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Zur Ablenkung eine verbotene Orgie im Park

Das Nachrichten-Business kann gerade in diesen Tagen wieder auf das Gemüt schlagen. Gut, gibt es die Brüsseler Parks und ihre verborgenen Schätze.
5. April 2022
Text und Fotografie: Remo Hess*

Seit ich 2016 in Brüssel als Journalist angekommen bin, ging es Schlag auf Schlag. Zuerst die Terroranschläge. Dann Brexit. Dann die Wahl von Donald Trump und der allgemeine Aufstieg der Populisten. 2019 kamen Europawahlen. 2020 ging es nahtlos weiter mit Corona. Und natürlich lief im Hintergrund stets die schwierige Beziehungskiste Schweiz-EU.

Da kommt man sich manchmal schon vor wie ein Nachrichten-Durchlauferhitzer und gezieltes Abschalten vom News-Business ist umso wichtiger. Gerade jetzt wieder, wo sich seit über einem Monat alles um den fürchterlichen Krieg in der Ukraine dreht.

Leider kann man in der Millionenstadt nicht kurz mal auf die Höhen des Jurasüdfusses ausweichen oder einen lauen Tag an der alten Aare in Winznau verbringen. Jedes Mal die eineinhalbstündige Zugfahrt ans Meer in Angriff nehmen mag ich auch nicht. Zur Entspannung und um etwas Luft zu schnappen, gehe ich deshalb gerne in einen der zahlreichen Brüsseler Parks.

Wenns um den Lieblingspark geht, hat jeder seine Favoriten. Es gibt viele nette, kleinere Parks, wie der geheimnisvoll-verschlungene «Parc Tenbosch» im schicken Viertel Châtelain. Es gibt den grossen Königspark in Laeken, wo auch die königlichen Gewächshäuser stehen, die einmal im Jahr besichtigt werden können, oder den beliebten «Bois de la Cambre», eine ausgedehnte Parkanlage mit künstlichen Teichen im Süden Brüssels, die sich an die Überreste des ehemaligen «Kohlewalds» anschliesst, eines sich vom Rhein bis zur Nordsee erstreckenden Urwalds zu Zeiten der Römer.

Mein persönlicher Lieblingspark aber ist der «Parc Cinquantenaire». Er ist gleich bei mir um die Ecke und zu Fuss in ein paar Minuten erreichbar. Er wurde von König Leopold II. zum 50. Jahrestag der Staatsgründung 1880 angelegt. Mit dem Blutgeld aus dem Kongo, wo Leopold ein menschenverachtendes Kolonialregime betrieb, liess der bärtige Regent mehrere repräsentative Bauten auf dem Gelände erstellen.

Das Herzstück bildet der monumentale Triumphbogen, ähnlich dem Brandenburger Tor. An ihn angeschlossen sind das Armeemuseum, das Automuseum und das königliche Museum für Kunst und Geschichte. Unter den Arkaden tanzen die Brüsselerinnen am Abend Tango, während sich ein Steinwurf entfernt Spione mit ihren Informantinnen treffen (kein Witz!) und daneben alte Männer Pétanque spielen.

Im Cinquantenaire kann man aber auch verschiedene kleine Perlen entdecken. Wie etwa den «Tempel der menschlichen Leidenschaften» des damals noch unbekannten Art-Nouveau-Architekten Victor Horta. Er befindet sich gleich neben der ersten Moschee Belgiens (eine Geschichte für sich) und heisst so wegen des gleichnamigen Marmorreliefs des belgischen Bildhauers Jef Lambeaux in seinem Innern.

Mit dem Pavillon ist eine kontroverse Geschichte verbunden, die bereits mit seinem Bau begann. Eigentlich wollte Horta den Tempel ganz nach Vorbild eines griechischen Säulentempels offen halten. Allerdings geriet er schon bald in Streit mit dem Künstler und auch die Öffentlichkeit wehrte sich gegen eine freie Sicht auf das Relief, da es ziemlich explizite Darstellungen zeigt.

Konkret: Eine wüste Orgie von nackten, ineinander verschlungenen Männern und Frauen, dazu Szenen einer Vergewaltigung, Selbstmord und Krieg. Über allem thront der personifizierte Tod flankiert vom gekreuzigten Jesus. Zu viel für die katholisch-konservative belgische Gesellschaft des 19. Jahrhunderts und erst recht zu viel für das Königreich Saudi-Arabien, dem der damalige König der Belgier, Roi Baudouin, den Pavillon Ende der 60er Jahre als Leihgabe überliess. Bestrebungen der Saudis, das Relief zu entfernen, scheiterten. Aber auch nachdem Belgien den Tempel wieder zurückgenommen hatte, blieb er geschlossen und ist bis heute höchstens ein paar Mal im Jahr der Öffentlichkeit zugänglich. Der offizielle Grund für die Schliessung lautet Schutz vor Vandalismus.

Wobei: Dass der Tempel überhaupt nicht zugänglich wäre, stimmt so nicht ganz. Wer nämlich genau hinschaut, entdeckt in den hohen Eingangspforten ein kleines, vergittertes Guckloch, durch welches man ins Innere des Tempels spienzlen und einen Blick auf das Relief werfen kann. Wenn man sich also auf die Parkbank gegenüber setzt und etwas wartet, sieht man in regelmässigen Abständen Menschen vorbeikommen, wie sie sich verstohlen der Türe nähern und mit gebücktem Rücken und mit zugekniffenen Augen die verbotene Szenerie über die menschliche Sündhaftigkeit betrachten. Irgendwie passt das meiner Meinung nach ganz gut zum Gegenstand des Gezeigten. Es wäre schade, würde man daran etwas ändern.

*Remo Hess (36) lebt und arbeitet seit 2016 als Journalist und EU-Korrespondent in Brüssel.


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