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F wie vorläufig

Eine kantonale Initiative will die Sozialhilfe für «Scheinflüchtlinge» kürzen. Als solche bezeichnen die Initianten Personen, die in der Schweiz vorläufig aufgenommen sind. Aber was bedeutet das eigentlich? Eine Annäherung rund um den «Status F».
3. Mai 2022
Text: Jana Schmid, Fotografie: Timo Orubolo
Seifudin Reissi lebt und arbeitet in Olten – früher mit F-, heute mit B-Ausweis

«Es gibt keine Scheinflüchtlinge. Das ist ein erfundener Begriff», sagt El Uali Said mit ruhiger Stimme ins Telefon. Auf der Website der SVP Solothurn steht: 

«Scheinflüchtlinge sind keine echten Flüchtlinge. Vorläufig Aufgenommene sind Personen, deren Asylgesuch abgewiesen und eine Wegweisung verfügt wurde, die Wegweisung aus der Schweiz aber nicht vollzogen werden kann. Sie haben einen Ausweis mit Status F erhalten.

[Mit der Initiative] werden die Solothurner Stimmbürger die Gelegenheit erhalten, sich über die Höhe der Sozialhilfe für falsche Flüchtlinge zu äussern.»

Der Begriff sei reiner Populismus, absichtlich irreführend und überhaupt müsse er aufpassen, dass er keine unangebrachten Worte benütze um zu beschreiben, was dieser Begriff sei, sagt Said und seine Stimme ist noch immer ruhig. Er ist Jurist und Leiter der HEKS-Rechtsberatungsstelle für Asylsuchende in Solothurn. Die Institution unterstützt Personen im Asylverfahren aus dem Kanton Solothurn in asyl- und ausländerrechtlichen Fragen.

Über die Initiative «Weniger Sozialhilfe für Scheinflüchtlinge» stimmt der Kanton Solothurn am 15. Mai 2022 ab. Sie hat bisher wenig Zustimmung erhalten: Der Kantonsrat empfiehlt mit klarem Resultat die Ablehnung (74:19), und ausser der SVP sprechen sich alle Parteien dagegen aus. Trotzdem stösst sie eine Debatte an, die von der SVP immer wieder aufgegriffen wird und die zuverlässig für politischen Zündstoff sorgt: Die nach der Frage, wer ein «echter» Flüchtling sei. 

Wer ist es eigentlich, den die Initianten hier meinen? Was bedeutet es, in der Schweiz «vorläufig aufgenommen» zu sein? Wer ist im rechtlichen Sinn ein «Flüchtling» – und wer im umgangssprachlichen? 

Der Initiativtext bedient sich zwar der rechtlichen Flüchtlingsdefinition, spricht von der Genfer Konvention und von abgewiesenen Asylgesuchen. Was das bedeutet, erklärt er aber nicht. Sondern zieht den schnellen Schluss: Wer keinen rechtlichen Flüchtlingsstatus hat und trotzdem in der Schweiz bleibt, ist ein Scheinflüchtling.  

Ein kleiner Einblick ins Flüchtlingsrecht zeigt, dass es nicht ganz so einfach ist.

Flüchtling ist, wer vor dem Krieg flüchtet?

Um nach dem schweizerischen Asylrecht und nach der Genfer Flüchtlingskonvention, dem internationalen Abkommen, das dem Flüchtlingsbegriff zugrunde liegt, ein «Flüchtling» zu sein, braucht es eine ganz bestimmte Ausgangslage: 

Eine Person hat ihr Herkunftsland verlassen. Bei einer Rückkehr würde ihr Verfolgung drohen, sie würde also beispielsweise getötet, gefoltert oder für lange Zeit inhaftiert werden. Verfolgt wird die Person in ihrem Herkunftsland aufgrund einer bestimmten persönlichen Eigenschaft. Das kann ihre Zugehörigkeit zu einer Rasse, Religion, Nationalität oder zu einer bestimmten sozialen Gruppe sein oder ihre politischen Anschauungen. So ist es gesetzlich festgelegt. Diese Verfolgung muss individuell und zielgerichtet sein – muss also ganz konkret diese Person betreffen. 

In der Regel hat nur bei einer solchen Ausgangslage jemand die Möglichkeit, den rechtlichen «Flüchtlingsstatus» zu erhalten. 

Das kann etwa auf eine Iranerin zutreffen, die Demonstrationen gegen die iranische Regierung organisiert hat. Oder auf einen Mann aus Nigeria, dem dort wegen seiner Homosexualität eine lange Haftstrafe droht. Oder auf einen Syrer, der vom Assad-Regime verfolgt wird, weil er sich öffentlich dagegen aufgelehnt hat.

Aber das trifft nicht auf eine Syrerin zu, die sich in Sicherheit bringen wollte, weil ihre Stadt von Luftangriffen zerstört wurde. 

Auch nicht auf einen Afghanen, der aus Angst davor, die Taliban könnten sein Dorf verwüsten, das Land verlassen hat. 

Und auch nicht auf eine ukrainische Familie, die vor russischen Panzern geflohen ist.

Mit anderen Worten: Vor einem Krieg zu fliehen alleine bedeutet noch nicht, im rechtlichen Sinne auch ein «Flüchtling» zu sein. Dazu bedarf es einer persönlichen Verfolgung. Eine reine Bedrohung durch Krieg an sich ist dafür üblicherweise zu generell.  

Und hier kommt die vorläufige Aufnahme ins Spiel – der sogenannte «Status F», auf den sich die Initiative der SVP bezieht.

Der «Status F»: Du kannst nicht nach Hause, also darfst du vorerst bleiben

Menschen, die aus einem Land flüchten, in dem Krieg herrscht, erhalten also nicht zwingend den Flüchtlingsstatus. Trotzdem wird anerkannt, dass eine Rückkehr in ihr Heimatland ihnen nicht zugemutet werden kann, sofern sich dort die Situation nicht verbessert. Die rechtliche Folge davon: Sie werden vorläufig aufgenommen und erhalten einen «F-Ausweis». 

Eine Ausnahme gilt neuerdings für Geflüchtete aus der Ukraine – für diese wurde der sogenannte «Schutzstatus S» ins Leben gerufen, der gegenüber dem «Status F» gewisse Vorteile hat. Aber: Auch der garantiert keinen Flüchtlingsstatus.

Vorläufig aufgenommene Personen dürfen also in der Schweiz bleiben, solange sich in ihrem Heimatstaat nichts zum Guten wendet. Das wird vom Staatssekretariat für Migration (SEM) regelmässig überprüft. Wenn dieses eine Rückreise als zumutbar einstuft, kann die vorläufige Aufnahme beendet werden – und die Personen müssen zurück in ihr Herkunftsland. 

In der Schweiz leben laut Asylstatistik des SEM aktuell fast 46’000 Menschen mit einer vorläufigen Aufnahme. Rund 18’000 davon seit mehr als sieben Jahren. Das zeigt, dass «vorläufig» oft nicht besonders kurzfristig gedacht werden kann. Bewaffnete Konflikte dauern oft zahlreiche Jahre – etwa in Syrien oder Afghanistan, wo viele Menschen mit F-Ausweis herkommen. 

Vorläufig Aufgenommene dürfen in der Schweiz arbeiten. Für ihr Arbeitgeber besteht aber eine Meldepflicht. Diese und die Unsicherheit darüber, wie lange der Aufenthalt noch gewährt wird, erschweren die Jobsuche häufig – das kritisiert etwa die Fachorganisation Schweizerische Flüchtlingshilfe.

Frühestens nach fünf Jahren ununterbrochenem Aufenthalt in der Schweiz können vorläufig aufgenommene Personen eine Aufenthaltsbewilligung – einen «B-Ausweis» – beantragen. Dazu müssen sie nachweisen können, dass sie ausreichend integriert sind – und dürfen in der Regel seit längerer Zeit keine Sozialhilfe mehr beziehen. 

Recht und Sprachgebrauch

Bevor ich auf die Sozialhilfe zu sprechen komme, frage ich El Uali Said, ob er denke, dass dieser rechtliche Flüchtlingsbegriff übereinstimmt mit dem, was sich die meisten Menschen unter einem «Flüchtling» vorstellen. 

«Nein», sagt er, «Menschen sind immer wieder erstaunt, wie eng der rechtliche Flüchtlingsbegriff ist.» An Vorträgen etwa mache er diese Erfahrung häufig. «Oft meinen die Leute, dass der Flüchtlingsstatus einfach alle betrifft, die geflüchtet sind. Und sind dann ziemlich überrascht, wenn ich die rechtliche Lage erkläre.»

Gerade jetzt, wo der Krieg in aller Munde ist und die Solidarität mit Geflüchteten aus der Ukraine extrem gross, sei das eine spannende Frage. Folgt man der Argumentation des Initiativkomitees, würden wohl zahlreiche Schutzsuchende aus der Ukraine unter den Begriff «Scheinflüchtlinge» fallen. 

Und: auch ihnen würde die Sozialhilfe gekürzt. Denn für den Status S gelten dieselben Ansätze wie für die vorläufige Aufnahme. 

«Es ist ein interessanter Zufall, dass genau jetzt über diese Initiative abgestimmt wird», meint Said.

Und die Sozialhilfe?

Die Ansätze für Sozialhilfe liegen bei vorläufig Aufgenommenen per Gesetz bereits tiefer als bei anerkannten Flüchtlingen und bei Schweizer Staatsbürgerinnen. Sie variieren nach Kantonen und sogar nach Gemeinden relativ stark, liegen aber alle unter dem von der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) berechneten Grundbedarf. Die Ansätze im Kanton Solothurn gehören im kantonalen Vergleich noch zu den höheren – mit der Initiative soll dies geändert werden. 

«Bei mir waren es 405.- Franken pro Monat», sagt Seifudin Reissi. Er ist 2010 aus Afghanistan in die Schweiz gekommen und wurde nach drei Jahren im Asylverfahren vorläufig aufgenommen. Heute hat er dank einer Härtefallbewilligung den B-Ausweis und lebt und arbeitet in Olten. 

Damals wohnte er in einer Kollektivunterkunft in Dornach. «Für eine eigene Wohnung reichte mein Lohn erst 2015», erzählt er bei einem Spaziergang an der Aare. Ich kaufe mir einen Kaffee, er verzichtet. Es sind die letzten Tage Ramadan. 

«Von Dornach bin ich jeweils fast zwei Stunden nach Solothurn gereist, um die Deutschkurse zu besuchen, die im Asylverfahren angeboten wurden», erzählt er. Finanziert wurden diese Kurse bis zum Sprachniveau A2. Seifudin hätte gerne weitergemacht – doch dazu reichte das Budget nicht, nur schon wegen der Kosten für die Anreise. 

«Ich hätte damals gerne eine Lehre gemacht, aber es war klar, dass meine Deutschkenntnisse noch nicht reichten dafür. Also habe ich mir einen Job gesucht, bei dem ich sofort arbeiten und etwas verdienen konnte», erzählt er. Über Beziehungen fand er einen ersten Job in Basel, erkämpfte sich bei den Behörden eine Arbeitsbewilligung, obwohl sein Asylverfahren noch nicht abgeschlossen war. Danach erhielt er im Hotel Olten eine Anstellung, wo er heute noch arbeitet. 

«Ich habe mich im Hotel Olten hochgearbeitet, von der Küchenhilfe bis zum Allrounder, der ich heute bin», erzählt er. «Schlussendlich hat das auch ohne Lehre geklappt – aber es war harte Arbeit.»

Seifudin Reissi hat eine klare Einschätzung, was passieren würde, wenn man die Sozialhilfeansätze im Asylbereich weiter kürzen würde: «Vor allem: mehr Schwarzarbeit. Je knapper das Geld, umso kleiner sind die Chancen, genügend Deutsch zu lernen, eine Ausbildung zu machen und eine reguläre Arbeit zu finden. Und wenn die Perspektive fehlt, dann steigt auch die Kriminalität.» 

Seifudin sagt, er wolle sich nicht beklagen. Er sei dankbar für die Möglichkeiten, die er in der Schweiz habe. Denn eine Rückkehr nach Afghanistan sei immer unwahrscheinlicher geworden, spätestens, als die Taliban im letzten Jahr die Macht übernahmen. «Aber daran würde sich nichts ändern, egal, wie die Sozialhilfe ist.»

«Es ist heute bekannt, dass sehr tiefe Sozialhilfeansätze im Asylbereich die Integration massiv erschweren», sagt auch El Uali Said, «und das wiederum führt unter dem Strich zu mehr Kosten für den Staat – nicht weniger.»

Er erklärt, dass Menschen, die sich aus mangelnder Perspektive für Niedriglohn- oder Schwarzarbeit entscheiden, sehr häufig später wieder von der Sozialhilfe abhängig werden. «Die Sozialhilfeabhängigkeit ist deshalb oft ein Teufelskreis, der sich sogar auf die nächste Generation überträgt – etwa, weil Eltern dann auch ihren Kindern keine Ausbildung finanzieren können.»

El Uali Said betont, dass auch heute bereits genügend Anreize bestehen für vorläufig Aufgenommene, um sich von der Sozialhilfe loszulösen: «Erstens sind die Ansätze bereits so tief, dass man damit in einer Kollektivunterkunft leben muss. Zweitens darf man keine Sozialhilfe mehr beziehen, wenn man einen B-Ausweis beantragen möchte.» Und der B-Ausweis, die Aufenthaltsbewilligung also, bringt gegenüber dem F-Ausweis zahlreiche Vorteile: Erst damit sind etwa Reisen ausserhalb der Schweiz erlaubt oder ist ein Familiennachzug einfacher möglich. 

«Nach einer schwierigen Zeit war es für mich wie ein riesengrosses Aufatmen, als ich den B-Ausweis erhalten habe», erzählt Seifudin Reissi. «Es war nach fünf Jahren zum ersten Mal erlaubt, eine Reise zu machen. Und vor allem hatte ich diese ständige Angst nicht mehr, dass ich alles, was ich mir hier in der Schweiz aufgebaut hatte, jederzeit wieder verlieren könnte, wenn die vorläufige Aufnahme beendet würde. Ich dachte: Jetzt bin ich jemand hier. Vorher war ich niemand.»

«Die Erfahrung hat es gezeigt: Es lohnt sich, in die Integration von Menschen zu investieren», sagt El Uali Said und spricht damit auf die Erhöhung der Integrationspauschale für Menschen im Asylbereich an, die 2019 von Bund und Kantonen beschlossen wurde. «Die Stossrichtung der Bundesbehörden zeigt eigentlich in die Gegenrichtung der Initiative.» 

Er fasst es so zusammen: «Migration mit Mitteln der Sozialhilfe zu regulieren, kommt nie gut.» 


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