Viel mehr als tausend Worte
Nur den einen Wimpernschlag, den die Linse beleuchtet, hält das Bild fest. Eingefroren steht die Fotografie für sich. Sie macht Geschichte und erzählt eine Geschichte. Weil sie den Soldaten zeigt, der gegen die Fluten ankämpft und am 6. Juni 1944 in der Normandie an Land geht. Ein historisches Ereignis für die Menschheit. Dieser Tag, an dem die Alliierten dem Zweiten Weltkrieg eine Wendung geben. Der vielzitierte D-Day. In einem Bild festgehalten: Verschwommen das Gesicht, den Helm aufgesetzt – um den Soldaten die brandende See. Eine Aufnahme, die sich in unser kulturelles Gedächtnis einprägte und so zur Ikone wurde.
Und doch: So ausdrucksstark die Fotografie sein mag, erzählt sie letztlich doch nur die halbe Geschichte. Vieles bleibt dem Betrachter verborgen. Was war davor und danach? Die Geschichte zum Bild bleibt das Geheimnis der Fotografin.
Nicht in der aktuellen Ausstellung «Contact Sheets» im Haus der Fotografie. Die weltbekannte Fotoagentur Magnum ist in Olten zu Besuch. Sie zeigt neben den Ikonen der Fotografie auch die Kontaktbögen. Sie sind durch die digitale Fotografie ein fast verloren gegangenes Relikt, das nur noch dem Fachpublikum bekannt ist. In der analogen Fotografie waren sie die Schatztruhe: Auf dem Abzug war alles zu sehen, was die vom Menschen geführte Kamera festgehalten hatte.
Der Kontaktbogen macht das Bild zum Kurzfilm. Erzählt die Augenblicke davor und danach, den Weg zum Bild, das für die Ewigkeit bestimmt ist. «Contact Sheets» durchbricht die Intimsphäre des Fotografen, gibt einen Einblick in seine Welt hinter der Linse. Die Aufnahmen reichen von den 1930er-Jahren bis fast in die Gegenwart.
Magnum
Im April 1947 gründeten die vier Fotografen Robert Capa, Henri Cartier-Bresson, David «Chim» Seymour und George Rodger in New York die unabhängige Fotoagentur Magnum. Die Genossenschaft ist im Besitz ihrer Mitglieder und sollte damals dem Wunsch der Fotografinnen entsprechen, die Rechte an den eigenen Bildern zu behalten. So konnten sie die Vermarktung gegenüber den damals heranwachsenden Magazinen wie «Life» und «Time» verbessern.
«Diese Sicht ist gerade für Laien spannend, weil sie zeigt, wie ein Fotograf arbeitet», sagt Miriam Edmunds. «Zum Teil sind richtig schlechte Bilder drin. Das kann der besten Fotografin passieren. Sie müssen arbeiten fürs perfekte Bild.»
Edmunds ist Kulturvermittlerin im Haus der Fotografie und hat die Ausstellung fürs Oltner Museum angepasst und konzipiert. Nach David Lynch und Bryan Adams setzt das neue Fotomuseum einen weiteren Glanzpunkt. Erneut ist es den kreativen Köpfen des IPFO gelungen, eine international beachtete Ausstellung in die Kleinstadt zu holen.
Im Bauch des ehemaligen Naturmuseums, das die Stadt dem IPFO provisorisch zur Verfügung stellt, hat sich die Museumscrew eine gemütliche, kleine Höhle eingerichtet. Ein paar Sessel und alte Leuchter aus einem Fotostudio bilden eine kleine Nische als Rückzugsort. Miriam Edmunds serviert Kaffee und erzählt, wie die weltberühmten Fotografien nach Olten fanden. Co-Direktor Christoph Zehnder habe letztes Jahr an der «Paris Photo», einer der renommiertesten Fotografiemessen Europas, Magnum-Kulturdirektorin Andréa Holzherr kennengelernt. Sie bot dem Oltner Haus die von Magnum 2014 erstmals präsentierte Ausstellung an.
Erstmals ist «Contact Sheets» somit in der Schweiz zu sehen. «Nicht das grosse Bild ist in dieser Ausstellung im Fokus – es lohnt sich, nah ranzugehen und das Detail zu betrachten», sagt Miriam Edmunds, als sie auf den Rundgang führt. Wer diesem von unten nach oben folgt, durchschreitet chronologisch das letzte Jahrhundert im Zeitraffer. Doch die Zeit geht schnell vergessen ob den starken Geschichten und den individuellen Schaffensarten der Fotografen (Frauen sind arg in der Minderzahl).
Die Original-Kontaktbögen erzählen die Geschichte – die Ikone, die daraus hervorging, ist daneben jeweils im Grossformat zu sehen. Die Fotografen legen in dieser Ausstellung den Entwicklungsprozess der Werke offen, die später zu ikonischen Bildern wurden. Damals, zur Zeit der analogen Fotografie, war dieser Prozess noch mit aufwändiger Handarbeit verbunden, ehe aus dem Zelluloidfilm in der Dunkelkammer ein Kontaktbogen mit den Negativen wurde. Daraus liess sich dann das gewünschte Foto entwickeln.
Wenn das Geheimnis bleibt
Nicht alle Fotografen liessen diesen Einblick in ihr Wirken einfach so zu, erzählt Edmunds. Als Beispiel dafür steht die Arbeit von Henri Cartier-Bresson. Er, einer der Gründer der Agentur Magnum, verglich sein Tun mit der Arbeit in einem Restaurant. Wenn er seine Kontaktbögen zeige, so sei dies, als ob jemand in die Küche spazieren würde, um mitzuverfolgen, wie das später servierte Menü zubereitet werde.
Andere Fotografen wiederum legen schonungslos offen, wie mühselig der Prozess zum perfekten Bild war. Zu sehen ist im Oltner Haus der Fotografie, wie die berühmte Aufnahme vom malenden Salvador Dalí mit den durch die Luft gewirbelten Katzen und dem Wasserstrahl entstand. Geschlagene sechs Stunden und 28 Versuche benötigte Fotograf Philippe Halsman dafür.
Oder Marc Ribouds Aufnahmen am Eiffelturm in Paris zeigen, wie die Maler sich im Balanceakt am monumentalen Bauwerk hocharbeiten. Ein Balanceakt scheint dies auch für den Fotografen gewesen zu sein, denn der Kontaktbogen mit den Negativen verrät, wie viele Versuche er für das perfekte Bild benötigte. Das eine Foto sticht auf den ersten Blick heraus.
Manchmal bilden Kontaktbögen auch nur ein Überbleibsel dessen ab, was der Fotograf erfahren hat. Als Robert Capa mit den Alliierten in der Normandie an Land ging, gings in erster Linie ums nackte Überleben. Von einem sinkenden Schiff musste er sich aufs nächste retten, wobei viele Filme nass wurden. Neun Bilder blieben als Zeitzeugen.
Und manchmal überlässt der Kontaktbogen die Geschichte der Betrachterin. Im Haus der Fotografie zu sehen ist die weltberühmt gewordene Aufnahme von Stuart Franklin vom Tiananmen-Platz in Peking. Am Tag, nachdem die chinesische Regierung 1989 die Proteste niedergeschlagen hatte, hielt Franklin aus der Ferne fest, wie ein Mann sich einer Panzerkolonne in den Weg stellt. Die Kontaktbogen-Bildserie verrät, was vorher und nachher war: Wie die Panzer sich nähern. Wie der Mann mit einer Tasche in den Händen stehen bleibt. Als die Kolonne zum Stillstand kommt, klettert er am Panzer hoch. Danach wird er abgeführt.
Trotz Kontaktbogen lässt das Bild viele Fragen unbeantwortet. Unsere Imagination ist gefragt.