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Einen Ort als Kompass fürs Leben

«Es gab Momente, da mochte ich meinen Vater nicht», sagt Simo Ilic. An Karate führte in seinem Elternhaus kein Weg vorbei. Heute lacht er über die Episoden von damals. Simo hat erkannt, dass der Karatesport ihm Halt gibt.
31. Oktober 2021
Text: Yann Schlegel, Fotografie: Timo Orubolo

Wie eine Büchse der Pandora ist die Oltner Industrie. Hinter jeder Tür kann sich eine Überraschung auftun. Grau und seelenlos wirken die Gebäude von aussen. Wer sich reinbegibt, findet vielerorts das Leben vor. Die berühmte Industrie war schon immer vielmehr als jener Strassenstrich, der Olten einst schweizweit in die Schlagzeilen brachte. Tür an Tür mit Brockenstube und Industriegebäude haben die Karatekas und Judokas an der Haslistrasse ihren «Ort des Weges», wie sich das «Dojo» aus dem Japanischen übersetzen lässt. In der japanischen Kultur ist das Dojo der Trainingsraum der Kampfkünste. 

Simo Ilic, weiches Gesicht, runde Stimme mit Berner Einschlag, erzählt, wie es dazu kam, dass er mit seinem Karateklub vor einem Jahr in der Oltner Industrie eine Schule eröffnete. «Ich habe die Karte geöffnet und geschaut, wo es Sinn macht», sagt der 29-Jährige. Ein Entscheid mit einer grossen Portion Kalkül also. In der Region hat er nämlich kaum Konkurrenz. Vor mehreren Jahren schon zerfiel die letzte Oltner Karateschule. Die nächste grosse Schule ist in Aarau daheim. Zwischen Aare-Stauwehr und Eisenbahn verfolgt Simo Ilic mit seinem Team mit einer Disziplin, die an die japanische Kultur mahnt, seine Ziele. Mit seiner Karateschule zu wachsen und die Sportart weiterzuvermitteln, hat er sich zur Lebensaufgabe gemacht.

Der Erfolg treibt ihn an. In Balsthal führt er seit 2008 eine Karateschule, die heute achtzig Mitglieder zählt. Die Grösse ist umso überraschender, als dass im Ballungszentrum der Region Thal gleich mehrere Vereine japanische Kampfsportarten betreiben. Neben einem Judoklub ist ein zweiter Karateverein angesiedelt. «Es wäre schöner, wenn ich alleine wäre in Balsthal», sagt Simo. Aber er respektiert den anderen Verein, der ebenfalls schon viele Jahre am Platz Balsthal aktiv ist.

Während seine Schülerinnen einen Karateschlag angeleitet durch Trainer Sandro Tartaglia immer und immer wieder ausführen, erzählt Simo seine persönliche Geschichte.

8 Jahre …

… alt war Simo, als sein aus Serbien stammender Vater ihn in die Karateschule mitnahm. Mit harter Hand führte er seinen Sohn an den japanischen Kampfsport heran. «Ich durfte keinen Gedanken daran verschwenden, aufhören zu wollen», sagt Simo. «Mein Vater sagte mir: ‹Solange du unter achtzehn Jahre alt bist, machst du Karate.›» Als Bub versuchte er mehrmals, das Training sausen zu lassen, und vergass absichtlich mal die Tasche daheim. «Mein Vater kehrte zurück nach Hause und packte sie für mich.» Heute ist er ihm für seine harte Linie dankbar. «Ich will nicht wissen, wo ich gelandet wäre, wenn er nicht so zu mir gewesen wäre.»

Das Dojo war für Simo wortwörtlich der Ort, der ihm den Weg vorgab. Einen Weg, den er heute konsequent weitervermittelt. «Meine Philosophie ist in erster Linie, die Jugend weg von den Zigaretten, Drogen und dem Alkohol zu bringen und dass sie nicht hobbylos auf der Strasse sind», sagt er. Er selbst sei noch nie betrunken gewesen und habe nicht das Gefühl, etwas verpasst zu haben. Das nüchterne Leben kriegte er daheim von klein auf mit.

Im Dojo verlangt er den vollen Fokus. «Du lernst, komplett runterzufahren. Wenn du durch die Tür kommst, lässt du alles draussen, begibst dich in eine kleine Welt. Nachher gehst du zurück in die reale Welt.»

10 Meistergrade …

… kennt der Karatesport. Wer in der sieben Farben umfassenden Gürtelhierarchie beim schwarzen Gürtel angelangt ist, hat noch lange nicht den Zenit erreicht. Zehn Prüfungen kennt der Karatesport allein auf der letzten Gürtelstufe. Doch eigentlich sei der zehnte Dan, wie die Meistergrade auf Japanisch heissen, in der Karatekultur zu Lebzeiten unerreichbar, erklärt Simo. In der japanischen Tradition erreichten die grossen Meister den neunten Dan und wenn sie starben, legte man den zehnten als Ehrengurt auf das Grab. «Für mich ist der Gurt im Kopf oben», sagt Simo, der sich an der Kommerzialisierung und dem Bruch mit der alten Kultur stört. Heute würden die hohen Dan zum Teil für viel Geld vergeben. Weder die Farbe noch der Grad des Gurtes sage etwas über die Reife eines Karate-Do-Kämpfers aus.

Simo selbst hat seit 2012 keine Prüfung mehr abgelegt und trägt momentan den zweiten Dan. Nicht die Gurte, sondern seine eigenen Schüler sind heute sein grösster Antrieb, wie er sagt. «Sie spornen mich an, besser zu werden.» Wettkämpfe möchte er noch bestreiten, bis er 35 Jahre alt ist. Aber die Balance zwischen dem Dasein als Trainer und dem eigenen Wettkampf zu finden, sei schwierig. Sein grösster Traum: einen eigenen Schüler an Olympia zu begleiten.

Mit 16 …

… gründete Simo seine eigene Schule. «Wenn du etwas erreichen willst, dauert es.» Ein Satz, der für sich allein sagt, wie sehr der Karatesport sein Leben prägt und ihn gelehrt hat, beharrlich zu bleiben. Als Teenager verbrachte er Nächte am Computer, um die eigene Karateschule aufzubauen und zu lernen, was es dazu alles braucht.

80 bis 100 Schülerinnen …

… will er in den nächsten paar Jahren an seiner Karateschule in Olten ausbilden. Gestartet hat er mit deren zehn. «Alles in meinem Leben richtet sich nach dem Training», sagt Simo, der mit seinen jungen 29 Jahren Filialleiter eines Möbelgeschäfts ist. Was er unter Trainingsdisziplin versteht? «Selbst wenn wir heute zu zweit wären, würden wir trainieren.»

In Balsthal lernte Simo, sich durchzubeissen. «Am Anfang habe ich manchmal gezweifelt, als wir nur sieben Schüler waren.» Er zog das Training durch und konnte nach und nach neue Schülerinnen dazugewinnen. Heute hat er sich zum Ziel gesetzt, die Marke von 90 Karatekas an seiner Schule zu erreichen.

2014 …

… erreichte er seinen persönlich grössten Erfolg und gewann den Schweizer Meistertitel. Im gleichen Jahr brachte er vier Schülerinnen in den Final.

2021

In Tokio war Karate erstmals in der Geschichte olympisch. Für Paris ist die Sportart aber bereits wieder aus dem Kalender gestrichen. Karate musste zugunsten von Breakdance weichen. Gemäss den Organisatoren weil die Spiele ein junges, urbanes Publikum ansprechen wollen. Gemäss Simo hat dies aber auch mit der Karatewelt zu tun, die sich nicht einig ist. Es gibt zwei grosse Weltverbände. «Die einen sagen, Karate sei eine Kunst – die anderen wollen Karate als Sport massentauglich machen», erklärt er. Die beiden Verbände müssten sich zunächst einigen, um wieder ins Olympia-Programm aufgenommen zu werden, glaubt Simo.

Ohnehin müsste der Karatesport womöglich den Wettkampfmodus nochmal überdenken. Die Schweizer Hoffnungsträgerin Elena Quirici war nach Olympia in Tränen aufgelöst. Sie mutmasste, ihre Gegnerinnen hätten sich abgesprochen und sie so um eine Medaille gebracht. Der Wettkampf bestand aus einem dreiminütigen Kampf. Erreicht eine Kämpferin einen 8-Punkte-Vorsprung, ist der Kampf vorzeitig zu Ende.

«Die Kampfzeit müsste auf zwei Minuten gesenkt werden, um die Intensität hochzuhalten», sagt Simo. So hätte vermutlich vermieden werden können, was Elena Quirici widerfuhr. Die Schiedsrichter vergeben Punkte je nach Schwierigkeitsgrad eines Schlages. Dabei wird zwischen den drei Stufen Yuko (1 Punkt), Wazari (2) und Ippon (3) unterschieden. Der zweite Bestandteil des Wettbewerbs ist die «Kata». Sie besteht aus einer stilisierten Übungsform gegen einen imaginären Gegner und wird durch eine Fachjury bewertet.

Absolute Körperkontrolle

Während Simo erzählt, zeigt Sandro an einem Schüler einen Mawaschi Geri. Er schwingt das Bein energisch zur Schläfe seines Gegenübers hin und stoppt den Fuss wenige Millimeter neben dessen Wangenknochen. «Mit dem Karate lernst du dich selbst kennen», sagt Simo und meint damit die Körperkontrolle, die minutiös und in stundenlangem Training erlernt sein muss.

Kunst und Sport – für Simo geht beides zusammen. Karate ist für ihn eine umfassende Lebensphilosophie. «Ich brauche keine Vorbilder aus dem Fernsehen. Auch meine Schüler sollen sie sich hier im Dojo suchen», sagt er. «Ronaldo und Messi sind viel zu weit weg, sage ich den Schülern jeweils.» Er selbst bewundert lieber den eigenen Bruder für dessen Kämpferherz. «Ihm ist egal, wer ihm gegenübersteht.»

Immer wieder spricht Simo von seinem Team. Die Idee hinter dem Karatesport will er über das Dojo hinaustragen. «Wir arbeiten nicht nur im Karate, sondern auch im übrigen Leben zusammen», sagt er. Von jedem lerne er etwas für die Hürden im Alltag. Er glaubt an die Kraft der Gruppe. Nicht umsonst will er mit seinem Verein wachsen. Dahinter steht ein grosses Ziel. Er möchte für den eigenen Verein eines Tages ein eigenes Zuhause, ein Dojo haben. Einen Ort des Weges.


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