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«Wenn die Gäste fragen, wie es mir geht, kann ich nicht lügen»

Es ist Krieg in der Ukraine, und in Olten – ist das spürbar. Drei Menschen erzählen. Teil eins: Nelia Schneider.
7. März 2022
Text: Jana Schmid, Fotografie: Timo Orubolo

Es war Fasnacht in der Waadtländerhalle. Girlanden hingen von der Decke, Nelia drängte sich an kostümierten Gästen vorbei, brachte noch eine Stange, noch ein Kafi Lutz, merci, stimmt so, de Räscht esch för de. Nelia arbeitete ihre Schicht ab in der Beiz, die ihr vertraut ist wie kaum ein anderer Ort, räumte Bierdeckel und feuchte Konfetti von den Tischen ausgelassener Trinkrunden, und spürte – nichts. 

Es war Fasnacht in der Waadtländerhalle, und Nelia war wie betäubt, während auf ihre Heimatstadt die ersten Bomben fielen. 

Die Ukraine war im Krieg. Russische Truppen attackierten Charkiw, die Stadt in der Ostukraine, in der Nelia die ersten 19 Jahre ihres Lebens verbracht hatte. 

Sie griff zum Telefon, wann immer sie konnte. In jeder Pause, nach Feierabend, in den frühen Morgenstunden, wenn die Fasnächtler ihren Rausch ausschliefen, rief Nelia ihre Familie an.

Die Mutter, die Schwester, der Schwager – alle sind sie dort, wo sie schon immer waren, und konnten, genau wie Nelia, nicht wirklich glauben, was geschieht. «Ich glaube, kein Mensch auf der Welt hat das kommen sehen», sagt Nelia einige Tage nach der Fasnacht. Der Schock der ersten Tage klingt langsam ab, und es fällt ihr heute schwerer, ihre Emotionen hinter der Professionalität einer erfahrenen Servicefachfrau zu verstecken. 

«Plötzlich las ich: Wir haben Krieg. Ich brauchte vier Tage, um es wirklich zu glauben. Du siehst, du liest – und du glaubst nicht, dass das die Wahrheit ist. Jetzt sinkt es langsam ein, und die Gefühle kommen. Aber verstehen? Nein. Verstehen kann ich bis jetzt nichts», sagt Nelia, und die Stimme bricht immer wieder, als sie nach ihrer Mittagsschicht an einem der langen Tische sitzt und erzählt. Die Girlanden hängen noch, aber es ist Ruhe eingekehrt in der Waadtländerhalle. 

Nelia hat Russland und die Ukraine nie als etwas Getrenntes wahrgenommen. In der Sowjetunion, in die sie hineingeboren wurde, ohnehin nicht. Aber auch später nicht, als die Ukraine ein unabhängiger Staat war. «Kulturell waren wir eine Einheit. In der Ostukraine war es ganz normal, russische Freundinnen zu haben – und umgekehrt. Diese politischen Differenzen, so dachten wir, gingen uns nie etwas an. Das war auf einer Ebene, die uns im täglichen Leben nicht tangierte.» Nelia ist als 19-Jährige allein aus der Ukraine ausgewandert. Unvorstellbar war es für sie bis vor wenigen Tagen, dass in ihrer Heimat je ein Krieg mit Russland ausbrechen würde. 

«Und jetzt wird es nie mehr sein wie früher. Es ist purer Wahnsinn.»

Vor einem Monat noch hatte Nelias Schwester einen Besuch in der Schweiz geplant. Jetzt sitzt sie mit ihrer Familie in einem Untergeschoss in Charkiw. Und hofft. Auf ein wenig Schlaf, auf Gottes Segen, auf ein baldiges Ende dieses Wahnsinns. «Meine Familie will in Charkiw bleiben», erzählt Nelia. «Wohin sollen wir gehen, sagen sie. Wir können nicht unser ganzes Leben in einen Koffer packen.»

Und Nelia ist in Olten, serviert ihren Gästen dasselbe wie immer und sagt, sie fühle sich gesegnet, hier in Sicherheit zu sein. Wie schmerzhaft sich dieses Gesegnet-Sein gerade anfühlen muss, sieht man ihr auch an, ohne dass sie darüber spricht. 

Sie ringt um Fassung, holt tief Luft, putzt ihre Brille und lächelt. Das Lächeln sieht echt aus.

Sie sei froh, in diesem Restaurant zu arbeiten, mit dieser Chefin, die sie immer unterstütze, und der Kundschaft. «Ich will bei der Arbeit nicht zu emotional sein. Ich bin erwachsen. Ich brauche Unterstützung, Verständnis – aber Mitleid brauche ich nicht. Doch wenn die Gäste mich fragen, wie es mir geht, dann kann ich nicht lügen.»

Dass die Menschen hier Fasnacht feierten, während anderswo ein Krieg ausbrach, das verurteilt sie nicht, sagt Nelia. «Ich kann nicht erwarten, dass das Leben stoppt.» Dennoch war sie tief berührt, als sie erfuhr, dass die Oltner Stadtkirche in den Farben der ukrainischen Flagge beleuchtet wurde. «Solidaritätsbekundungen und friedliche Demonstrationen sind jetzt so hilfreich. Das erreicht die Menschen in der Ukraine – Nachrichten von überall auf der Welt verbreiten sich im Moment extrem schnell auf ukrainischen Kanälen. Die Menschen dort bekommen das mit. Und das tut gut.»

Selbst kann sich Nelia nicht vorstellen, an einer Kundgebung teilzunehmen. Es ginge ihr zu nahe. Später vielleicht, aber wer weiss schon, was später kommt.

«Jeder Tag ist neu. Irgendwann wird auch das hier vorbei sein. Wir können nichts als hoffen.»

Nelia hat noch drei Stunden Freizeit, bis das Restaurant am Abend wieder öffnet. Die Girlanden bleiben die nächsten Tage noch hängen. Danach erinnert nichts mehr an die Fasnacht. 


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