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Die Mitte und die 100-Jährigen

Es gibt noch ein letztes Zukunftsthema, das ich der Mitte auf ihren Weg durchs 21. Jahrhundert mitgeben möchte: die Gesellschaft der 100-Jährigen. Auch die Bedürfnisse einer alternden Gesellschaft könnten einen Leuchtturm formen, an dem sich das Innovationsstreben der Oltnerinnen, Aargauer und Zofingerinnen orientiert. Sie könnten sich schweizweit in Szene setzen, indem sie an einer Infrastruktur für Senioren, an neuen Wohnformen für ältere Menschen und an künftigen Formen des Sterbens und Vererbens tüfteln.
8. Dezember 2021
Text: Joël Luc Cachelin, Illustration: Karsten Petrat

Silbrige Disruption

Möglicherweise ist es gar nicht die Digitalisierung, die in den nächsten Jahrzehnten am disruptivsten auf Politik, Wirtschaft und Gesellschaft einwirken wird. Es könnten nämlich nicht Kryptowährungen und intelligente Brillen sein, die unser Leben auf den Kopf stellen, sondern der demographische Wandel. Er bezeichnet die Tatsache, dass wir immer länger leben. Weil zudem weniger Kinder geboren werden, verändert sich das Verhältnis von jungen und alten Menschen.

Zahlreiche Bewohner der Mitte werden in den nächsten Jahrzehnten über 100 Jahre alt werden. Folglich wandert die politische und ökonomische Macht noch mehr zu den alten Menschen. Ein letzter Leuchtturm für die Mitte könnte es darum sein, sich früher als andere Regionen auf eine alternde Gesellschaft einzustellen und entsprechende Projekte medial geschickt zu inszenieren. Zugegeben, diese Idee steht im seltsamen Widerspruch zu jungen Influencern oder den Tatort-Kommissarinnen, die jedes Jahr jünger werden. Oder unterliege ich einer optischen Täuschung und werde einfach selbst immer älter, während alles einen normalen Verlauf nimmt?

Infrastruktur für alte Menschen

Innovation für die Gesellschaft der 100-Jährigen könnte für die Mitte bedeuten, ihre Laufwege, Kommunikationsformen und kulturellen Angebote zusammen mit älteren Menschen zu entwickeln. Sie haben andere Bedürfnisse als junge, was sich in ihren Erwartungen an Bahnhöfe, Supermärkte und soziale Medien spiegelt. Wichtig sind etwa grosse Schriften in der Signaletik oder Wege ohne Treppenstufen. Ältere Menschen bevorzugen weiter Verpackungen, die einfach zu öffnen und möglichst leicht sind. In Zügen könnte man über Abteile nachdenken, die speziell für reisende Rentner gestaltet sind. Auch beim Ladenmix, den Cafés und den kulturellen Angeboten der Innenstädte könnte man auf silbrige Co-Creation setzen. Damit ist nicht gemeint, dass es in der Oltner Hauptgasse nur noch Hörgeräte, Rollatoren und Brillen zu kaufen gibt. Ältere Menschen würden so eher diskriminiert als in ihrer Lust zur Entfaltung und zum Vergnügen unterstützt. Gefragt könnten Simulationen sein, in denen man in die 1960er Jahre zurückkehren kann, oder Cafés, die von 70- statt 20-Jährigen geführt werden.

Neue Wohnformen

Ein zweites Innovationsthema, das an den demographischen Wandel anschliesst, sind neue Wohnformen für ältere Menschen. Die Mitte könnte im Rahmen dieses Leuchtturms für Dulliken, Däniken und Schönenwerd Alters- und Pflegeheime der nächsten Generation erfinden. Alle Gemeinden eigenen sich als Standorte, sind sie doch von Luzern, Basel und Bern gut per ÖV erreichbar. Mit Wohngemeinschaften für Ältere könnte die Mitte ebenso auf sich aufmerksam machen wie mit architektonisch auffälligen Heimen, so sie ältere Menschen mit Studierenden zusammenführt.

Sie könnte mit Hotels zusammenarbeiten, die sich an silbrige Nomaden richten, die von Hotel zu Hotel ziehen, statt ständig an selben Ort zu leben. Oder die Mitte könnte Versuche mit Home-Treatment forcieren und an Wohnformen arbeiten, die es Menschen ermöglichen, ganz lange zu Hause zu bleiben. Das bedingte, an intelligenten Kameras, Toiletten und Fenster zu tüfteln, die rund um die Uhr das Wohl der Bewohnenden überprüfen. Genauso wichtig sind telemedizinische Apps, mit denen explizit ältere Menschen ihre Gesundheit überwachen, vermessen und die entsprechenden Daten an medizinisches Fachpersonal schicken können.

Neue Sterben, neues Erben

Am innovativsten wie provokativsten wäre eine Clusterbildung mit Start-ups für das zukünftige Sterben und Vererben. Dazu gehörten etwa Unternehmen, die an neuen Lösungen für das Begräbnis arbeiten. Vielleicht möchten mehr Menschen ihre Körper spenden, damit dieser im Sinne des Recyclings möglichst konsequent weiterverarbeitet wird. Weltraumbegeisterte möchten allenfalls nach ihrem Tod in einem Mini-Satelliten um die Erde kreisen. Ebenso viel Innovationspotenzial gibt es beim Vererben in einer digitalen Gesellschaft. Lenzburgerinnen könnten sich wünschen, ihre digitalen Überreste dem Stapferhaus zu vermachen. Das preisgekrönte Museum könnte das digitale Erbe dann für das Design von Zeitreisen aus dem Jahre 2050 in unsere Epoche verarbeiten. Genauso könnten sich Menschen dafür entscheiden, ihre digitalen Überreste einer künstlichen Intelligenz zu vererben, die aus all ihren Gedanken, Fotos und E-Mails lernen kann. Wieder andere möchten am liebsten ganz verschwinden und einen online tätigen Roboter beauftragen, alle ihre digitalen Spuren so konsequent wie möglich zu löschen.

Die Mitte – was meine ich damit?
Meine ganz persönliche Mitte liegt in der Nähe meiner beiden schwarzen Katzen, meines Schlaf- und Schreibzimmers – und die befinden sich in Dulliken. Zu dieser Mitte gehört auch der Bahnhof Olten, der mich vom elften Gleis nach Bern, vom siebten nach Zürich, vom zwölften nach Luzern und vom zehnten nach Basel führt. Diese Mitte liegt in Zwischenräumen. Es ist ein Viereck mit den Ecken «Lenzburg», «Liestal», «Sursee» und dem Moment, wo ich auf der Neubahnstrecke Richtung Bern in den ersten Tunnel eintauche.


Was wünschst du dir für die älteren Menschen in Olten?

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