» Er habe gestern Abend gemerkt, dass kein Futter mehr da war. «Und ich habe ja nicht mal Geld, um mir selber Essen zu kaufen.» Deshalb habe er ihn jemandem gegeben, der in der Nähe wohnt. Der habe ihn adoptiert. Ich war wieder bestürzt. Das schien mir alles furchtbar verantwortungslos.
Noch einmal ein paar Tage später traf ich den Hund wieder, zusammen mit seinem neuen Besitzer. Der stand auf einer Wiese, rauchte einen wirklich langen Joint und schwang mit einem Stock um sich. Um den Stock herum tollte das Hündlein zusammen mit einem riesigen Boxerhund.
Die drei gaben ein harmonisches Bild ab. Ich war verwirrt.
Nein, es ist nicht okay, kleine Hunde zu vernachlässigen. Es ist verantwortungslos, dabei bleibe ich. Und doch hat der Hund, um den es ja eigentlich geht, in dieser verantwortungslosen Umgebung am Ende vielleicht das bessere Leben, als wenn ich ihn aus Pflichtbewusstsein adoptiert hätte. Ich hätte ihm einen Platz in meinem durchgetakteten Leben freischaufeln müssen. Zwischen Terminen, Arbeit und Sport hätte ich ihn zur Tierärztin bringen müssen und hätte gestresst dafür gesorgt, dass er endlich alle Impfungen und Papiere erhält. Für entspannte Stockspiele in Pärken wäre vielleicht selten Zeit gewesen.
Auch ein zweiter Gedanke lässt mich nicht los: Könnte es sein, dass meine Bestürztheit derart gross war, weil in meiner Kultur dieser Hund in derselben Situation vielleicht tatsächlich viel schlimmer dran wäre? Weil in der durchorganisierten Schweiz keine Nachbarin einfach mal den Hund von nebenan füttert und schon gar niemand einen ungeimpften Streuner von heute auf morgen adoptiert? Weil dort die Grenze zwischen Mein und Dein wirklich ernst ist und es deshalb so wichtig ist, sich um seinen eigenen Shit zu kümmern? Während hier diese Grenze ein wenig verschwommener ist? Weil es am Ende schon halbwegs funktioniert und man informell so etwas wie füreinander sorgt? Ich weiss nicht genau. Aber ich bin ein winziges bisschen froh, mich jetzt nicht um einen kleinen Hund kümmern zu müssen.
*Jana Schmid (26) ist in Aarburg aufgewachsen und lebt seit diesem Winter in ihrem ausgebauten Lieferwagen in Griechenland, wo sie vorübergehend für zwei Nichtregierungsorganisationen arbeitet.