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Die, die mit den Kometen spricht

Widerstände hielten Kathrin Altwegg nie von etwas ab. Der Weg zur Physikerin war in ihrer Zeit kein einfacher. Sie ging ihn trotzdem. Er führte sie in den Weltraum und zu den grossen Fragen unseres Lebens.
8. Oktober 2021
Text: Yann Schlegel, Fotografie: Timo Orubolo

Wenn wir nachts in den Sternenhimmel schauen, blicken wir hinaus in einen Raum, der unsere Vorstellungskraft sprengt. Nicht aber jene von Kathrin Altwegg. Sie scheint da draussen, wo es dunkel ist, daheim zu sein. Auch wenn sie noch nie dort oben war. Über ein halbes Leben lang hat sie sich mit dem Universum beschäftigt.

Eingepfercht zwischen Bahngleisen und Länggass-Quartier liegt das «ExWi», wie die Studentinnen den Kubus nennen, in welchem die exakten Wissenschaften gepriesen werden. «Es war ein guter Sommer für die Wissenschaft», sagt Kathrin Altwegg und lacht, als sie mit festem Schritt durch die labyrinthartigen Gänge marschiert. Wobei an Jahreszeiten hier unten in den dunklen Vorlesungssälen sowieso nicht zu denken ist.

Wer in der Schweiz über die Weiten unseres Universums forschen will, läuft früher oder später durch die langen Gänge des Physikalischen Instituts in Bern. Das war auch bei Kathrin Altwegg so. Nicht der Kindheitstraum Astronautin führte sie in die Weltraumforschung. Vielmehr der Zufall. So erzählt sie. Ein Archäologiestudium hätte es werden sollen. Aber die Naturwissenschaft hatte sie am Gymer in Solothurn fasziniert. Notabene, obwohl sie im Schwerpunkt die alten Sprachen belegte. Sie ging zum Berufsberater und der riet ihr, Chemie zu studieren, weil da noch ein paar andere Frauen seien. «Für mich war Chemie ein wenig wie Kochen», sagt Kathrin Altwegg. Also schrieb sie sich an der Universität Basel für Physik ein. Und war die einzige Frau.

Ein Entscheid, der sie unbewusst zur Vorkämpferin für Frauenrechte und zur Frauenförderin machte. Vielleicht beschritt sie unbeirrt ihren Weg, weil schon die Eltern daheim die Geschlechtergleichheit vorlebten. Gemeinsam führte das Ehepaar von Burg eine Landpraxis in der Klus in Balsthal, die bereits der Vater von seinem Vater geerbt hatte. Viel später, als seine Tochter schon zum Weltraum forschte, vertraute er ihr an: «Weisst du, ich wäre auch gerne Physiker geworden.»

Die Arztpraxis der von Burgs lag direkt gegenüber den industriellen Werken der Von Roll. Altweggs Grossvater hatte den Standort strategisch gewählt, in einer Zeit, in der es den Ärzten schlecht ging. In der Von Roll kam es ab und an zu Unfällen, womit die Praxis Klienten auf sicher hatte.

Nicht der Himmel, die Natur prägte Kathrin Altweggs Kindheit in diesem engen Tal, welches das Tor zum Jura öffnete. Direkt hinter ihrem Elternhaus ragte die kantige Fluh mit dichtem Wald empor. Mit ihren Geschwistern kletterte sie am Kalkgestein und entdeckte Karsthöhlen. Vater war oft im Militär, weshalb Mutter die Praxis mit kleiner Klinik oft allein führte. «Etliche Balsthaler kamen bei uns auf die Welt», erzählt Kathrin Altwegg. Hinzu kamen Sprechstunden, in Herbetswil in der Bauernstube, in Welschenrohr in der Beiz. Für Krankenbesuche auf den Thaler Höfen stieg sie im Winter mit den Skiern hoch. Marianne von Burg wurde 1973, zwei Jahre nach Einführung des Frauenstimm- und -wahlrechts, auf Anhieb in den Solothurner Kantonsrat gewählt. Neun Jahre später war sie die erste Kantonsratspräsidentin.

Rauschen wie in einem Raumschiff

Den Namen von Burg hätte Kathrin Altwegg gerne behalten, doch das Eherecht liess dies noch nicht zu, als sie heiratete. Nun habe sie sich «an das alte Weggli gewöhnt», sagt sie lachend, als wir den Laborraum betreten. Eine grosse Kapsel erinnert an ein Modell einer Raumsonde, ist aber in Wirklichkeit ein Weltraum im Kleinformat. Rohrgestänge, in Alu verpackte Deckel und eine Plastikhülle umgeben die runde Kapsel, in welcher die Physiker die Bedingungen im Weltraum simulieren. Dort drinnen testen sie Instrumente, die später im Orbit bestehen müssen.

Neben dem Weltraum-Simulator steht ein vier Meter langes Gerät mit langen Armen. «Das ist unser Komet», sagt Kathrin Altwegg. Der Apparat erlaubt es, die zu erwartenden Gase rund um den Kometen zu simulieren und so die Instrumente auf ihre Belastbarkeit zu testen. Die Technik wird im Labor über Jahre hinweg geprüft. Wenn die Raumsonde am Tag X ein paar Millionen Kilometer entfernt ist, müssen die Messgeräte funktionieren und Daten liefern, welche die Wissenschaftler auf der Erde entschlüsseln können.

Kathrin Altwegg und ihr Team vor der Rakete im Jahr 2003, beim letzten Test vor dem Start. Quelle: zvg

Unzählige Stunden hat Kathrin Altwegg an den Testgeräten verbracht, um ihr Lebenswerk fürs Weltall fit zu machen. Mit der Uni Bern war sie als Projektleiterin an der Rosetta-Mission beteiligt. Einem wegweisenden Weltraum-Forschungsprojekt, das auf den Kometen mit dem Kosenamen «Chury» führte. Die Aufgabe der Uni Bern war es, herauszufinden, welche Materien in der Atmosphäre des Kometen vorhanden sind. Als die Rakete 2004 in Französisch-Guayana abhob, stand sie den Tränen nahe. Nach einem zehn Jahre dauernden Flug gelangte die Rosetta-Raumsonde 2014 zum Kometen und konnte ihn während zwei Jahren auf der Sonnenumlaufbahn begleiten. Über zwei Millionen Datensätze sandten die Berner Messgeräte in dieser Zeit zur Erde. Niemand kennt sich in diesem Wald an Daten besser aus als Kathrin Altwegg. Auch wenn sie als emeritierte Professorin mittlerweile in Pension ist, forscht sie weiter. Auf der Suche nach neuen Molekülen und Atomen, die erklären könnten, woher wir kommen.

Das Beweisstück zur Mondlandung

«Ich sage jeweils, ich war Birchermüesli-Professorin», sagt sie. Sie hatte auf eine vollwertige Professur verzichtet und war assoziierte Professorin geblieben. Doch wie scheinbar alles in ihrem Leben war auch dies ein selbstbestimmter Entscheid: «Ich hatte festgestellt, dass Nicht-ganz-100-Professoren das spannendere Leben haben.» Für die Forschung brannte sie und so blieb ihr mehr Zeit dafür.

Unmittelbar nach dem Start der Rakete am 2. März 2004 feiert Kathrin Altwegg mit Hans Balsiger, einem ihrer grossen Förderer. Quelle: zvg

Über Umwege war Kathrin Altwegg nach Bern gekommen. Nach einem zweijährigen Postdoc in der Festkörper-Physik in New York beabsichtigte sie wie ihr Ehemann, auch er Physiker, in der Privatwirtschaft eine Stelle anzutreten. «Ich wollte etwas Sinnvolles tun, ein Telefon erfinden oder so …» Doch als Frau fand sie in der Industrie keine Stelle. In der akademischen Welt hingegen schon. Der renommierte Astrophysiker Johannes Geiss stellte sie ein.

Ihr Förderer war schon bei der ersten Mondlandung dabei gewesen. «Darum haben wir den Beweis bei uns im Labor, dass die Mondlandung stattgefunden hat», sagt Kathrin Altwegg, als sie wieder in den Flur hinaustritt. Im gelblichen Licht leuchten grosse Mond-Poster an den Wänden. Irgendwo im «ExWi» lagert noch ein Stück Alufolie, auf dem die Wissenschaftler nach der Rückkehr der Astronauten Teile der Sonne nachweisen konnten. «Weil der Mond im Gegensatz zur Erde weder ein Magnetfeld noch eine Atmosphäre hat, gelangen die Teilchen der Sonne über den sogenannten Sonnenwind direkt auf den Mond», gibt Altwegg eine kleine Physik-Stunde.

Erst Halley, dann Chury

Die Laufbahn der heute 69-Jährigen begann in den 80er-Jahren mit der Kometen-Mission «Halley», welche die Europäische Weltraumorganisation (ESA) durchführte. Halley ist ein aussergewöhnlicher Komet, weil er sich nicht in der Ebene der Planeten und erst noch rückwärts bewegt. Einen Kometen wie diesen zu begleiten, hätte viel mehr Energie gebraucht, da die Rakete nicht die Geschwindigkeit der Erde um die Sonne (107’226 km/h) mitnehmen kann. Deshalb bestand die Mission daraus, Halley zu treffen, während er die Laufbahn der Planeten (Ekliptik) durchbrach. «Wir hatten etwa zwei Stunden Zeit, um zu messen», erzählt Altwegg. «Es war ein sehr aktiver Komet, der ausgegast hat wie verrückt.»

Der Anfang ihrer Karriere: Abreise von Bern nach Kourou, im Jahr 1985 mit den Berner Instrumenten (IMS=Ionenmassenspektrometer) im Gepäck. Quelle: zvg

Halley hatte erste Antworten geliefert, woraus Kometen bestehen. Aber auch neue Rätsel mitgegeben. Auf «Chury» wollte die Wissenschaft die neuen Rätsel entschlüsseln. Kathrin Altwegg führt uns quer durchs Gebäude, bis wir in einem anderen Labor stehen. Auf einem Tisch leuchtet ein Gerät, das aus einem Science-Fiction-Film sein könnte. Es ist das Flugmodell des Massenspektrometers der Chury-Mission. Eines der drei Instrumente, welches die Uni Bern zum Kometen Chury schickte. «Der Zwilling ist oben auf dem Kometen», sagt Altwegg. Das Ersatzmodell sei meist noch ein wenig präziser und werde zuletzt gebaut, erklärt sie. Das Instrument nahm in der Atmosphäre von Chury die Teilchen auf, als die Raumsonde sich bis auf zwei Kilometer dem Kometen nähern konnte. Anhand der Geschwindigkeit der Teilchen kann die Masse errechnet werden. «Es ist wie bei uns, die Dicken können nicht so schnell rennen wie die Dünnen.» Wasser hat die Masse 18, CO2 die Masse 44. «Das Prinzip ist einfach», sagt Altwegg. Nur schickte der Computer auf dem Kometen keine ausformulierten Testresultate, sondern bloss Einsen und Nullen. Das Zwillingsgerät hilft Kathrin Altwegg bis heute, die Resultate zu entschlüsseln. Die Rätsel gehen ihr nicht aus.

Du willst wissen, was Kometen über unser Leben verraten, warum unsere Erde ein komischer Planet ist und was Kathrin Altwegg zu Gott sagt: Hier geht’s zum grossen Interview.


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