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«Totenköpfe mach ich nicht»

Schon als Jugendliche wollte Marija Jeanmaire Tattookünstlerin werden. Verwirklicht hat sie ihren Traum aber erst Jahre später, als sie sonst nicht mehr weiterwusste.
26. Dezember 2021
Text: Daniel Kissling, Fotografie: Timo Orubolo

Es ist eine dieser Strassen, von denen es in Olten viele gibt. Reihenhäuser, Einfamilienhäuser links wie rechts, manche bunter, andere weniger, dazwischen Garagen, davor Vorgärten. In einem steht ein Trampolin. Dort seien wir richtig, meint Google Maps, doch so ganz glauben will man dem Smartphone nicht. Das vielleicht angesagteste Tattoostudio Oltens mitten im Familienidyll?

«Das wissen nicht einmal meine Nachbarn», scherzt Marija Jeanmaire, aber hat damit vielleicht gar nicht so unrecht. Einzig ein kleines Schild mit der Aufschrift «artstagetattoo» am Gartentürchen nämlich verrät, dass in diesem Haus am Fusse des Borns die strahlende, wild gelockte 41-Jährige mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern nicht nur wohnt, sondern im Keller auch hauptberuflich Menschen Tinte unter die Haut sticht. Beziehungsweise diese Menschen «verschönert», wie Marija nennt, was sie macht.

Und zwar ziemlich erfolgreich. Von Zürich, Luzern, Davos seien die Menschen schon angereist und im Januar sei sie bereits ausgebucht, erzählt Marija und gibt zu: «Das erfüllt mich schon mit Stolz.» An einem Schrank in der Ecke ihres Studios, das dank heller und gemütlicher Einrichtung schnell vergessen lässt, dass man sich in einem Keller befindet, hat sie ausgedruckte Feedbacks von Kundinnen aufgehängt. «5 Sterne!» – «Supersympathische Person!» – «Marija for President!».

Knastbrüder und Arschgeweihe

Selbstverständlich ist das nicht, weder für Marija, die im Gespräch mehr als einmal wirkt, als könne sie es selbst noch nicht recht glauben, noch an sich. Sie ist eine Quereinsteigerin. Erst vor fünfeinhalb Jahren hat sie erstmals eine Tätowiermaschine in die Hand genommen. Wäre es aber alleine nach ihr gegangen, hätte sie, die schon als Kind gerne und gut zeichnete, das bereits viel früher getan. «Schon mit 16 war ich fasziniert davon», erinnert sich Marija, «Doch meine Eltern waren da ganz anderer Meinung.»

Es waren die 90er. In den USA und Westeuropa mochte sich die Einstellung zu Körperkunst zwar langsam wandeln – es war die Zeit des Techno und damit der Piercings und Tribals. Arschgeweihe wurden ganz unironisch, ja voller Stolz zur Schau getragen. Doch Marijas Eltern kamen aus einem anderen Kulturkreis. 1992 flüchtete die kroatische Familie wie so viele andere vor dem Krieg und aus ihrer Heimat Bosnien in die Schweiz, nach Olten. Marija seufzt: «Der Einzige mit Tattoos, den meine Eltern kannten, war mein Onkel und der war im Knast gewesen.» Tattoos = kriminell, so die einfache Gleichung. Kaum 18, liess sie es sich aber doch nicht nehmen. Das erste Tattoo auf ihrem eigenen Körper: ein Tribal. «Man sieht genau, wie alt ich bin», lacht sie.

Ihren Traumberuf legte Marija damals aber auf Eis, machte nach ihrer Schulzeit im Säli stattdessen eine Lehre im Verkauf. Sie arbeitete bei einem Juwelier, einer Metzgerei, in einem Betrieb, der Stahlrohre herstellte. «Für mich war es immer selbstverständlich, mein eigenes Geld zu verdienen», erinnert sie sich, «Schon in der Schule verbrachte ich meine Ferien jeweils mit Jobben.» Dementsprechend arbeitete Marija auch weiter, als sie nach Abstechern in Zürich, Bellinzona und Zug in Olten eine Familie gründete. Und dementsprechend hart traf es sie, als die Kombination aus Berufs- und Familienleben plötzlich nicht mehr aufging.

Aus der Not eine Tugend machen

Vor sechs Jahren wurde bei Marijas damals 5-jährigem Sohn Diabetes Typ 1 diagnostiziert. Die Symptome sind bei dieser Krankheit vielgestaltig – Gewichtsabnahme, Austrocknung, Durst, Müdigkeit, Kopfschmerzen, Antriebslosigkeit et cetera. Mehr als mühsam für ein Kind, im Extremfall sogar lebensgefährlich. Und auch wenn mittlerweile durch die künstliche Zufuhr von Insulin gut behandelbar: Für eine Mutter vor allem am Anfang beängstigend und belastend. «Es war mir wichtig, für ihn dasein zu können», sagt Marija. Nach 13 Jahren hängte sie ihren Job bei der Swisscom an den Nagel.

Und sass dann, etwa wenn die Kinder in der Schule waren, zum ersten Mal in ihrem Leben alleine zuhause. Doch nach einigen Monaten wurde es mit dem Geld knapp. «Hätte ich aber einen normalen Job angenommen, hätte ich meinem Sohn gegenüber ein schlechtes Gewissen gehabt und mich gesorgt, dass etwas passieren könnte». Lange wusste Marija nicht, wie sie die verstärkte Betreuung ihres Sohnes und ihr Bedürfnis, ja die Notwendigkeit, zu arbeiten, unter einen Hut kriegen sollte. «Mit meinem letzten Geld hab ich mir dann die Maschine gekauft.»

Eine Kurzschlussreaktion, gibt Marija heute zu. Eine Flucht nach vorne, aber mit Startschwierigkeiten: «Die ersten zwei Wochen hab ich die Maschine einfach angestarrt. Dann hab ich begonnen zu üben. Üben, üben, üben», rekapituliert Marija, «zuerst auf Kunsthaut, dann an Freunden und dafür werde ich ihnen auf ewig dankbar sein.»

Ein vollgestochener Arm als Lehrgeld

Redet man mit Marija, wird einem schnell klar, dass diese Frau keine halben Sachen macht. Wurde der Teenagertraum Tätowieren erst vielleicht zu einer Art Beschäftigungstherapie, um mit ihrem veränderten Leben zurechtzukommen, packte sie alsbald der Ehrgeiz. Bei den lokalen Tattoostudios fragte sie an, ob sie von ihnen lernen dürfte. «Meinst du, wir ernähren unsere Konkurrenz?», lautete eine Antwort, die stellvertretend für viele Erfahrungen stehen kann, die Marija damals mit der Tattooszene machte.

Aufgeben aber ist Marijas Sache nicht und so fand sie einen anderen Weg, von Profis zu lernen. Sie zeigt auf ihren rechten, komplett vollgestochenen Arm: «Wenn dir einer was sticht, kannst du zuschauen, Fragen stellen und spürst erst noch, wie sich das anfühlt.» Dass Marija nicht mit jedem Resultat ihrer Unterrichtsstunden zufrieden ist, das eine Motiv ist zu dick gestochen, das andere zu tief, sodass es nicht ganz scharf ist, verbucht sie schulterzuckend unter Lehrgeld. Und den Neidern, die es durchaus gebe, zeigt sie die kalte Schulter. Tattookünstlerinnen seien ein ganz eigenes Völkchen und so sehr sie sich aus beruflicher Neugier für die Arbeiten anderer interessiert, so wenig hält sie von Konkurrenzdenken. «Jeder Artist hat einen eigenen Stil», sagt sie. «Ich weiss, was ich kann und was nicht. Wenn jemand was wünscht, was nicht meinem Stil entspricht, verweise ich ihn gerne an eine Person, die besser passt. So sollte es sein.»

Feine Linien und lebenbejahende Blüten

Fragt man Marija nach ihrem Stil, ihrem Handwerk generell, wird es schwierig, sie zu stoppen. Sie erzählt von der Tiefe, mit der sie die Tinte sticht, von der Dicke der Nadel, wie die Digitalisierung ihre Arbeit verändert habe. Die Motive entwirft sie heute auf dem Tablet, gerne auch am Wohnzimmertisch, während ihr Mann Fussball schaut. Anstatt mühseligem Durchpausen und Abzeichnen auf die Haut – Marija tätowiert nie frei, denn «frei wird es nie so gut wie vorgezeichnet und warum sollte ich das dann machen?» – gibts eine Art temporäres Kaugummitattoo aus dem Drucker. «So kannst du erst einmal paar Tage damit rumlaufen und rausfinden, ob es passt. Vor allem für Leute, die sich das erste Mal stechen lassen, ist das wichtig», erklärt Marija und fügt an: «Wenn ich spüre, dass jemand unsicher ist, lasse ich der Person lieber Zeit. Und wenn sie sich dann anders entscheidet, bin ich ihr auch nicht böse und verlange auch nichts.»

Der Stil, mit dem Marija ihre Kunden verschönert: Fineline, gepaart mit Dotwork. Übersetzt (und zugegeben etwas vereinfacht ausgedrückt) heisst das: Sanfte Linien treffen auf Flächen, die eben nicht wirklich Flächen sind, sondern aus vielen kleinen Punkten bestehen. Dementsprechend lieblich sind auch viele der Motive, die in Papierform an Marijas Wänden hängen: filigrane Muster, viele Blumen, Tiere, Namen in geschwungenen Lettern. Nicht gerade die Sujets, die sich eine Rockerin oder eben ein Knastbruder stechen lassen würde. Wieder lacht Marija: «Ja. Das hat schon was. Ich hab auch schon Leute abgewiesen, weil da irgendwas für mich nicht stimmte. Totenköpfe mach ich zum Beispiel nicht.»

Geheimnisse und Schnapsideen

Wer zu Marija geht, wer sich von ihr den Körper schmücken lassen will, so begreift Marija ihre Arbeit, will damit nicht den Macker markieren. Dass ihre Kundschaft diverser und insbesondere weiblicher ist als der zumindest vermeinte Durchschnitt an Tätowierten, das hat natürlich auch mit ihrem Stil zu tun – aber nicht nur.

«Zu mir kommen auch Leute, die sich womöglich nicht getrauen, von der Strasse in ein Studio zu spazieren, das ja dann auch meistens etwas dunkel gehalten ist», mutmasst Marija und beschaut ihren Keller, die weissen Wände, die Gitterkonstruktion an der Decke, von der grüne Kunstpflanzen und Glaskugeln hängen. «Ich hab immer auch wieder ältere Kundinnen. Die lassen sich zum Beispiel den Namen einer Person tätowieren, die gestorben ist. Sie zeigen das dann nicht rum, aber es bedeutet ihnen viel. Für die ist das ihr kleines Geheimnis.»

Es sind solche Aufträge, die Marija besonders berühren. Wenn sie spürt, dass ihre Kunst den Menschen auch eine Art Hilfe bietet. «Oft sind Tattoos auch Verarbeitung, Abschluss. Oder Heilung», weiss sie und erzählt von Kunden, die sich als Teenager geritzt hätten, deren Narben sie verschwinden liess und die sich danach zum ersten Mal seit Jahren wieder im Spiegel anschauen konnten und sich dabei schön fanden. Oder von einer Familie, deren Mutter gestorben sei. Erst sei der Mann gekommen, dann die Tochter und der Sohn. «Alle haben sie beim Tätowieren geweint. Ich stelle dann keine Fragen.»

Marija will ihre Arbeit aber auch nicht überhöhen: «In erster Linie sind Tattoos Schmuck», ist sie sich bewusst. Auch das andere, weniger Tiefgründige müsse natürlich Platz haben. Ganze 33 Minitattoos habe sie letztens an einer privaten Geburtstagsparty im Terminus beispielsweise gestochen, erzählt sie begeistert und dass bei solchen Events, die sie vor der Pandemie auch hin und wieder in der Baroque Bar gemacht habe, sich insbesondere die Olten-Motive (zum Beispiel drei Tannen und die Silhouette des schlafenden Riesen) grosser Beliebtheit erfreut hätten.

Und auch in ihrem Keller gehe es ja meistens lustig zu und her. «Im Sommer kann es schon sein, dass wir nach der Session draussen den Grill anwerfen oder einen Gin Tonic trinken.» Und auch das sei schon vorgekommen: «Einmal riefen mich spätnachts zwei Kumpels an, sie müssten sich jetzt unbedingt was stechen lassen. Die waren definitiv nicht mehr ganz nüchtern und mussten die Ereignisse der Nacht am nächsten Morgen erst rekonstruieren», lacht Marija wieder ihr ansteckendes Lachen, schiebt aber umgehend nach, dass sie das natürlich nur bei Freunden mache.

Tätowieren als Familienbusiness

Womit wir wieder bei der Frage nach den Gründen von Marijas Erfolg wären. Natürlich das Handwerk, sagt sie. Ihr Geschäftsmodell beschreibt sie aber mit drei anderen Worten: «Beratung, Geduld, Flexibilität!» Gerade Letzteres hänge auch mit ihrer Situation zuhause zusammen. Das ermöglicht nächtliche Spontaneität ebenso wie beispielsweise mal eine Session frühmorgens oder auch am Wochenende. Marija stellt aber klar: «Die Familie hat immer Vorrang.»

Auch in der Pandemie kam ihr das Heimstudio gelegen. Während der beiden Coronalockdowns musste sie mit niemandem um die Miete feilschen. Wobei die Pandemie dem Geschäft unterm Strich nicht geschadet habe. «Die Leute hatten Zeit zum Nachdenken und geben nun das Geld, das sie nicht im Ausgang hinblättern konnten, bei mir aus.» Das kommt ihr gelegen. Fünfeinhalb Jahre, nachdem Marija das erste Mal eine Tätowiermaschine in der Hand gehalten hat, erlebt sie ihre bisher erfolgreichste Zeit als Selbstständige.

Darauf ist nicht nur Marija stolz. In den Ferien übten ihre Kinder selber an Kunsthaut das Tätowieren und sogar ihre Mutter, «die zeigt ihren Kolleginnen meine Sachen auf dem Handy». Als ihr Marija eines Tages eröffnete, dass sie plane, auf ihrem linken Arm etwas als Hommage an sie tätowieren zu lassen, war es der Mutter dann aber doch zu viel des Guten. Am Ende einigten sie sich darauf, dass Marija den Arm zu ihren Ehren ungestochen lassen würde.

Tätowieren in Bali oder einfach weitermachen

Also alles erreicht? Mission erfüllt? «So, wie es jetzt ist, ist es gut», konstatiert Marija – verfällt dann aber doch ins Träumen. Einfach ein weiteres, stinknormales Studio wolle sie nicht aufmachen, «Ich will nicht einfach noch eine sein.» Wenn, dann ein Ort der Kreativität, der verschiedenen Kunsthandwerken Platz biete. Tattoostudio, Galerie, Töpferei, Bar, handgemachte Möbel und zwar mitten in der Stadt. Den perfekten Ort wüsste sie bereits: «Immer, wenn ich am Magazin vorbeilaufe, nerv ich mich, dass das schon besetzt ist.»

Neben den Träumereien gibt es aber auch ganz handfeste Pläne. In den letzten Jahren stieg Marijas Bekanntheit auch innerhalb der Tattooszene. Studios im In- und Ausland fragten sie an, ob sie mal bei ihnen für ein paar Tage als Gasttätowiererin vorbeikommen würde.

«Hätte ich keine Kinder, ich würde jetzt wohl irgendwo in Bali tätowieren», schwärmt die Weltenbummlerin. Doch auch Corona machte womöglichen Reisen einen Strich durch die Rechnung. Ein bereits geplanter Gig in Barcelona wolle sie falls pandemisch möglich im Frühling aber unbedingt nachholen. Die Kinder, die seien ja jetzt auch schon älter.


Was in den Untergeschossen geschieht, bleibt vielmals verborgen. Wie nutzt du deinen Keller?

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