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«Signature lynchienne» – Die Welt in den Augen von David Lynch

Weltberühmt ist er als Regisseur. David Lynch ist aber eigentlich viel mehr. Auch Fotograf. Das Oltner Haus der Fotografie öffnet Ende März seine Tore mit der ersten Foto-Ausstellung des rastlosen Multitalents, kuratiert von Nathalie Herschdorfer.
11. März 2021
Text: Yann Schlegel, Fotografie: Timo Orubolo
Die Lausannoise Nathalie Herschdorfer gehört zu den renommiertesten Kuratorinnen und hat die Premierenausstellung im Haus der Fotografie komponiert.

«Warum in Olten?», würden ihn seine Zürcher Freunde fragen. «Warum in Zürich?», erwidert Marco Grob. «Kleinstädter sind verdrahtet wie alle anderen auch.»

Warum sollten wir in der Kleinstadt nicht David Lynch sehen? 75 Jahre alt ist er kürzlich geworden. Eine Filmikone zu Lebzeiten. Vor zwei Jahren erhielt er für sein Lebenswerk einen Oscar. In Coronazeiten macht Lynch den Wetterbericht auf Youtube und malt. Dicke Sonnenbrille, langsame Sprache.

Derweil baut in Olten ein kleines Team um den Oltner Starfotografen Marco Grob ein Museum auf, das sich der surrealen Fotografie von Lynch annimmt. Unendlich tief – «infinite deep» – dringt sie vor. Tief ins Unterbewusste. Tief ins Abstrakte, ins Detail. Tief in die Abgründe des Menschen. Lynch eben.

Ein Jahr lang weilte Marco Grob in der Schweiz und war an der Oltner Kirchgasse immer wieder zu sehen. Er packte mit an und verwandelte mit ein paar Kumpels das ehemalige Naturmuseum in ein Haus der Fotografie. Ein Museum, das so gar nicht nach einer Zwischennutzung ausschaut. Dann liess er seine Beziehungen spielen und holte die Werke von David Lynch nach Olten. «Wir haben uns vor zehn Jahren in Köln kennengelernt und ich war begeistert von seiner Arbeit», sagt Marco Grob, während er auf der Treppe des Museums kauert. Er arbeitete in der Folge mit dem US-amerikanischen Künstler zusammen. Geblieben ist ihm eine Begegnung in Los Angeles, im Studio von David Lynch.

«Er hat da einen Draht in einen Weinkorken gebogen. Dieser Draht sah genau aus wie seine Filme, seine Fotografien, und er widerspiegelte den Klang seiner Musik. Er kann anfassen, was er will, es trägt sofort seine Handschrift.»

Seine Handschrift liest in Olten Nathalie Herschdorfer. Grob reiste mit seinem Team nach Le Locle, um die bekannte Westschweizer Kuratorin für sein Projekt zu gewinnen. «Er ist jemand, der ein eigenes Universum aufbaut, mit allem, was er tut», sagt Nathalie Herschdorfer im Entrée zum Haus der Fotografie. Der Film, die Malerei, die Gravur, seine Musik – alles fliesse zusammen. «Die Idee ist es, seine Arbeit zu zeigen, die uns in eine bizarre Atmosphäre versetzt.»

Die 49-jährige Kunsthistorikerin kommt aus Lausanne und hat sich mit ihren Fotografie-Ausstellungen national einen Namen gemacht. Verhältnisse wie in Olten sind ihr vertraut. Seit 2014 leitet Herschdorfer das Musée des Beaux-Arts in Le Locle und sie verstand es, das Museum aus der geografischen Versenkung im tiefen Jura herauszuholen. Die Besuchszahlen verfünffachten sich unter ihrer Führung auf 10’000 Eintritte pro Jahr.

Und jetzt also Olten.

Die Ausgangslage ist Nathalie Herschdorfer vertraut: Letztes Jahr entwarf sie in ihrem Museum eine Ausstellung zu Stanley Kubrick (sie ist noch bis 14. März zu sehen). Die Parallelen sind offenkundig. Wie auch David Lynch ist Kubrick weltweit für sein Filmschaffen renommiert. Die Museen zeigen nun mit der Fotografie eine unbekannte Seite der beiden Kunstschaffenden. Die sich im Übrigen verbunden waren. Stanley Kubrick bezeichnete Lynchs Filmerstling «Eraserhead» einst als seinen Lieblingsfilm. In den Kritiken kam der junge Filmemacher damals schlecht weg – «Eraserhead» galt jedoch als Underground-Geheimtipp. Lynch liess sich nie von seinem Weg abbringen und würde vielleicht auch gerade deswegen später Kultstatus erlangen.

Nach seinem ersten Film begann er mit der Fotografie. Zunächst war sie für ihn, wie für viele Filmemacher, Mittel zum Zweck. Ende der 70er-Jahre erkundete Lynch Schauplätze mit der Kamera und begann sich für die Szenerie im Feld zu interessieren. Noch bevor er sich als Filmemacher versuchte, hatte Lynch Malerei studiert. Nathalie Herschdorfer sagt, dies sei in seinem gesamten Werk spürbar:

«Er ist Maler geblieben. Die Art und Weise, wie er ein Bild komponiert, entspricht nicht der fotografischen Realität, es ist eine Komposition.»

Eines seiner grossen Sujets sind die weiblichen Körper. In einer der gezeigten Fotoserien spielt Lynch mit den Bildeinstellungen und Schattierungen. In einer anderen griff er auf Aktfotografien aus den 1920ern und den 30er-Jahren zurück, die er bearbeitete und so zu surrealistischen Figuren manipulierte. Auch in der Fotografie zeigt Lynch mit diesen Arbeiten, warum er einstweilen auch als «Dalí der Grossleinwände» galt. «Es ist wie in seinen Filmen, wir verstehen seine Szenerien nie vollständig, er gibt uns nicht alle Schlüssel, um sie zu verstehen», sagt Herschdorfer.

Die andere grosse Obsession des Regisseurs sind verlassene Fabriken (the factories). Über 20 Jahre hinweg begab sich David Lynch immer wieder auf Reisen, unter anderem durch Polen, Deutschland und England, um zerfallene Industrieanlagen aufzusuchen, die auch in seinen Filmen vorkommen. Und auch hier: Die Fotografien der Fabriken haben keinen dokumentarischen Charakter, sondern orientieren sich an der Komposition. Lynch soll einmal gesagt haben:

«Dies sind die Kathedralen von heute. Ich verbringe meinen Tag lieber an einem verlassenen Ort, als dass ich eine schöne Landschaft besuche.»

Tief in Lynchs Welt blicken lässt eine Serie über Schneemänner, die in typisch amerikanischen Agglomerationssiedlungen entstand. Ein lustiges Sujet für Kinder? Nicht bei Lynch. Seine Schneemänner bringen eine bizarre Stimmung zum Ausdruck. Lassen die Betrachterin im Ungewissen. «Er versucht, uns Geschichten zu erzählen, lässt uns aber mit diesen Rätseln allein», sagt Herschdorfer.

David Lynch wuchs im landwirtschaftlich geprägten Montana im Nordwesten der USA auf. Seine Kindheit war wohlbehütet, wie er Journalisten immer wieder erzählte. Unter anderem in einem TV-Interview mit einem kanadischen Sender. «Danach habe ich einen grossen Teil meines Lebens damit verbracht, die andere Seite zu erforschen. Die seltsame Krankheit der Gesellschaft.» Lynch interessierte sich für das, was sich hinter den Schneemännern und den Fassaden der bürgerlichen Vorstadtsiedlungen abspielte und malte sein eigenes Bild, das bisweilen verstörend sein konnte. So geschehen in seinem vierten Film «Blue Velvet», der 1986 in die Kinos kam. Damals liefen die Menschen aus den Kinosälen und forderten ihr Geld zurück. Aber Lynch blieb sich in seinem künstlerischen Schaffen treu. Die Anerkennung erntete er erst viel später.

Die «Signature lynchienne», wie Nathalie Herschdorfer sagt, erlangte der Regisseur, indem er niemanden kopierte und seiner eigenen Kreativität alle Freiheiten liess. Damit seine Schaffenskraft im Oltner Haus der Fotografie voll zur Geltung kommt, hat die Lausannoise ein besonderes Zusatzelement eingebaut: Die gesamte Ausstellung wird von einer Musikkomposition von David Lynch himself untermalt.

Wie im Kino

«In der Ausstellung wird es sein, als ob die Besucherinnen in einem Film sind. Die Charaktere, die Musik und die visuellen Elemente werden einen eigenen Film bilden», sagt Herschdorfer.

Zurück zur Einstiegsfrage: Lynch und Olten, wie passt das zusammen? Zwar entspricht Olten keineswegs dem stereotypischen amerikanischen Vorort, aus dem Lynch stammt. Wohlbehütet sind wir schon eher. Und manchmal schmoren wir gerne in der Bedeutungslosigkeit, wenn wir auf den Bahnhof reduziert werden.

Marco Grob stört sich an diesen Denkmustern. «Wir sind keine Eisenbahnerstadt und keine Arbeiterstadt mehr. Das sind Mythen. Wir müssen nicht mehr jene sein, die wir waren», sagt er. Wenn der Fotograf aus den USA heimkehrt, lebt er die amerikanische Maxime, dass nichts zu gross ist. Auch für Olten nicht. «Mach’s so gut, wie du kannst, und hoffe, dass es gut genug ist», zitiert Grob ein Sprichwort, das amerikanisch klingt. Unter dem IPFO-Logo an der Eingangstür steht: «Love & Passion».

INFINITE DEEP

26. März 2021 – 27. Juni 2021.
Mi–So 11.00 – 17.00 Uhr
Eintritt: Erwachsene 20 Franken, Studenten und Rentner 15 Franken, Kinder und Jugendliche bis 16 Jahre gratis
Das Haus der Fotografie bietet auch
Führungen und Workshops an. Das Treppenhaus wird zum Auditorium der Ausstellung und bietet Raum für Kulturvermittlung und die Geschichte der Fotografie. Die Ausstellung «Infinite Deep» wird nach Olten auch in Kopenhagen zu sehen sein. ipfo.ch


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