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Der Spatenstich

Im Kleinholz fahren bald die Bagger auf. Ein Grund zur Freude – und zum etwas widerwilligen Posieren mit Handwerkzeug. Was hat es auf sich mit diesem Ritual?
4. Mai 2022
Text: Jana Schmid, Fotografie: Yves Stuber

Es ist ein grosses und lang ersehntes Projekt für die Stadt Olten: Im Kleinholz entsteht ein neues Schulhaus. Mit progressiven Lernräumen, Dreifachturnhalle und attraktiver Parklandschaft. Eine «grüne Oase» soll es auch werden, ein «Generationenprojekt», ein «Raum für kreatives Lernen», wie Thomas Marbet, Marion Rauber und Nils Löffel betonen. 

Die Freude des Stadtpräsidenten, der Stadträtin Direktion Bau und des Stadtrats Direktion Bildung und Sport wirkt echt und vor allem berechtigt, als sie an diesem sonnigen Dienstagmorgen auf dem noch unversehrten Rasen hinter der Stadthalle beherzt in ein Mikrofon sprechen. 

Nils Löffel, Stadtrat Direktion Bildung und Sport

Im August 2024 soll hier bereits zum ersten Mal die Schulglocke klingeln. 16 Klassen von Kindergarten bis Primarschule werden dann im nigelnagelneuen Schulhaus ins Schuljahr starten, wenn alles gut kommt. 

Heute sind die Schüler des Hübeli-Schulhauses schonmal hier, zum Schnuppern sozusagen. Einen Parkour haben sie gemacht auf dem frisch gemähten Rasen, wo sie etwa mit Büchsen ein neues Schulhaus bauen und ein altes abreissen konnten. Jetzt hat ihnen die Stadt ein Znüni spendiert.

«Hallooooooo», antwortet ein Chor aus Kinderstimmen, der ohne Weggli im Mund vielleicht noch etwas lauter gewesen wäre, als der Stadtpräsident höchstpersönlich per Mikrofon ein gut gelauntes «Hoi zäme!» an die zukünftigen Nutzniesserinnen des Grossprojekts richtet. Derweilen wird auf weiss gedeckten Festbänken das Apéro für die Gäste vorbereitet, die ihre Schulzeit schon hinter sich haben.

Wer sich damit auskennt, hat es bereits erahnt: Heute ist der Spatenstich. 

alles vorbereitet
Thomas Marbet, Stadtpräsident

Bald fahren im Kleinholz die Bagger auf, um innert nur zwei Jahren einen Gebäudekomplex mit dem Volumen von 65 Einfamilienhäusern entstehen zu lassen. 

Bald muss der gepflegte Rasen also weichen. Zwar aus einem durch und durch erfreulichen Grund, da sind sich alle einig. Trotzdem weist der Bildungsdirektor Nils Löffel darauf hin, dass, wenn jetzt der eigentliche Spatenstich folge, beachtet werden soll, auf dem Fussballfeld den Spaten nicht zu tief in die Erde zu stecken, also nicht wirklich ein Loch auszuheben – damit der Rasen unversehrt bleibt.

Und dann folgt, wie angekündigt, der Spatenstich. 

Zehn robuste Spaten und zehn gelbe Bauhelme werden verteilt an Vertreterinnen aus Stadtverwaltung, Architektur und Schulwesen. Sie posieren damit vor einem kleinen Bagger. 

Den meisten ist es sichtlich unwohl. 

Der Fotograf des Oltner Tagblatts hat die rettende Idee: Er ruft die Schulkinder herbei, sie sollen auch aufs Foto. Sofort wirkt die kindliche Magie. Sie löst jede noch so peinliche Spannung, die Erwachsene unter sich so seltsam kultivieren können, in Luft auf. 

Cringe: Jugendwort des Jahres 2021. Bedeutet so etwas wie Fremdscham oder eben peinliche Spannung. Kinder kennen keinen Cringe. Ganz im Gegensatz zu Teenager – ein Glück für alle Anwesenden, dass im Kleinholz keine Oberstufe gebaut wird. 

Es wird unter gelben Bauhelmen auf einmal echt gelächelt und hochgezogene Schultern entspannen sich, als eine immer grösser werdende Traube von turnsäcklibehängten Kindern in die Lokalmedienkameras grinst und sich ein Junge einen Spaten sogar trophäenartig über den Kopf hält. 

Spatenstich: warum?

Woher kommt dieses Ritual? Seit wann wird es gemacht? Wie viele Spatenstiche erlebt der durchschnittliche Lokaljournalist bis zu seiner Pensionierung? Wie viele die durchschnittliche Bürgermeisterin?

Es ist gar nicht so einfach, an fundierte Informationen zu diesem Thema zu gelangen. Sicher ist: Der Spatenstich ist ein alter Brauch. «Seit langer Zeit ein unerlässliches Bauritual bei jedem Neubau», steht etwa in einem Online-Architektur-Ratgeber, wo unter allerlei Tipps und Tricks zum Bau eines Eigenheims auch dem Spatenstich eine ganze Seite gewidmet wird. 

Wie lange der Brauch schon existiert, ist ungewiss. Er muss aber mindestens in die Zeit zurückreichen, in der man Baugruben noch mit Spaten, Hacken und Schaufeln aushob. 

Und obwohl der erste dampfbetriebene Bagger bereits 1796 in Betrieb genommen wurde, hat sich der symbolische Spatenstich bis heute weitgehend durchgesetzt. Die Werkzeuge werden dabei oft hübsch hergerichtet. Der oben genannte Ratgeber empfiehlt es so: «Häufig wird ein schönes Band um den Griff des am besten noch sauberen Spatens gebunden». 

Wikipedia ist allerdings zu entnehmen, dass die Industrialisierung auch an der Symbolik nicht spurlos vorbeigegangen ist: Es gebe mittlerweile anstelle von traditionellen Spatenstichen durchaus auch «erste Rammschläge», «erste Baggerbisse» und Ähnliches, steht da. 

Und in fernöstlichen Kulturkreisen ist das Ritual ebenfalls verankert: Den Spatenstich kennt auch die aus China stammende Harmonielehre Feng-Shui, als ersten Eingriff in ein bisher unberührtes Grundstück. Da die Erde in dieser Lehre als lebendiger Organismus gilt und jeder Eingriff im Grunde eine Verletzung darstellt, wird als Ausgleich dazu oft ein Baum gepflanzt.

Eine Feng-Shui-Beraterin aus Biel informiert in einem weiteren Online-Architektur-Ratgeber unter dem Titel «Bauen Sie ein Haus mit Seele» auch über den geeigneten Zeitpunkt für das Ritual: «Früher machte man den ersten Spatenstich nach Möglichkeit an einem Samstag. Baut man nach den Regeln des Feng-Shui, berechnet man einen günstigen Tag für das Spatenstichfest nach den Mondhäusern. Auch eine schöne Möglichkeit ist es, einen Tag auszusuchen, an dem der Mond zunimmt. So können Fülle und Wachstum Einzug halten.»

Ausserdem empfiehlt die Beraterin explizit, auch Kinder in den Akt einzubeziehen. Diese würden «solche Rituale freudig mitmachen», während sie «herumhüpfen und rennen dürfen». Zum Anstossen solle man ihnen danach Traubensaft oder alkoholfreien Champagner anbieten. 

Und überhaupt, anstossen solle man unbedingt nach dem Spatenstich, «denn das Klingen der Gläser verbindet alle miteinander und vertreibt gleichzeitig die negativen Energien.»

In diesem Sinne: Prost, aufs Kleinholz und die kindliche Magie!


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