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«Der Mensch ist immer auf der Suche nach Eindeutigkeit. Aber die gibt es nicht»

Erstmals hinter der Kamera: Der Oltner Schauspieler Dimitri Stapfer feiert mit «Das Maddock Manifest» sein Debüt als Regisseur. Gewachsen ist die Idee in der Leere des Lockdowns. Entstanden ist ein Film, der jedem Menschen sein eigenes Rätsel stellt.
25. Januar 2022
Text: Yann Schlegel und Jana Schmid, Fotografie: Timo Orubolo

Alles abgesagt.

«Es war so fies, das Stück hatte das Potenzial abzuheben. Dann kam der Lockdown und wir landeten beide an der Sihl», sagt Dimitri Stapfer.

Das Kreativduo Dimitri Stapfer und Benjamin Burger sitzt in einer heimeligen Gaststube in der Solothurner Vorstadt und erinnert sich an jene Wochen, als das Leben stillstand. Mit einem Schuh versuchten sie, eine Weinflasche zu öffnen. Irgendwann begannen sie von einem Film zu reden. Warum nicht einen Film in einem leeren Theater drehen?

Benjamin Burger hatte eben erst sein erstes Solostück geschrieben und in Zürich uraufgeführt: «Das Maddock Manifest». Darin begibt sich Ben als Hauptfigur auf die Suche nach einem Manuskript, das die Welt verändern soll. Wenn denn die richtige Wortfolge darin steckt.

Maddock?

Benjamin Burgers Theaterstück ist inspiriert vom US-Amerikaner Hermann Maddock. In einer Kunstperformance beging er 1998 Suizid – sein Selbsttod erinnerte an jenen des Nirvana-Sängers Kurt Cobain. Maddock hinterliess bei seinem Tod ein Manifest. Er wollte mit diesem etwas schaffen, das alle, die es lesen, dazu veranlasst, sich als Widerstandsakt auslöschen zu wollen.

Dass dieser Stoff für einen Langfilm auf Leinwand funktioniert, glaubten sie zu Beginn selbst nicht wirklich. «Du machst Regie», hatte Benjamin seinem Freund gesagt. Dimitri Stapfer war erst perplex, warf sich dann aber ins Projekt rein.

Noch im Frühjahr 2020 isolierten sie sich mit einer sechsköpfigen Filmcrew im Theater Roxy in Birsfelden nahe Basel. «Das war ein unfassbares Gefühl», sagt Dimitri, «wir bewegten uns während zwei Wochen in einer Spirale, in der sich alles um diese Geschichte drehte.»

Der Zufall brachte das Filmteam im zweiten Lockdown anfangs Winter 2020 ins tiefe Onsernonetal im Tessin. Die Postbotin zeigte ihnen die besten Schauplätze. Dann fiel der Jahrhundertschnee. Er verlieh dem Film unverhofft eine andere Bildgewalt. Den unerwarteten Veränderungen gaben sie sich im Entstehungsprozess hin. Die Adaption des Theaterstücks verleitete das Kreativduo ohnehin dazu, zu experimentieren. Sich einer radikalen Kunstform hinzugeben. Geschaffen haben sie dabei eine Fülle an Rätseln.

Eure Filmproduktionsfirma sagte, ihr habt ein «geiles Ufo» geschaffen. Was macht «Das Maddock Manifest» zum extraterrestrischen Objekt?

Dimitri: Durch die Arbeitsweise, die wir hatten, entstand eine eigene Ästhetik. Zwei Wochen nachdem wir im Januar 2021 das Rohmaterial geschickt hatten, rief die Produktionsfirma uns an und sagte: «Das ist ein Ufo, aber eben ein geiles Ufo. Wir machen das.» Unsere Figur versucht, ihren Kosmos zu entschlüsseln und ihr Sein zu finden.

War das für dich ein Kompliment, wolltest du ein Ufo schaffen?

Benjamin: Mich freute der Kommentar. Als Unidentified flying object lässt sich der Film keinem Genre zuordnen. Er beginnt dokumentarisch und wird immer mehr zu einer Fabel. Das ist auch im Theaterstück so.
Als Junge hab ich immer Akte X geschaut. Ich liebte das Geheimnisvolle daran. Und das gibt’s bei unserem Stück auch. Es kreist um etwas Unfassbares. Geil war, wie alle aus unserem kleinen Drehteam irgendwann versucht haben, dieses Rätsel zu lösen. So ist das Ufo gewachsen.

Habt ihr das Rätsel am Schluss gelöst?

Benjamin: Nein!

Hast du es für dich gelöst?

Dimitri: Wenn ich den Film schaue, denke ich jedes Mal: Jetzt hab ich’s gelöst. Nur ist es jedes Mal ein anderes Rätsel. Ich setze immer wieder neue Zusammenhänge. Es kommt jeweils darauf an, in welcher Stimmung ich bin, was mich gerade beschäftigt.

Wir kapieren es noch immer nicht ganz. Was ist das für ein Rätsel, das ihr zu lösen versucht?

Benjamin: Die Filmfigur hat eine unglaubliche Sehnsucht. Aber Sehnsüchte sind diffus. Wir kennen alle den Zustand, in welchem wir wollen, dass sich was ändert. Nur wissen wir nicht, wie und wo. Dieser Zustand ist sehr unkonkret, klar ist nur: Die Figur sucht einen Ausweg aus ihrer Situation. Ohne zu wissen, ob die Situation selbstverschuldet ist oder nicht.

Ihr begebt euch also auf die ultimative Sinnsuche.

Dimitri: Nicht nur das eigene Sein zu erklären, steht im Fokus. Vielmehr ist es eine Vorlage, für sich selbst konkrete Fragen abzuleiten. Zum Klimawandel etwa fragt man sich: Warum funktioniert die Politik langsam? Wir sind drauf und dran, am Abgrund abzustürzen. Die Menschen versuchen, einen Ausweg zu finden – sind bisweilen aber paralysiert und kommen nicht weiter. Wir suchen einen Täter oder hinterfragen eben uns selbst. Bei unserer Fabelfigur ist der Prozess komprimiert. Sie strebt nach einer Kombination von Wörtern, welche die Welt verändern können.

Benjamin: Andreas Storm hat mich im Theater als Dramaturg begleitet. Irgendwann mal sagte er mir: «Ben, dir ist schon klar: Hier geht’s nicht um das Rätsel, sondern um Kontrolle und die Angst vor deren Verlust.» Das beschreibt extrem geil diese Figur und ihr Dilemma: Wenn ich jetzt die Kontrolle hätte, die Welt zu ändern, würde es eine bessere Welt oder nicht? Oder muss ich Kontrolle abgeben?

Aber endet die Suche nach Antworten auf das Rätsel nicht zwangsläufig in der Ernüchterung?

Dimitri: Das ist dem Zuschauer überlassen. Jeder Mensch wird den Film anders lesen. Die Suche treibt die Figur stets voran.

Ihr strebt mit diesem Film auch nach Relevanz als Kulturschaffende. Wie findet ihr diese?

Ben: Ich als Kunstschaffender beisse mir immer wieder die Zähne aus an dieser Frage, was mein Schaffen auslösen kann. Wir arbeiten an relevanten Themen, wollen, dass sich was verändert. Gleichzeitig merke ich: Jetzt bin ich in einem Theaterraum und 300 Leute haben sich das angesehen. Ist das relevant, was ich tu? Und dann sage ich mir trotzdem immer wieder: Doch, etwas verändert sich ja mit diesen 300 Menschen.

Das ist im Lokaljournalismus ähnlich. (alle lachen)

Dimitri: Wir versuchen, einen Diskurs zu starten, nicht Antworten zu liefern. Darum stelle ich mich als Schauspieler auch für verschiedenste Geschichten zur Verfügung. Ich hinterfrage und durchforste mich bei jedem Projekt. Ich sage mir immer wieder selbst, dass ich keine manifestierte Meinung zu etwas haben kann. Ich muss agil bleiben. Sobald du fundamental denkst, blockierst du dich.

Angenommen, wir setzen Relevanz mit Reichweite gleich: Wäre es nicht einfacher, eure Idee mit etwas leichter Verständlichem rüberzubringen? Warum habt ihr diesen Weg gewählt, einen eigenartigen Film zu schaffen?

Dimitri: Der Film ist organisch entstanden, das war kein bewusster Entscheid.

Benjamin: … und es ist kein politischer Film. Er untersucht ein Gefühl.

Dimitri: … und weil er ein Gefühl untersucht und vom Bauch ausgeht, gehe ich davon aus, dass wir das Publikum auch erreichen.

Und das Gefühl ist es, auszubrechen.

Dimitri: Bei gewissen geht’s um eine Depression, andere sehen den Klimawandel darin gespiegelt. Wieder andere lesen das kapitalistische System. Das Gefühl ist, was wir kreieren.

Und Gefühle sind nun mal diffus?

Dimitri: Der Mensch ist immer auf der Suche nach Antworten und Eindeutigkeiten. Aber die gibt es nicht.

Benjamin: Aus künstlerischer Sicht interessiert mich Eindeutigkeit nicht. Dafür brauche ich nicht die Kunst, das kann ich nachlesen. Ich finde Ambiguitäten interessant, da, wo es eben unscharf wird. Dort entstehen Erzählräume, Gefühlsräume oder Forschungsräume. Dieser Film kombiniert diese drei Felder. Da er ein offener Prozess war, war er auch immer eine Forschung.

Dimitri: Darum passt auch der Vergleich der modernen Fabel, den wir kreiert haben. Bei Märchen und Fabeln kannst du immer Neues interpretieren. Und die Objekte können ein Symbol für vieles sein.

Wenn ihr den Film an den Filmtagen schaut, dann wird also das Ufo so sein, wie gerade eure Stimmung ist?

Dimitri: Es wird ein Ufo sein, das kurz landet und dann weiterfliegt.

Benjamin: Mit Überlichtgeschwindigkeit durch irgendwelche Wurmlöcher, und irgendwo wird es wieder auftauchen.

Dimitri: Vielleicht nimmt es noch ein paar Zuschauer mit.


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