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Wo die Welt zuhause ist

Wie immer habe ich rumgetrödelt und prokrastiniert. Jetzt aber gibt es kein Aufschieben mehr. Die Kolumne muss geschrieben werden. Nur: worüber? Brüssel ist so eine vielfältige Stadt, da gibt es allerhand Themenkandidaten. Zum Beispiel die Tatsache, dass es in der 1,2-Millionen-Metropole kein einziges Freibad gibt. Nicht eines.
22. Juli 2021
Text: Remo Hess, Bild: Jefke Blouson (wikimedia)

Das Fehlen einer Badi ist weniger ein Problem, wenn es wie in den vergangenen Wochen nur regnet. Aber wenn sich das Thermometer auf 40 Grad hochschraubt, so wie letzten Sommer, dann wird die Stadt mit ihren Backsteinhäusern zum Hitzegefängnis.

Wer’s nicht mehr aushält, kann sich dann in eines der runtergekühlten Museen verziehen, von denen es in Brüssel mit über 100 rekordverdächtig viele und zu den verschiedensten Themen gibt: René Magritte, Bier, Schokolade, Musikinstrumente, Dinosaurier, Comics, Trams und sogar ein Museum über Strassenlaternen steht in der Stadt.

Natürlich darf auch ein Museum über Viktor Horta nicht fehlen, den belgischen Jugendstil-Architekten, der Brüssel zum europäischen Art-Nouveau-Hotspot verwandelte. Leider sind viele der einzigartigen Horta-Häuser heute verschwunden, da sie der «Brüsselisierung» zum Opfer fielen. Darunter versteht man das unkontrollierte Einfügen von hässlichen Funktionsbauten in historische Quartiere, wie es die Stadtverwaltung in den 1960er und 70er Jahren mit Ambition betrieben hatte.

Nicht «brüsselisiert» wurde hingegen der Justizpalast, den der belgische König Leopold II. (sie nennen ihn auch den «Schlächter vom Kongo») Ende des 19. Jahrhunderts den aufmüpfigen Arbeitern im Marollenviertel vor die Nase gesetzt hatte. Seit 1984 ist das giganteske Gebäude mit seinen acht Innenhöfen, 27 Gerichtssälen und der 116 Meter hohen Goldkuppel in Dauerrenovation, sodass mittlerweile sogar das Baugerüst, das die Fassade ummantelt, renoviert werden musste. Für einen Zeitungsartikel habe ich mich mal hinein ins Labyrinth gewagt und traf am Ende eines Wirrwarrs aus Gängen, Treppen und Vorzimmern den ehemaligen Chef des belgischen Geheimdienstes, der mir Auskunft über Brüssel als «Stadt der Spione» geben sollte.

Vor allem China, Russland und die USA schicken Spione in die Hauptstadt der EU. Aber eigentlich soll mehr oder weniger jedes Land der Erde (auch die Schweiz?) hier nachrichtendienstlich tätig sein. Denn eines ist klar: Brüssel ist die Stadt, wo die Welt zuhause ist. 180 verschiedene Nationalitäten leben hier. Kosmopolitisch kann da wohl nur noch New York mithalten. Immer wieder trifft man in Brüssel auf interessante Menschen aus den unterschiedlichsten Weltgegenden.

So wie gerade letzten Sonntag bei der Buvette im Park: Der unbekannte Tischnachbar trägt auf seinem rechten Arm ein buntes Tattoo, das deutsche Sturzkampfbomber, rote Sterne und den Schriftzug «Liberté» zeigt. Auf dem linken Arm prangt das Konterfei von Lenin und Marx. Angesprochen auf die Zeichnungen erklärt er, dass diese seine Vergangenheit als Aktivist für den kommunistischen Umsturz in Chile illustrieren. Vergangenheit deshalb, weil er nach einem mehrwöchigen Aufenthalt bei der kolumbianischen Farc-Guerilla allmählich ins Zweifeln kam, ob das mit der gewaltfreien Revolution doch noch klappen werde.

Bei einem Dschungel-Trip zum Ayahuasca-Schamanen erlebte er dann das Universum in seinem Inneren und seine spirituelle Wiedergeburt als – wie er es nannte – «Öko-Humanist». Nach einem Stage beim Europaparlament siedelt er in ein paar Tagen nach Südfrankreich über, um in einer alternativen Kommune der Permakultur nachzugehen. Brüssel hat viel zu bieten: Architektur, Kultur, eine reichhaltige Historie. Aber keine Badi.

*Remo Hess (35) lebt und arbeitet seit 2016 als Journalist in Brüssel.


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