Randgruppen in unserer Mitte: Der Streit um den Kirchensockel
Ein Montag Ende März. Der Frühling hat die Menschen rausgetrieben. Auch jene, welche die Gesellschaft gemeinhin als Randständige bezeichnet. Wegen ihrer Sucht sind sie an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Aber sie verstecken sich nicht, und einige verbringen den Tag bei der Stadtkirche in Olten. Das Bild, das sie dem Stadtzentrum verpassen: Bierdosen. Menschen in ihrem Rausch. Manchmal streiten sie untereinander. Manchmal betteln sie aufdringlich um Geld.
«Wir müssen für diese Leute eine Lösung finden, aber es kann und darf nicht sein, dass sie diesen zentralen und schönen Platz in Beschlag nehmen», sagt Philippe Ruf. Der örtliche SVP-Präsident reichte vor bald einem Jahr einen Vorstoss im Parlament ein. Darin schreibt er:
«Auf dem Sockel der Stadtkirche versammeln sich täglich Randständige, welche dort herumlungern, Drogen konsumieren, rauchen, Alkohol trinken und Passanten mit aufdringlichem Verhalten belästigen. Nicht selten kommt es bei den Randständigen – teils untereinander, aber auch gegen Aussenstehende – zu Streitereien und Pöbeleien. Ausserdem verdrecken die Randständigen den öffentlichen Raum rund um die Stadtkirche durch argloses Wegwerfen von Abfällen (‹Littering›).»
Die Stadt war sich der Problematik damals schon bewusst. Das Oltner Parlament sprach Ende Mai 450’000 Franken, um über drei Jahre eine Interventionsgruppe zu installieren. Viele Städte in der Schweiz vertrauen schon seit Jahren auf einen mobilen Ordnungs- und Sozialdienst, um in den Innenstädten das Miteinander zu fördern. Weil der Ruf nach Massnahmen im letzten Sommer grösser wurde, beauftragte die Stadt im August 2020 provisorisch eine Sicherheitsfirma.
Den Auftrag für die bereits vorgängig geplante SIP vergab die Stadt an die Langenthaler Organisation Tokjo. Seit Mitte Januar ist sie in Oltens Strassen unterwegs. Nach einigen Vorfällen im Frühjahr steigt die Unruhe beim lokalen Gewerbe. Und auch Philippe Ruf pocht auf Massnahmen; sein Vorstoss sei trotz SIP noch immer relevant. «Wenn die SIP etwas erreichen könnte, wäre dies sensationell», sagt er, «aber momentan sehen wir keine Verbesserung der Situation.» Der SVP-Gemeinderat hat eigens Reaktionen vom Gewerbeverband und der Kirchgemeinde eingeholt, um Rückhalt für seine politische Forderung zu erhalten.
Er hat ihren Zuspruch bekommen. Auch für seinen konkreten Handlungsvorschlag: Die Stadt soll ein Alkoholverbot am Sockel der Stadtkirche prüfen. Wobei Ruf sich nicht auf diese Massnahme versteifen will. Er sagt: «Nur brachte niemand bisher einen besseren Lösungsvorschlag.»
Repression als einziger Ausweg? Ruf glaubt, dass die rechtliche Grundlage des Alkoholverbots nur dann ausschlaggebend sein werde, wenn Menschengruppen zu stören begännen. «Solange es friedlich ist, ruft niemand die Polizei.» Zwar gibt der SVP-Politiker zu, dass durch ein Verbot die Probleme der süchtigen Menschen nicht gelöst würden. «Aber wir können nicht tolerieren, dass ihre Bedürfnisse höher gewichtet werden als jene der restlichen Gesellschaft», sagt er. Seinen politischen Vorstoss sieht er als punktuelle Lösung «zum Wohl der Mehrheit». Er sei nicht ein Votum gegen die ganzheitliche Betrachtung der Stadt und der SIP, sondern könne deren Arbeit unterstützen, glaubt er.
Gelassenheit im Stadthaus
Sozialdirektorin Marion Rauber lässt sich durch die jüngsten Berichte über Pöbeleien und Lärmklagen nicht stressen. Mails von unzufriedenen Bürgerinnen gehörten zur Tagesordnung, sagt sie. «Ich kann nachempfinden, dass gewisse Personen sich gestört fühlen, wenn Menschen ein anderes Lebensmuster haben und laut werden», sagt die SP-Stadträtin. Dennoch lehnt sie, wie auch Stadtpräsident Martin Wey in seiner Antwort auf Rufs Vorstoss, ein Alkoholverbot vehement ab. Ein solches impliziere, dass die Stadt bestimme, wer sich wo aufhalten dürfe und wer nicht.
«Meine Hoffnung ist, dass wir aneinander vorbeikommen», sagt Rauber. Um dieses Ziel zu erreichen, hat die Stadt eine Begleitgruppe ins Leben gerufen. Diese sei fast schon beispiellos, was die direktionsübergreifende Zusammenarbeit betrifft, findet Rauber. Mit der SIP, der Kantonspolizei, der Suchthilfe Ost, der Abteilung für Ordnung und Sicherheit, dem Bauamt und dem Sozialamt sind die wichtigsten Parteien alle an einem Tisch vertreten. Die Begleitgruppe überprüft fortlaufend die Arbeit der SIP, die ihren Handlungsspielraum flexibel anpassen kann. «Frühestens im Herbst werden wir sehen, wie sich die Situation entwickelt hat», sagt Rauber.
Der Monatsmarkt und die Sonne haben an diesem Märzmontag viel Leben in die Stadt gebracht. Im Schatten der Stadtkirche ist ein gutes Dutzend Menschen versammelt. Die verschiedenen Gruppen kommen sich nicht in die Quere. Tage wie dieser zeigten beispielhaft, dass die Koexistenz funktioniere, sagt Rauber. «Wenn alle Menschen den Raum in Anspruch nehmen, beruhige sich die Situation.» Auch die Gewerbetreibenden müssten ihren Teil dazu beitragen, den Kirchensockel zu bespielen, findet sie.
Wir treffen Jacqueline und Markus, die an diesem Tag gemeinsam für die neu installierte SIP unterwegs sind. Sie ist Sozialpädagogin und kennt die «Szene», wie sie sagt. Acht Jahre lang arbeitete sie für die Suchthilfe und kam dadurch mit vielen Menschen mit Suchtthematik in Kontakt. Er kennt den Drogenentzug aus eigener Erfahrung. Ab den 80er-Jahren war er über ein Jahrzehnt lang schwer süchtig, ehe er von den Drogen wegkam.
Die SIP setzt in Olten ein Team von elf Personen ein, das bewusst «multikulti» zusammengestellt ist, wie Projektleiter Joël Bur erklärt. Damit meint er die diversen Hintergründe, welche die Mitarbeiterinnen mitbringen. Die Zweierteams setzen sich jeweils aus Fachkräften mit verschiedensten Hintergründen aus dem sozialen Bereich zusammen. Einzelne bringen wie Markus selbst Suchterfahrungen mit. Viele von ihnen leisten ihre Dienste nebenamtlich und sind zwei- bis dreimal pro Woche in Olten unterwegs.
Bisher war die SIP von Montag bis Samstag auf Tour. Mit den wärmeren Temperaturen wird sie ihre Einsatzzeiten anpassen. Auch an den Abenden und am Sonntag will sie in der Sommerzeit präsent sein. Die Leistungsvereinbarung mit der Stadt würde es erlauben, dass die SIP täglich vier Stunden patrouilliert. Da sie an einzelnen Tagen nicht präsent ist, sind die Einsatzschichten an gewissen Tagen länger. «Auffallend war, dass es an jenen Tagen zu Unruhen kam, an denen wir nicht vor Ort waren», sagt Projektleiter Joël Bur.
Abseits des Sockels der Stadtkirche, wo die Menschen mit Suchtthematiken sich treffen, stellen sich viele Herausforderungen. Dies zeigt sich an diesem Montagmittag Ende März. Wir brechen mit Jacqueline und Markus zu einem kleinen Rundgang auf. Nicht bloss der Situation um die Stadtkirche gilt derzeit ihr Augenmerk. Der Drogenkonsum auf den öffentlichen Toiletten hinterlässt oftmals unschöne Spuren. «Besonders die Toiletten am Klosterplatz bereiten uns momentan Probleme», sagt Jacqueline.
Wir beginnen am Munzingerplatz
«SIP Oute, WC-Kontrolle», sagt Markus und klopft an die metallene Tür, über der die Lettern «Öffentliche Aborte» angebracht sind. Keine fünf Meter nebenan spielt ein Dutzend Kinder. Die Toiletten sind bis auf ein Stück Alufolie sauber.
Langfristig sei es das Ziel der SIP, den Drogenkonsum auf den öffentlichen Toiletten möglichst zu verhindern, erklärt Joël Bur. Mit den WC-Kontrollen will die SIP den Menschen, die ihrer Sucht nachgehen, auch unbequem sein. Ihr Konsum soll sich in die Suchthilfe verlagern. An der Aarburgerstrasse können sie unter hygienischen Bedingungen ihre Sucht stillen und auch illegale Substanzen konsumieren. Nur ist es eine schwierige Aufgabe, die Menschen dorthin zu bringen.
«Einige wollen nicht in die Suchthilfe, weil sie anonym bleiben wollen und der Weg dorthin weiter ist», sagt Jacqueline, als wir bei den öffentlichen Toiletten am Klosterplatz angelangt sind. Auf dem Plattenboden ist ein Spritzenschutz zurückgeblieben, den Markus entfernt. Jemand hat sich hier – anstatt im Konsumationsraum der Suchthilfe – womöglich kurz zuvor einen Schuss gesetzt.
Bei der Suchthilfe Ost besteht eine Anmeldepflicht, die eine Hemmschwelle sein kann. Die Leistungsvereinbarung der ambulanten Suchthilfe mit dem Kanton regelt dies so, damit ausschliesslich Personen aus den finanzierenden Gemeinden das Angebot nutzen können. Zwischen 30 und 50 Personen suchen regelmässig die Stadtküche auf, erzählt Geschäftsführerin Ursula Hellmüller am Telefon.
Auf ungefähr 20 Personen schätzt sie die Zahl jener, die vor Ort auch illegale Substanzen konsumieren. Gemeinsam mit der SIP möchte sie mehr süchtige Menschen abholen – auch um die Situation in der Innenstadt zu entlasten. Aber auch Hellmüller weiss: «Es wird immer Menschen geben, die sagen, die Suchthilfe ist nicht mein Ding.» Sie erhofft sich durch die SIP mittelfristig eine Antwort auf die Frage, wie sich die Szene der Menschen mit Suchtabhängigkeit zusammensetzt. Da die Suchthilfe selbst keinen aufsuchenden Dienst leistet, fehlen ihr diese Erkenntnisse.
Ab dem 10. April baut die Suchthilfe ihr Angebot wesentlich aus. Schon im Sommer, als sie die Leitung übernahm, störte sich Hellmüller an den Öffnungszeiten. Sie beschränkten sich bisher auf die Werktage. Neu wird die Stadtküche auch an den Wochenenden offen sein. Zudem schenkt die Suchthilfe ein nach schwedischem Vorbild gebrautes Leichtbier (3,3 %) aus. Gebraut wird dieses von der lokalen Brauerei Dreitannenbier. «Wir sind in der Region verankert und wollen auch das lokale Gewerbe unterstützen», sagt Hellmüller. Um mit dem Billigbier der grossen Detailhändler zu konkurrieren, kostet die Stange in der Suchthilfe bloss 60 Rappen.
Jacqueline und Markus sind auf ihrem Rundgang in der City-Unterführung angekommen. Nur ein Coiffeurladen gibt der verwaisten Passage derzeit noch Leben. Corona hat mit der Latinobar jenen Ort stummgeschaltet, wo schon so manche Oltner Nachtschwärmer sich vor den ersten Sonnenstrahlen versteckten und eine lange Nacht hinauszögerten. Die SIP-Patrouille entsteigt der Parallelwelt über die seit Jahren lahmgelegte Rolltreppe.
Die SIP, dein Freund und …
Ihr Rundgang endet bei den Menschen am Kirchensockel. Die Stimmung rund um den Monatsmarkt ist friedlich. Sie hätten sich kaum losreissen können, erzählt uns Jacqueline, als wir uns wieder vor dem Stadthaus treffen. Im Moment sei die SIP bestrebt, das Vertrauen der Menschen zu gewinnen, sagt sie. Die Gespräche reichen vom Smalltalk, wie es dem Hund gehe, bis zu ergreifenden Schicksalsgeschichten, welche den SIP-Mitarbeiterinnen anvertraut werden.
SIP-Projektleiter Joël Bur erklärt die Philosophie, die auf dem Weg zum Miteinander im öffentlichen Raum zielführend sein soll: «Nur über Beziehungen kann man sensibilisieren.» Von repressiven Massnahmen wie einem Alkoholverbot hält er genauso wie der Stadtrat nichts. «Ein Verbot löst nicht die Thematik, sondern verlagert sie», sagt er. «Oder es führt sogar zu einer Trotzreaktion». Denn die betroffenen Menschen hätten nicht viel zu verlieren.
Die jetzigen Konfliktsituationen enstehen gemäss Joël Bur oftmals dann, wenn der Suchtdruck gross wird. «Wir versuchen den Menschen einen Perspektivenwechsel aufzuzeigen. Sie sollen begreifen, was ihr Verhalten bei den Passanten auslöst», sagt er. Der suchtfreie Raum bleibe bei diversen Nutzungsgruppen eine Utopie. «Darum streben wir ein friedliches Miteinander statt ein Gegeneinander an.»
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Wie lösen andere Städte dieses Problem? Zum Beispiel Zofingen, Sursee, Aarau … Wir müssen das Rad nicht neu erfinden.
Oder Luzern : https://www.abseits-luzern.ch/de/guides Hier finden diese Leute mit besonderen Stadtführungen eine neue Perspektive und neues Selbstwertgefühl.
Kirchgemeinde
Die Fakten gleich voraus: Der Sockel gehört den Christkatholiken und jeder, der sich darauf bewegt, befindet sich quasi im Vorgarten “unseres” christkatholischen Hauses. Theoretisch könnten wir einen Zaun um den Sockel ziehen und das wäre absolut rechtens. Das würde aber sicher niemandem gefallen, am allerwenigstens der christkatholischen Kirchgemeinde selber.
Die Kontroverse rund um die Geschehnisse auf dem Sockel der Kirche sind nicht neu. Bereits in den 80er Jahren sah sich die Kirchgemeinde mit Ereignissen konfrontiert, die jenseits des Tolerierbaren lagen.
Auf Grund dieser Schwierigkeiten wurde damals die Kirche geschlossen. Jetzt ist sie wieder geöffnet, aber es ist zunehmend schwierig, um einfach auch einmal klar und deutlich die Sicht der Christkatholiken wiederzugeben, mit den Gegebenheiten klarzukommen, die sich auf dem Sockel und teilweise auch im Innern der Kirche abspielen. Essenreste auf den Tischen in der Kirche, leere Alkoholflaschen – draussen auf dem Sockel Littering und Unmengen von Abfall darum herum. Seltsames, das, wenn die Kirchentüren offen sind, in unsere Gesangsbücher geschoben und wieder rausgeholt wird. Dazu Leute, die sich vor den Toren der Kirche lagern, mit Hunden und laut dröhnendem Ghettoblaster – Gruppierungen, die sich prügeln, wobei das durchaus auch während der Gottesdienste oder Beerdigungen vorkommen kann. Es fehlt der Respekt vor dem sakralen Charakter der Kirche. Steine werden gegen die Kirchentüren geschmissen, Graffiti an die Aussenwände gemalt (so geschehen im Frühling 2020). Es ist nicht durchgehend so, aber sehr oft. Es ist auch schon vorgekommen, dass unsere Sekretärin angepöbelt wurde, wenn sie Personen gebeten hat, sich von den Kirchentoren wegzugeben, dass diese sich äusserten, «die Stadt» habe ihnen gesagt, man dürfe sie nicht «wegweisen». Und ganz offensichtlich ist auch einigen Sicherheitsleuten der Vertrag mit der Stadt nicht bekannt, woraus klar hervorgeht, dass der Sockel eben den Christkatholiken gehört. Man hat uns diesbezüglich schon Vorträge gehalten und behauptet, der Sockel sei ja öffentlich und wir müssten diese Missstände akzeptieren, schliesslich sei dies der Geist der Zeit – nein, müssen wir nicht.
Jeder und jede, der sich an gewisse Regeln hält, nämlich Sitzen auf der Kirchentreppe und nicht vor den Kirchentüren, keine laute Musik aus Ghettoblastern, sorgfältiges Entsorgen des Abfalls, Respekt und Achtung zeigen vor der Kirche und ihren Benutzern und Besuchern, der ist herzlich willkommen. Die Christkatholiken sind sehr tolerant, was gesellschaftliche Fragen angeht – der Umgang mit Homosexualität, Ehe für alle, Frauenordination, eine demokratisch organisierte Kirchenstruktur, das alles gehört quasi zur DNA der Christkatholischen Kirche der Schweiz.
Wir sind gerne bereit, uns Massnahmen zu überlegen, wie der Sockel wieder und auch neu (Betonung liegt auf auch) belebt werden kann. So, dass der Anblick der Stadtkirche im Stadtzentrum wieder allen Freude macht – den Stadtbewohnerinnen und -bewohnern sowie den Kirchenbesucherinnen und -besuchern und allen, die sich gerne im Schatten der Bäume der christkatholischen Stadtkirche aufhalten.
Im Namen des Kirchgemeinderates der christkatholischen Kirchgemeinde Region Olten
Die Kirchgemeindepräsidentin: Monique Rudolf von Rohr
Epilog: Die christkatholische Kirchgemeinde hat Gespräche mit der Stadt aufgenommen
Danke für dieses Statement, liebe Monique.