Unverkrampfter Blick in den Spiegel
Von Emmas Doppelleben ahnt ihre Familie in Spanien nichts. Vierzehn Tage im Monat verbringt die studierte Touristikerin jeweils in der Schweiz. In einem Land, von dem sie gehört habe, dass seine Bewohner wohlhabend und gebildet seien. Ein kleines Bordell in der Ostschweiz markierte für Emma den Einstieg in die Sexarbeit. Nach kurzer Zeit zog sie aber weiter. Weil sie die «Fleischschau» abstossend fand. Sie will nicht eine unter vielen sein. Darum schafft die 35-Jährige heute selbstständig an. Ihr Angebot: «Girlfriend-Sex, innige Zungenküsse, Dildospiele, 69, Pussylecken, Hodenlecken, Masturbationsshow, Reizwäsche». Gegen die Unterstellung, einer Arbeit nachgehen zu müssen, die sie nicht wolle, wehrt sie sich vehement. Ein Argwohn, mit dem sie des Öfteren auch von ihren Freiern konfrontiert sei.
Die Prostitution ist Gegenstand kontroverser Diskussionen, auch in der Schweiz, die in diesem Bereich als liberal gilt. Selbst in feministischen Kreisen ist man sich uneinig. Von manchen als moralisch und ethisch verwerflich angesehen, eine Arbeit, die auf Ausbeutung beruht, nur Opfer hervorbringt und eine Gleichstellung der Geschlechter verunmöglicht. Eine mögliche Lösung der Gegnerinnen: Während Prostitution grundsätzlich legal bleibt, wird die Nachfrage nach käuflichem Sex kriminalisiert, sprich die Freier bestraft. Ein solches Sexkaufverbot gilt beispielsweise in Schweden und Frankreich.
Für die andere Seite ist freiwillige Sexarbeit eine berufliche Option, für die man sich entscheiden kann. Aus welchen Gründen auch immer. Etwas, das sich nicht aus der Welt schaffen lässt, indem man es verteufelt und repressiv dagegen vorgeht. Dies würde nur die Kontrolle und den Schutz der Arbeiterinnen erschweren, heisst es aus Kreisen der Gegnerinnen eines Verbots.
In der Schweiz ist der Verkauf und Kauf von sexuellen Dienstleistungen seit 1942 legal. Dazu gehört auch, dass Sexarbeiter ihr Einkommen versteuern. Vor fünf Jahren hat sich der Bundesrat letztmals gegen ein Verbot ausgesprochen. So viel zum gesetzlichen Aspekt. Doch wie sieht der Alltag der Arbeiterinnen aus in einem Geschäftsfeld, das von nicht wenigen Menschen als unmoralisch angesehen wird und unter anderem darum bei aller Rechtmässigkeit weitestgehend im Versteckten spielt, wo Diskretion das Mass aller Dinge ist? Um sich dieser Perspektive anzunähern, sprachen Journalistinnen mit Menschen, die aus eigener Erfahrung zu berichten wissen. In ihrem soeben erschienenen Buch «Ich bin Sexarbeiterin» erzählen sie auf 160 Seiten aus der Sicht jener, die Sex gegen Geld anbieten oder es in ihrem Leben einst taten.
Neun Frauen und einem Mann ist im Buch je ein Porträt gewidmet. Sie erzählen aus ihrem Arbeitsalltag, beschreiben gefährliche, amüsante und deprimierende Erlebnisse mit ihren Kunden und sprechen darüber, was sie dazu veranlasst, sexuelle Dienstleistungen zu verkaufen. «Lady Kate» beispielsweise, die aus den USA stammt und mittlerweile den Schweizer Pass besitzt. In der Region Olten hat sie ihrem Chef beim Aufbau eines Clubs unter die Arme gegriffen und dabei ihre unternehmerische Seite entdeckt. Heute baue sie neben der Sexarbeit eine Karriere in der Krypto-Branche auf, erzählt sie der Journalistin Miriam Suter. Oder «Kazue», im Zürcher Langstrassenquartier zu Hause und seit dreissig Jahren als Sexarbeiterin in der Schweiz. Sie versuchte sich zwischenzeitlich in einer Restaurantküche und als Coiffeuse. Weil sie es liebe, von Männern angehimmelt zu werden, habe sie aber schnell wieder in ihren alten Job zurückgefunden.
Die Aussagen der Porträtierten eint, dass sie sich nicht in einer Opferrolle sehen, sondern als Menschen, die ihre Arbeit selbstbestimmt gewählt haben. So auch Adrienne, studierte Wirtschaftsinformatikerin und Mutter zweier Söhne. In ihrer Heimat Ungarn war sie arbeitslos. Ihre Freundin hatte die Idee, als Sexarbeiterin im Ausland zu arbeiten. «Den Entschluss, sich zu prostituieren, fasst sie aus einer pragmatischen Selbstverständlichkeit heraus: Geld muss verdient werden, und wenn das der Weg ist, dann würde sie ihn gehen», heisst es unter dem Titel des Porträts «Die Hoffnungslosigkeit zu Hause war schlimmer». Roman, der einzige männliche Porträtierte im Buch, machte in den 90er-Jahren gutes Geld im Puff. Seine Kunden seien ausschliesslich Männer gewesen, die sich im «echten» Leben niemals als bisexuell oder schwul geoutet hätten. Meist verheiratete Väter. Roman, der bisexuell ist, habe bei seinen Freiern eine starke Schulter zum Anlehnen gefunden, fühlte sich geborgen. Bordelle besuchte er zu dieser Zeit auch als Kunde. Bis er seine Energie für anderes als immer nur für Sex einsetzen wollte. Heute lebt er in einer Beziehung mit einer Frau, hat ein Kind mit ihr und verdient sein Geld als Musiker.
Ergänzend zu den Aufzeichnungen der Sexarbeiterinnen, die sich mit wenigen Ausnahmen mit Pseudonym und einem Spiegel vor dem Gesicht zeigen, sind im Buch auch Bilder von Etablissements, Studios und Szenen auf dem Strassenstrich zu finden. Sie bieten einen Blick in die Kulissen einer Welt, die sich sonst hinter schweren Vorhängen, im Halbdunkel und an den Rändern des gesellschaftlichen Lebens abspielt. Einige der abgebildeten Räumlichkeiten strahlen eine Tristesse aus, die erahnen lässt, wie problematisch zuweilen die Arbeitsbedingungen der darin arbeitenden Frauen sein müssen.
Redaktionell mitgearbeitet am Buch hat Melanie Muñoz, seit 2009 Leiterin von Lysistrada, der Fachstelle für Sexarbeit im Kanton Solothurn. Auch als Vorstandsmitglied der Nationalen Geschäftsstelle Sexarbeit (ProCoRe) ist sie mit den Geschichten der grösstenteils weiblichen Prostituierten im Land vertraut. Sie fordert, dass Sexarbeitende nicht Gegenstand der Debatte sind, sondern ihnen auf Augenhöhe begegnet wird. Als Sozialarbeiterin setzt sie sich gegen deren Bevormundung ein und für bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen. Sie möchte, dass Sexarbeiterinnen Gehör erhalten und ihre individuelle Motivation von der Gesellschaft respektiert wird. «Im Kontakt mit Sexarbeiterinnen mache ich die Erfahrung, dass die grosse Mehrheit der Frauen ihre Tätigkeit selbst gewählt hat. Das kann aufgrund mangelnder Alternativen sein. Aber es ist eine Wahl, die getroffen wurde», sagt Muñoz.
Die Initialzündung zum Buch bildet der Appell «Sexarbeit ist Arbeit», der 2018 von den Herausgeberinnen formuliert wurde. Dreitausend Personen haben ihn seither unterschrieben. Sie teilen die Forderung, Sexarbeit, die auf freiwilliger Entscheidung der Anbieterinnen beruht, nicht zu kriminalisieren. Nur wenn das Gewerbe nicht in die Illegalität gedrängt werde, könne gegen Ausbeutung und Gewalt vorgegangen werden, schreiben die Initiantinnen auf ihrer Website.
Einen repräsentativen Anspruch erheben die Autorinnen mit ihren Porträts nicht. Es sind individuelle Zeugnisse und Lebensgeschichten. Die Texte bieten Gelegenheit, die Stimmen jener zu hören, die nicht theoretische Modelle und Statistikmaterial liefern, sondern durch das Angebot einer Dienstleistung namens Sex ein Auskommen erlangen. Eines, das manchmal für den Unterhalt einer ganzen Familie im Ausland reichen muss.
Wer sich mit Sexarbeit beschäftige, blicke immer auch in einen Spiegel, schreiben die Herausgeberinnen. Reflektiert würden persönliche Gefühle, Vorurteile und Ängste. Mit dem Buch «Ich bin Sexarbeiterin» wollen sie der Gesellschaft diesen Spiegel vorhalten. Sexarbeit müsse etwas leisten, das in keinem anderen Job verlangt würde, gibt Muñoz zu bedenken. «Als Sexarbeiterin ist man ständig gefordert, zu beweisen, wie selbstbestimmt und freiwillig die eigene Tätigkeit ist.»
«Ich bin Sexarbeiterin: Porträts und Texte»
Autorinnen: Brigitte Hürlimann, Naomi Gregoris, Noëmi Landolt, Harriet Langanke, Juno Mac, Serena O. Dankwa, Eva Schumacher, Miriam Suter
Bilder: Yoshiko Kusano
Limmat Verlag, Fester Einband, 160 Seiten
ISBN: 978-3-03926-006-5