Was die Oltner Tafel mit dem Klimawandel zu tun hat
Wenn die Aare wie in diesen Wochen viel Wasser führt, bleiben die Schaulustigen gern auf der Holzbrücke stehen. Viele erblicken dann am Fuss der Altstadt die Wasserstandstafel. Wie ein Massbecher zeigt sie an, wie viel Wasser der Fluss im historischen Vergleich führt. In diesem Jahr rauscht das Aarewasser schon seit Wochen meist nur wenige Zentimeter unterhalb der Wasserstände aus den Jahren 2001 und 2006 hindurch. Der reissende Fluss gibt ein eindrückliches Bild ab.
Ein Bild, das im Juli Tausende von Menschen sahen. Wie eine Flutwelle verbreitete sich eine Aufnahme aus Olten auf den sozialen Netzwerken im Internet. Gerade in Deutschland ging das Bild der Oltner Aare viral. Unter anderem der AfD-Politiker Max Kneller teilte das Bild mit einem ironischen Kommentar: «Die Klimakatastrophe von 1852 war besonders schlimm.» Die Botschaft war eindeutig. Der Politiker und mit ihm viele andere Menschen suggerierten: Das diesjährige Hochwasser habe nichts mit dem Klimawandel zu tun, da Flüsse bereits 1852 über die Ufer traten. Das deutsche Onlineportal für investigativen Journalismus «Correctiv» griff die Debatte auf und unterzog die kursierende Behauptung einem Faktencheck.
Das Bild aus Olten zeigt exemplarisch, wie sich falsche Informationen im Netz verbreiten können. Angefangen damit, dass das Oltner Foto auf die Flutkatastrophe in Deutschland vom Juli bezogen irrelevant ist. Der Kontext fehlt gänzlich, was problematisch ist und zu falscher Interpretation verleitet. Offen blieb auch die Quellenfrage. Wie Correctiv über die Google-Bilderrückwärtssuche recherchierte, stammt der Bildausschnitt vermutlich von einer Aufnahme des OT-Fotografen Bruno Kissling.
Kein Zufall, sondern fremdbestimmt
Aber zur inhaltlichen Frage: Inwiefern hängt der hohe Aareabfluss der letzten Wochen, verursacht durch die diesjährigen Starkniederschläge, mit dem Klimawandel zusammen? Wir öffnen den Blick. Andere Medien haben diese Frage in den letzten Tagen im globalen Kontext beleuchtet. Im Fokus stand eine neue Studie, die einmal mehr belegt: Extremereignisse werden mit dem Klimawandel wahrscheinlicher.
Die Naturgewalt traf die Menschen auf verschiedene Weise. In Kanada und den USA erlebten die Bewohner der Pazifikküste eine Hitzewelle. In Nordrhein-Westfahlen und Rheinland-Pfalz schwemmte eine ungeheure Flut ganze Dörfer weg. Bezogen auf die beiden Beispiele sprach der ETH-Forscher Erich Fischer im Tagesanzeiger von «pulverisierten Rekorden». Die oben erwähnte Studie befasst sich mit der Frage, wie stark sich die Rekorde mit zunehmender Temperatur entwickeln. Der ETH-Forscher bilanziert: «Die Modelle zeigen uns, dass das gleiche Wetter in einer wärmeren Welt zu extremen Ereignissen führen kann.»
Von Extremereignissen in diesem Ausmass blieb das Mittelland in diesem Jahr bisher verschont. Lokal – wie etwa letzte Woche in Stüsslingen und Lostorf – sorgten Starkniederschläge jedoch für übertretende Bäche und verursachten erhebliche Schäden. Die Aare blieb aber mehrheitlich unter Kontrolle. Wie der Kanton auf Anfrage mitteilt, bewegte sich der Aareabfluss in diesem Jahr grösstenteils im üblichen Rahmen. Die Abflüsse der letzten vier bis fünf Wochen sind jedoch aussergewöhnlich, wie der langjährige Vergleich an der Messstelle in Murgenthal zeigt. Trotzdem stand uns das Wasser sinnbildlich gesprochen nur bis zum Hals. Ohnehin gilt: Was in Olten die Aare abfliesst, ist nicht bloss den zufälligen Extremereignissen geschuldet, sondern gebändigte Naturgewalt.
Die unten vertrauen denen oben am Flusslauf
Dafür sorgt die Murgenthaler Bedingung. Mit dieser Vereinbarung aus den frühen 1980er-Jahren einigten sich die Kantone, wie sie die Gebiete unterhalb des Bielersees vor Hochwasser schützen können. Denn mit den drei Jurarandseen (Bielersee, Neuenburgersee und Murtensee) verfügt das Mittelland über drei Speicherbecken, die über Schleusen reguliert sind. Als Folge des regenreichen Sommers in diesem Jahr halten die zuständigen Stellen den Abflusspegel der Aare seit mehreren Wochen künstlich hoch, um die Speicherkapazität der Seen wiederherzustellen. Dass der Mensch den Aareabfluss kontrollieren kann, machten die beiden Juragewässerkorrekturen überhaupt erst möglich. Von 1962 bis 1973 wurde der Flusslauf zwischen Biel bis hinunter nach Solothurn verbreitert und vertieft. Knapp 100 Jahre zuvor war die Aare in den Bielersee umgeleitet worden, womit dieser als Speichersee funktionierte.
Wer also heute an der Tafel mit den Wasserständen am Tor zur Oltner Altstadt vorbeiläuft und sich denkt: «Was muss dies damals für ein Hochwasser gewesen sein, im Jahr 1852?» muss wissen: Obwohl der Vergleich naheliegend sein mag, hält dieser nicht stand. Das sei wie Birnen mit Äpfeln vergleichen, sagt mir Philipp Staufer, stellvertretender Chef vom Amt für Umwelt vom Kanton Solothurn am Telefon. «Seit dem 19. Jahrhundert haben sich die Wasserwirtschaft und die Landnutzung erheblich verändert.» Die Stauseen in den Bergen und die Juragewässerkorrekturen wirken sich bis auf die Wasserführung im Rhein aus.
Die Emme als Spielverderberin
Heute gilt: Solange die Seen nicht voll sind, haben die Behörden weitestgehend die Kontrolle über den Aarepegel. Einer der grössten Unsicherheitsfaktoren ist die Emme. Sie mündet zwischen Zuchwil und Luterbach in die Aare. Wie alle Bäche in diesem Gebiet ist sie nicht reguliert. Fällt in den Emmentaler Alpen viel Niederschlag, kann die Emme auf ihrem Weg ins Mittelland stark ansteigen und zum reissenden Fluss heranwachsen. Dies geschah im August 2007 und führte zu Überschwemmungen flussabwärts. Was folgte, waren Schuldzuweisungen. Die Aargauer Behörden warfen Bern vor, den Abfluss am Bielersee aus Angst vor Hochwasserschäden nicht gedrosselt zu haben.
Mit einer groben Faustregel lässt sich in Olten an der Aare ablesen, woher das Wasser kommt. Ein Indiz dafür, dass die Aare viel Wasser aus der Emme führt, ist die braune Färbung. Kommt die Aare blaugrün daher, bringt sie mehrheitlich Wasser aus dem Bielersee. In diesem Jahr blieben die Abflussmengen der Emme und auch jene der Dünnern in Olten in einem Rahmen, der statistisch fast jedes Jahr erwartet werden kann, wie das Amt für Umwelt mitteilt. Hätten die beiden Nebenflüsse mehr Wasser gebracht, wäre vermutlich die Hochwassersituation in Solothurn und Aargau kritisch geworden. Denn die Speicherkapazität der Jurarandseen war ausgeschöpft.
Die trügerische Interpretation
Zurück zum Jahr 1852 auf der Oltner Tafel, als die Aare offenbar einen Rekord-Höchststand erreicht hatte. Der Wert blieb daraufhin unerreicht. Aber an diesem Einzelereignis lässt sich der Klimawandel nicht widerlegen. Die langfristige Entwicklung zählt in der Wissenschaft. Deshalb sind Forscherinnen vorsichtig, wenn sie die gehäuften Ereignisse der letzten Jahrzehnte bewerten. Die Hauswand in der Oltner Altstadt liefert nicht die einfache Antwort auf die Klimafrage. Zumal eine wesentliche Frage nicht öffentlich bekannt war: Wer erfasst überhaupt die Daten und aktualisiert die Tafel?
Darüber rätselte auch Franco Giori, nachdem das Oltner Bild in Deutschland viral gegangen war. Der Stabschef des regionalen Führungsstabs, der bei Notsituationen eingesetzt wird, fand die Antwort in der eigenen Verwaltung. Der Oltner Tiefbau unterhält die Tafel. «Ich bin der Meinung, dass die Stadt regulieren müsste, nach welchen Kriterien sie die Wasserstände festhält oder nicht», sagt Franco Giori am Telefon. Bisher habe der Tiefbau dies nach «eigenem Empfinden» getan. Beispielsweise der hohe Wasserpegel aus dem Jahr 2013 ist auf der Tafel nicht festgehalten.
Offene Fragen und ihre Antworten
Wie ist der aussergewöhnlich hohe Wasserpegel in den Monaten Juni und Juli einzuordnen? Wie könnte die Zunahme der Hochwasserereignisse in diesem Jahrhundert mit dem Klimawandel zusammenhängen?
Gegenüber «Correctiv» ordnet Michèle Oberhänsli, Hydrologin beim Bundesamt für Umwelt, die Ereignisse im zeitlichen Kontext wie folgt ein:
«In den letzten Jahrzehnten wurde in der Schweiz und in vielen anderen Regionen Europas eine Häufung von großräumigen Hochwassern beobachtet. Betrachtet man die letzten 500 Jahre, so waren die letzten 30 Jahre die hochwasserreichsten von Europa.»
Und das kantonale Amt für Umwelt schreibt zu diesen Fragen:
«Es kann nicht oft genug betont werden, dass der Klimawandel sich auf die Häufigkeitsverteilung der Extreme auswirkt. Das heisst, dass Extreme, die normalerweise nur einmal pro Menschenleben eintreten, durchaus zukünftig mehrmals erlebt werden können.»
Und es führt weiter aus:
«Darum: Abflüsse in dieser Höhe sind in der Aare bereits früher aufgetreten. Eine Folge des Klimawandels kann aber nun sein, dass dies häufiger passiert, als frühere Statistiken erwarten lassen. Zudem könnten die Spitzenabflüsse grösser werden – je nachdem wie stark sich das Klima in den nächsten Jahrzehnten erwärmt. Dies hängt bekanntlich wesentlich von unserem künftigen diesbezüglichen Tun ab.»
Der verklausulierte letzte Satz zielt auf die Klimaschutzmassnahmen und die Dekarbonisierung ab.
Was nun?
Nach den extremen Hochwassern in den Nullerjahren reagierten die Kantone schweizweit mit grossen Hochwasserschutzprojekten und investierten insgesamt 4,5 Milliarden Franken. Im damals stark betroffenen Niederamt realisierte der Kanton innerhalb von zehn Jahren Dämme, Mauern und Seitengerinne. Durch die Massnahmen kann die Region einen Aareabfluss von 1’400 Kubikmetern pro Sekunde verarbeiten. Beim diesjährigen Hochwasser erreichte die Aare zur Spitzenzeit rund 1’000 Kubikmeter pro Sekunde, wie der Kanton mitteilt. Das Amt für Umwelt bilanziert:
«Bezüglich Aare und Emme haben sich die realisierten Hochwasserschutzmassnahmen bewährt. Massnahmen an der Dünnern sind in Planung und sind aus Sicht des Kantons zwingend umzusetzen.»
Das Hochwasserschutzprojekt in Herbetswil steht kurz vor dem Baustart. Wesentlich grösser ist das Projekt, die Dünnern zwischen Oensingen und Olten zu revitalisieren und für Hochwasser fit zu machen. Viel Arbeit bleibe auch an den kleineren Gewässern, um die vorhandenen Hochwasserschutzdefizite zu eliminieren, so der Kanton. «Diese können bereits bei sehr lokalen Gewitterereignissen stark anschwellen und Schäden verursachen.»
Wie hoch die Aare in Olten und weiter flussabwärts kommt, entscheidet sich anderswo. Der Kleinstadt bleibt nur das Vertrauen in die Behörden. Franco Giori würde aber gerne wieder eine Messstation in der Stadt haben. «Wir orientieren uns immer am Murgenthaler Pegel und schauen mit Augenmass, wie hoch das Wasser steht», sagt er. Auch der Transparenz wegen und um Fake News entgegenzuwirken, möchte er die Stadt dazu bringen, am Ländiweg eine öffentliche Messstation zu installieren.