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Bauern fernab der Polemik

Viele Landwirte haben das Gefühl, die Städter würden ihnen vorschreiben wollen, wie sie zu bauern haben. Ein heftiger Abstimmungskampf ist entbrannt. Auf einem kleinen Hof im gebirgigen Jura scheint der Lärm weit weg. Christoph zeigt, wie sich innovative Landwirtschaft lohnen kann.
4. Juni 2021
Text: Yann Schlegel, Fotografie: Timo Orubolo

Früher teilten wir fast alles, Christoph und ich. Unsere Familien wohnten im selben Bauernhaus. Sobald wir uns auf den Beinen halten konnten, kletterten wir unermüdlich die steil abfallenden Jurahänge hoch, die uns im Winter die besten Schlittelpisten boten. Wir hingen in den Kirschbäumen und schlugen uns den Bauch voll.

Im Jura-Trichter rund um das winzige Solothurner Dorf Rohr lag unsere Lebenswelt. Alles, was sich darüber hinaus befand, kannten wir nur vom Hörensagen unserer Eltern oder von unseren seltenen Expeditionen in die nahen Städte. Wir teilten auch den Idealismus, wenn wir in stundenlangen Gesprächen uns ausmalten, wie es in Amerika oder sonst wo auf der Erde so vor sich gehen mochte. Denn wir wussten: Nicht überall ist das Leben so schwerelos wie das unsere. Wir glaubten daran, die Welt verbessern zu können.

Und dann kam dieser Lastwagen, der die Hebebühne bis ans Fenster meines Kinderzimmers im ersten Stock hochfahren konnte und in den all unsere Sachen locker reinpassten. Der Umzug in die Stadt fühlte sich für mich wie eine harte Landung auf einem neuen Planeten an. Zurück blieb die kleine Welt im Jura. Zurück blieb der Bauernhof. Zurück blieb mein Freund Christoph. Aber unsere Freundschaft überdauerte all die Jahre. Auch unseren Idealismus bewahrten wir. Christoph übernahm letztes Jahr den Bauernhof seiner Eltern, ich wurde Journalist.

Christoph ist ein politischer Mensch, aber das Rampenlicht war nie seine Sache. Fast schüchtern schon ist er, als wir auf dem Bauernhof ankommen. Wie bereits seine Eltern führt er den Betrieb in der Abgeschiedenheit und zieht sein Ding durch. Ohne sich jedoch äusseren Einflüssen zu verschliessen, im Gegenteil. Was die Eltern aufbauten, führt er fort. Die Hümbelins waren keine klassische Bauernfamilie, sondern eher sowas wie späte 68er-Aussteiger. Beide hatten sie Biologie studiert, doch früh liessen sie die akademische Karriere hinter sich. Ihre Lebensaufgabe fanden sie auf dem Gitziberghof im Jura. Seit gut vier Jahrzehnten ist die Familie Hümbelin mit naturverbundener Demeter-Landwirtschaft erfolgreich.

Was sie taten, war eine stille Rebellion gegen die Entwicklungen da draussen, wo die Landwirtschaft immer intensiver wird, immer mehr kleine Betriebe aufgeben müssen. Und zunehmend die Produktionsmaximierung im Vordergrund steht.

Auf dem Gitziberg glaubten sie an die Landwirtschaft, die der Natur viel Gewalt lässt. Christoph wuchs als ältester Sohn mit dieser Überzeugung auf. Er zeigt mit einer Handbewegung hinter sich, wo eine Blumenwiese wie eine Wand hochragt und in einem abrupten Horizont zum Himmel endet. Als Trockenwiese von nationaler Bedeutung zählt sie zum Bundesinventar. «Diese Flächen machst du fast nur für Direktzahlungen und aus Freude. Ich finde es spannend, so etwas zur Artenvielfalt beizutragen. Dann bist du eben auch Landschaftspfleger», sagt er.

Als Bauer, der nur Grünland bewirtschaftet und dabei nicht einmal Bio-Pestizide einsetzt, ist Christoph von den Agrarinitiativen kaum betroffen. «Musst du dir manchmal anhören, du lebtest in einer heilen Welt?», frage ich ihn. Der Taleinschnitt gibt die Sicht auf das Dreigestirn Eiger-Mönch-Jungfrau frei.

Mit Bauern habe er nicht gross darüber gesprochen, sagt Christoph, gibt aber zu: «Gewisse Dinge sind hier oben einfacher. Für einen Acker- oder Obstbaubetrieb ist es viel anspruchsvoller als für einen Viehbetrieb, auf Pestizide zu verzichten.»

Christoph stört sich an der heftigen Debatte zu den Agrarinitiativen, die kaum Nuancen kennt. «Es wird auf beiden Seiten so viel Mist erzählt», sagte er mir, als ich am Telefon anfragte, ob wir auf dem Bauernhof vorbeischauen dürften. Eben habe er auf seinem Land ein Plakat für die Pestizidinitiative aufgehängt, erzählt er mir. Er steht voll hinter ihr, weil sie für ihn wesentlich differenzierter ist und spezifisch synthetische Pestizide verbieten will. Er gibt aber zu bedenken: «Für einen Obstbaubetrieb ist’s schon einschneidend. Ein Weinbauer, der seine Rebstöcke für vierzig Jahre hat, hätte bloss eine Übergangszeit von zehn Jahren. Und somit wenig Zeit, seine Sorten umzustellen.»

Die liberale Trinkwasserinitiative, die auf Anreize setzt, lehnt Christoph ab, weil sie zu viele Türen offenlässt. «Die Anliegen unterstütze ich zwar alle, aber sie ist nicht ausgereift», sagt er. Für ihn sind es der Widersprüche viele: Die Initiative will sauberes Trinkwasser fördern, indem nur jene Bäuerinnen noch Direktzahlungen kriegen, die ohne Pestizide auskommen. Für den Import macht sie aber anders als die Pestizidinitiative keine Vorschriften. Er sagt: «Das entspricht der Mentalität: ‹Mir ist egal, wenn gegiftelt wird, solange es nicht in meiner Umgebung geschieht.›» Besonders stört ihn auch, dass die Trinkwasserinitiative keine Einschränkungen für Private macht.

Zudem sei in dieser Initiative nicht klar definiert, welche Pestizide noch erlaubt wären. «Im biologischen Obst-, Gemüse- und Rebbau wird noch viel gespritzt, was nicht synthetisch ist», sagt er. Weiter findet er die Vorgabe, wonach der Futterzukauf verboten sein soll, zu undifferenziert. Es sei ohnehin sein Ziel, den Zukauf zu vermeiden, sagt er. «Aber die letzten Jahre haben wir uns wegen der Trockenheit verschätzt.»

Mit seiner gespaltenen Haltung fürchtet er, in einen Topf geworfen zu werden. Für viele Bauern zählt nämlich nur das doppelte Nein zu den Agrarinitiativen. Über das grosse Missverständnis zwischen Stadt und Land ist in den letzten Wochen viel geschrieben worden. Hier die Städterinnen, die sich darüber enervieren, dass die Bauern sich nicht den Umweltkrisen stellen wollen, obwohl sie durch sie gebeutelt sind. Dort die Landwirte, die sich als Abwehrreaktion gegen die Vorschriften der urbanen Gründenker stellen. «Ich glaube, die Bauern sehen die Arbeit, die hinter den politischen Forderungen steckt, und sie haben Angst, dass diese nicht abgegolten wird», sagt Christoph.

Auch er verstehe viele Bauern nicht. Doch die Öffentlichkeit stehe auch in der Verantwortung, die Landwirte zu sensibilisieren, findet er. Wie die SRF-Rundschau 2019 aufzeigte, werden angehende Landwirtinnen in der Ausbildung mangelhaft über den Klimawandel, die Umweltproblematiken und Pflanzenschutzmittel aufgeklärt. «Dann finde ich es gar einfach, mit dem Finger auf die Bauern zu zeigen», sagt Christoph.

Er selbst ging einen unkonventionellen Weg. Nach der Maurerlehre holte er die Berufsmatura nach und studierte danach Teilzeit Umweltingenieurwesen an der Fachhochschule in Wädenswil. Einige Jahre hatte er die Frage, ob er den Hof übernehmen solle, vor sich hergetragen. Mit 30 entschied er sich dafür. Heute kann er weiterführen, was seine Eltern aufbauten, während er und seine zwei Geschwister heranwuchsen. Von klein auf bekamen sie den Klimawandel zu spüren. Heute kriegen sie auf 750 Meter über Meer anders als früher nur noch selten mal einen halben Meter Schnee. Die Hitzesommer kann Christoph alle mit Jahrzahl benennen. «Darum ist mir das CO2-Gesetz noch viel wichtiger», sagt er. Da sei er gerne bereit, jährlich ein paar Hundert Franken mehr Abgaben zu bezahlen.

Ohne Mechanisierung und ganz ohne Wachstum gings auch oben im Jura nicht. Zwar steht heute wie schon vor drei Jahrzehnten knapp ein Dutzend Kühe auf der Weide. «Hast du keinen Hunger mehr, Nuria», rate ich ihren Namen und lache. «Nina», korrigiert mich Christoph sogleich und liebkost sie. Wie viele Bauern geben die Hümbelins den Kälbern einen Vornamen mit dem gleichen Anfangsbuchstaben wie jener der Mutterkuh. In Form und Grösse – aber auch durch ihre stolzen Hörner – lassen sich die Tiere der Schweizer Braunvieh-Rasse gut unterscheiden. Nina sticht durch ihre stattliche Grösse und die eleganten Hörner wie eine Königin aus der Herde heraus.

Die Kühe sind eine der wenigen Konstanten auf dem Gitziberg. Damals, als ich als kleiner Bub in den 90er-Jahren jeweils frühmorgens im Stall mithalf, die Kühe anzumelken, da war gleich nebenan eine kleine, schummrige Milchkammer. Früh lernten wir, dass wir die Tür der vielen Fliegen wegen immer sofort schliessen mussten. Denn Christophs Eltern veredelten die Rohmilch in der kleinen Milchkammer, indem sie begannen, Joghurt zu kultivieren und Quark herzustellen, den sie bei Reformläden bis nach Basel verkauften.

Die Milchverarbeitung wuchs auf dem Gitziberghof über die Jahre rasch zum dominierenden Zweig und macht heute drei Viertel des Umsatzes aus. Den Rest verdient der Familienbetrieb durch die Landwirtschaft, wobei über die Hälfte dieser Erträge wiederum von den Direktzahlungen durch Bund und Kanton stammen. «Wir machten uns mit der Milchverarbeitung unabhängig von der Urproduktion», sagt Christoph. Von der Landwirtschaft allein könnten sie bei dieser Grösse nicht leben. Vielen geht es so im Dorf und deshalb arbeitet in Rohr die Mehrzahl der Bäuerinnen nebenbei auswärts oder hat einen Betriebszweig, der nicht auf die Produktion ausgelegt ist.

Die schummrige Milchkammer ersetzten die Hümbelins vor einem Jahrzehnt durch einen Molkerei-Neubau, der so gross ist wie ein Einfamilienhaus. Vor Corona verarbeitete der Familienbetrieb jährlich rund 150’000 Liter Milch zu Joghurt, Quark, Glace und Käse. Mit der Pandemie eröffneten sich neue Absatzmärkte und das Volumen stieg gegen 180’000 Liter an.

Während die Verarbeitung stetig wuchs und die Hümbelins ausbauen mussten, setzten sie mit der neuen Molkerei auf ein innovatives Energiesystem. Dabei wird die Abwärme von der Kühlung zu Heizzwecken und zum Vorwärmen des Brauchwassers verwendet. Auch das Wohnhaus kann zeitweise noch mit Abwärme aus der Molkerei beheizt werden.

Für die Stromversorgung installierten sie eine Photovoltaikanlage, mit welcher der Gitziberghof aufs Jahr hinaus knapp die Hälfte des Eigenverbrauchs deckt. «Wegen der vielen Kühlungen brauchen wir im Sommer mehr Strom», erklärt Christoph. Darum passe das Stromangebot von Photovoltaik gut zum Hofbedarf, was die Anlage rentabler macht. In rund fünfzehn bis zwanzig Jahren soll sie amortisiert sein. Er blickt auf den Zähler und stellt zufrieden fest: «Vierzehn Kilowatt». Ob das viel sei, will ich wissen. «Damit kannst du sieben grosse Staubsauger laufen lassen», sagt er. An der Hofauffahrt zum Gitziberg stehen weder ein Allrad-Mitsubishi noch ein Volvo, sondern zwei Renault-Elektrowagen, die an der Steckdose angeschlossen sind. Auch sie werden direkt mit Sonnenstrom gespiesen.

Wie wir so über den Hof streifen, kommt es mir vor wie damals, als wir auf eine herumstehende Radachse unseren eigenen Mini-Holzwohnwagen bauten. Ich war der Handlanger, der dauernd Fragen stellte, während er am Bau tüftelte. Nie wählte er die fertige Lösung. Daran hat sich mit dem Erwachsenwerden nichts geändert.

Das neuste Beispiel ist die unübersehbare Kläranlage vor dem Haus. Weil die Molkerei dermassen gewachsen ist, wurde sie notwendig. Die menschgemachte Abwassermenge darf nämlich nur einen bestimmten Teil der Viehgülle ausmachen, die später auf das Feld ausgetragen wird. Auf dem Gitziberghof war dieses Verhältnis um ein Vielfaches überschritten, weshalb der Kanton eine Kläranlage vorschrieb. Christoph entschied sich, eine natürliche Kleinkläranalage mit Schilfbewuchs zu bauen. Weil diese aber in der Grundwasserschutzzone der Quellfassung des Dorfes liegt, verlangte der Kanton ein dickes Betonbecken. Nachdem das Abwasser durch einen Absetzschacht geschleust wurde, wird es ins Schilfbecken gepumpt. Von hier sickert das Abwasser achtzig Zentimeter durch die Sandschicht ab und wird geklärt in den Dorfbach geführt. Einen Teil will er in einem Teich zurückhalten, um das gereinigte Wasser etwa für die WC-Spülung zu recyclen.

Ein neues Projekt verfolgt Christoph auch in der Stallbewirtschaftung. Seit nunmehr fünf Jahren streut er jeden Tag Pflanzenkohle im Stall. Über die Gülle und den Mist der Kühe wird sie später auf die Felder getragen und soll dort auf Jahre hinaus die Wasserkapazität in den Böden verbessern. Als positiver Nebeneffekt sei durch die Pflanzenkohle die Unterlage im Stall nicht mehr so rutschig, erzählt er. Ein vierhundert Kilogramm schwerer Sack steht vor der Futterkrippe. «Da ist eine Tonne CO2 drin», sagt Christoph.

Die Pflanzenkohle bezieht er von einer Firma in Zug, welche diese in einem aufwendigen Verfahren herstellt. Die Nachfrage sei derart angestiegen, dass sie einen Teil der Pflanzenkohle aus Deutschland zukaufen müsse. Das Angebot in der Schweiz soll aber in den nächsten Jahren wachsen. Beispielsweise die Industriellen Werke Basel (IWB) planen den Bau einer Pflanzenkohle-Anlage. Das Herstellungsverfahren ist attraktiv, weil es energiepositiv ist und Energieerzeuger so ihr Fernwärmenetz alimentieren können. Erst seit den Nullerjahren ist die Wissenschaft auf die Pflanzenkohle gekommen. Im Amazonas streuten die Indigenen aber offenbar schon seit Jahrtausenden Pflanzenkohle. «Auf dem Feld könnte die erhöhte Nährstoffkapazität die Humusbildung anregen, wodurch neuer Kohlenstoff gebunden werden könnte», sagt Christoph.

Wenn wir damals phantasierten, wie sich die grossen Probleme unseres Planeten lösen liessen, dann glaube ich heute: Mein Freund Christoph tut dies im Kleinen, indem er im hügligen Jura nachhaltig bauert. Von der Polemik da draussen lässt er sich nicht beirren.


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