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Der letzte Kater

Der Güggel kräht nicht mehr. Über eine Dekade hat das Kulturlokal Coq d’Or hinter den Bahnhofsgleisen in Olten die Nacht vibrieren lassen. Wir waren bei der letzten Runde dabei.
26. Juni 2021
Text: Yann Schlegel, Fotografie: Claude Hurni
Der Beitrag ist mit Archivbildern von Claude Hurni illustriert, die in den elf Jahren Coq d’Or entstanden.

«Heute Kultur, morgen Kater.» Der goldfarbene Bilderrahmen mit den weissen Lettern prangte am letzten Abend nicht mehr an der Stirn der Bar. Ein schwarzer Fleck blieb als Lücke inmitten des weissen Buchstabenwaldes, der den «Suffering Bastard» und all die Drinks anpries, die hinter dem schwarzen Tresen gemischt wurden. «Ich habe den Bilderrahmen in Sicherheit gebracht», sagte Daniel Kissling und lachte, als er vorbeihuschte. Kissis Befürchtung: Jemand könnte im Trunk kleptomanisch werden und das Prunkstück des Coq-d’Or-Inventars kurzerhand entwenden. Über eine Dekade lang hielt die Bar, was sie schon an Tag eins versprochen hatte und bot: «Kultur und Kater». Mit ihrer Handschrift gab die Oltner Illustratorin Petra Bürgisser dem Lokal ein Stück Identität und sie half mit, dem Coq d’Or Kultstatus zu verleihen.

Ein volles Haus zum Abschluss. Moment, Pandemie! – Nun denn: Eine regelrechte Strassenparade erwies dem Oltner Kulturschuppen in der letzten aller letzten Nächte die Ehre. Drinnen wollte bei der Gluthitze ohnehin niemand für längere Zeit sein. Draussen reichten die Tische auf der Terrasse bei weitem nicht, um allen Coq-Schwärmerinnen und -Nostalgikern einen Platz zu bieten.

Unverwechselbar speziell. Mit diesem Anspruch hatte Nathalie Papatzikakis in den Januartagen 2010 das Coq d’Or eröffnet. Ein Schmelztiegel für Kultur sollte in der Kleinstadt entstehen. Ein Ort, der die Nachtmenschen davon abhält, in den nächstbesten Zug zu steigen. In Olten sollten sie bleiben. Und bestenfalls von überallher hierhin fahren. Um das Jetzt und den Exzess zu leben.

«Das Letzte, was wir wollten, ist eine Stammkneipenbar werden», sagt Kissi. «Wir wollten eine Bar sein, in welche jeder kommen kann, wie er ist.» Die Junisonne hat den Asphalt hinter dem Bahnhof aufgeheizt. Es ist für den Geschäftsführer der vorletzte Abend einer langen Reise. Damals vor gut elf Jahren stand er am allerersten Abend hinter der Bar. Im Coq d’Or dröhnte das erste Rockkonzert der Oltner Band Abermensch. Die vitale Oltner Musikszene und viele Subkulturen fanden im Coq d’Or ein Zuhause. «Vorher hatten wir keinen Ort», sagt Kissi, der über die Schnarchstadt Olten, wie er sie als Teenager und Metalhead erlebt hatte, im Magazin Vice einmal einen Beitrag schrieb.

Plötzlich war das Coq d’Or. Und füllte eine grosse Lücke im Oltner Nachtleben. Bis zu 140 Anlässe pro Jahr spielten sich im Coq d’Or ab. An den langen schwarzen Holztischen fanden die unterschiedlichsten Menschen zusammen. Mal war das Coq Kantitreff, mal Kunstgalerie. Mal Lesebühne, mal Politforum. Mal Wartesaal für Gestrandete. Mal Bühne für schweren Metalsound, mal für eine Hardcore-Matinée. Mal Ort einer Reggae-Plattentaufe. Auch das Gros der Schweizer Musikszene machte einmal Halt im Coq d’Or. Im Keller unten – dem «Coq Noir» – war die Welt über Boden weit weg. In schweissgebadeten Nächten liessen sich die T-Shirts auswinden.

«Wir stehen für eine Lebensidee, die nicht alle gut finden», sagt Kissi. «Aber ich glaube, die Leute hatten vom Coq ein wilderes Image, als wir tatsächlich lebten.» Die wilden Abende gabs. Aber das Coq d’Or bot auch viele nüchterne Momente. In der Stadt kämpfte das Kulturlokal trotzdem stets um Anerkennung – und in den letzten Jahren um städtische Beiträge, geknüpft an eine Leistungsvereinbarung. Diese kam aber nie zustande. Als das Coq d’Or begann, für seine Art von Kulturförderung Geld zu fordern, wurde das Lokal zum Politikum. Und die kritischen Stimmen wurden lauter, seit das Coq d’Or vor rund vier Jahren zur Basis der neugegründeten Politbewegung Olten jetzt! wurde. Von aussen musste sich Kissi den Filzvorwurf anhören. Heute sagt er: «Die ganze Geschichte mit den Unterstützungsgeldern wäre nicht überbordet, wenn ich nicht in der Politik gewesen wäre.»

Von der Stadt erhielt das Kulturlokal letztes Jahr 8000 Franken überwiesen. Der Stadtrat kürzte den Beitrag von ursprünglich 20’000 Franken, da der Pandemie wegen keine kulturellen Anlässe stattfinden konnten.

In der Öffentlichkeit herrschte teilweise die Meinung vor, der goldene Hahn sei wirtschaftlich ein Goldesel. «Wir waren schon immer finanziell knapp dran», sagt Kissi. Mit den wirtschaftlichen Prinzipien nahm er, der das Lokal ab 2013 führte, es nicht so genau. Der ideelle Gedanke stand an erster Stelle. Die Maxime: Möglichst vieles sollte im Coq ermöglicht werden. Die kulturellen Anlässe musste das Lokal in den meisten Fällen aber über die Bareinnahmen decken. Er sei für gewisse Nutzungen zu gutherzig gewesen, gesteht er sich heute selbst ein. Für externe Anlässe etwa hätte er mehr Miete verlangen können.

Kissi ist bis heute überzeugt, dass ein Kulturlokal wie das Coq d’Or durch die öffentliche Hand gestützt werden sollte. «Vielen ist nicht bewusst, welchen Stellenwert das Coq national und teilweise auch international in der Musikszene hatte», sagt Kissi. Olten geniesse überhaupt in der Kulturszene den Ruf als beliebte Gastgeberin. Das habe auch mit der Arbeit der Kabaretttage, dem Stadttheater und der Schützi zu tun, meint er.

Der stete Überlebenskampf am Limit hat viel Kraft gekostet. Für Kissi ist’s vielleicht auch darum gut so, wie es ist. «Wir sagten immer, zehn Jahre müssen wir machen. Jetzt haben wir noch die Pandemie angehängt.» Ein Abschied in Raten war’s. Denn vor gut einem Jahr erfuhr das Coq d’Or, dass es den Keller aus Sicherheitsgründen nicht mehr wird nutzen dürfen. Das Ende vom «Coq Noir» war für die Institution, wie wenn eine der beiden Herzkammern abgestorben wäre. Dort hatte die Coq-Idee mehr als sonst wo pulsiert.

«Vielleicht wird’s jetzt eine Weile hart für Olten», sagt Kissi. «Vielleicht kommen ein paar junge Menschen mit einer neuen Idee, ohne zu wissen, was alles schieflaufen kann», sagt er, zieht an seiner selbstgebauten Zigarette und lächelt. Der Kulturverein Coq d’Or bleibt bestehen und will auch künftig mithelfen, das Oltner Nachtleben vibrieren zu lassen. Ob er aber ein neues Kulturlokal initiiert, ist noch offen. «Es braucht solche Orte, wo die Jungen ihren Scheiss machen können. Aber nicht unbedingt mit mir», sagt Kissi.

«Was bleibt als Destillat übrig aus der ganzen Coq-d’Or-Zeit?», frage ich ihn. «Ein Suffering Bastard?»

Er lacht. «Wir hatten verdammt gute Nächte hier», sagt er und überlegt. «Viel Liebe bleibt. Das tönt zwar verdammt hippiemässig.» Die letzten Tage waren emotional. Als der goldene Güggel hinauskrähte, dass die letzte Nacht naht, kamen alle nochmal, um Hallo zu sagen. «Alle wurden sentimental. Viele sagten mir, sie seien wegen dem Coq in der Stadt geblieben. Andere zogen wegen dem Coq nach Olten.»

Wer einmal einen Besen in der Hand hielt, blieb danach oft eine Zeit als Barkeeper in der Bar. Die Gesichter hinter dem Tresen änderten fortlaufend. Nur wenige blieben über die Jahre. «Die steten Wechsel wirkten wie ein Akzelerator», sagt Kissi. Während andere ins «echte Leben» zurückkehrten, bewahrte das Coq d’Or seinen Geist.

Die letzte Nacht, die letzte Runde. Fast alle sind nochmal gekommen. Vor gut elf Jahren waren Daniel Kissling und Luc Fröhlicher am allerersten Abend gemeinsam hinter der Bar gestanden. Zwischen den beiden wuchs eine Freundschaft. Und es muss in einer der langen Nächte gewesen sein, in der im Coq d’Or die Kulturfigur L.P. Dark entstand, die der ehemalige Barkeeper Luc Fröhlicher verkörpert. Ein letztes Mal steht er im Coq auf der Bühne und singt seine Geschichten aus der dunklen Nacht. Kissi kommt zu L.P. Dark auf die Bühne und haucht zu nostalgischen Klängen ins Mikrofon. Es ist die letzte Ode an sein Coq d’Or:

«Es paar göi die Nacht id Stadt und näme es Bier und no es Bier und no es Bier. Scho guet, chasch de Räscht bhaute, säge si a dr Bar und dräie e Zigarette im Fumoir und none Zigarette und none Zigarette und none Zigarette oder e gchoufti Zigarette, wöu si ned dräie chöi. Und sie bliebe und wei ned, dass es morn wird. Morn eschs nie besser als hüt, het mou öpper gseit. Mir rauche im Fumoir witer, bis dSonne schiint. Denn göi si go schlofe, und wil dNacht wieder chonnt, hei si weder witergmacht.»


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