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Holstein am Ararat

Wie landen österreichische Hochleistungs-Milchkühe im östlichsten Zipfel der Türkei? Die wundersame Geschichte der Eydin Süt Farm.
12. Oktober 2021
Text: Jana Schmid *, Fotografie: Benjamin Herren

Ostanatolien, das ist so etwas wie der Wilde Osten der Türkei. Fast 2000 Kilometer von der belebten Mittelmeerküste und der Metropole Istanbul entfernt, ist es die bevölkerungsärmste und wirtschaftlich schwächste Region des Landes.

Die politische Lage und Geschichte dieser Gegend stehen in seltsamem Gegensatz zu ihrer Geografie: Karg und schroff trotzen baumlose Hügel und steppenartige, unendlich scheinende Flächen den unwirtlichen klimatischen Bedingungen. Die Sommer sind heiss und trocken, die Winter bitterkalt und schneereich, der Wind ganzjährlich bissig in Ostanatolien. Ausser spärlichem Gras wächst hier so gut wie nichts, und Böen verzerren und verschleppen die Gebetsrufe der Muezzins von den Minaretten hinaus in endlose Weiten.

Kein Ort, an dem man sich niederlassen will, könnte man meinen. Keiner, um den es sich zu kämpfen lohnt.

Doch die Geschichte zeigt ein anderes Bild: Ostanatolien war und ist ein Schauplatz politischer Unruhen. Die Region war bis ins 19. Jahrhundert zu einem grossen Teil von Armenier*innen, aber auch von kurdischen und türkischen Menschen bevölkert und lange Zeit Teil des osmanischen Reiches. Mit dessen graduellem Zerfall beging die osmanische Regierung zu Beginn des 20. Jahrhunderts das, was in Armenien als «Aghet» (armenisch: Katastrophe) bezeichnet wird und was in die Geschichte eingegangen ist als Völkermord an den Armenier*innen. Seit 1923 ist die Region offiziell Teil des in dieser Zeit gegründeten Nationalstaats Türkei. Armenier*innen leben heute kaum mehr hier, und der Streit um die Anerkennung der Geschehnisse als Völkermord belastet die Beziehung zwischen den beiden Staaten bis heute. Die türkisch-armenische Grenze jenseits des Bergs Ararat bleibt dauerhaft geschlossen.

Ruhe ist trotzdem nicht eingekehrt in den schroffen Hochebenen. Die Region ist heute mehrheitlich von Kurd*innen bewohnt, von denen manche die Gegend als Teil eines unabhängigen Kurdistans sehen möchten. Doch auch die kurdische Bevölkerung bekommt von der türkischen Regierung nicht, was sie will. Das führt zu immer wieder aufflammenden Konflikten, Armeepräsenz, Checkpoints an den Strassen. Hinzu kommt schliesslich die Grenznähe zu den Konfliktherden Irak und Syrien. Auch die bringt, zumindest im Süden, eher mehr Panzer als Stabilität mit sich.

Kurz: Es ist offensichtlich ein Ort, um den es sich zu kämpfen lohnt.

Über all dem thront seit Jahrtausenden ein einzelner Berg, majestätisch und scheinbar gleichmütig ob der vielen Konflikte: der ruhende Vulkan Ararat. Über 5000 Meter hoch, ragt er kegelförmig aus kargen Hügeln empor, der Gipfel abgeflacht und ganzjährig schneebedeckt – im Spätsommer ein weisses Leuchten inmitten brauner Steppe. Man kann und will ihn nicht übersehen.

Kühe, die nichts von ihrer Aussicht wissen

Am Fusse des Ararats, dort, wo er in seiner ganzen Pracht erscheint, steht die Eydin Süt Farm. Eine Ansammlung schmuckloser Gebäude und moderner Landmaschinen im östlichsten Zipfel der Türkei. In der Nähe liegt die Kleinstadt Doğubeyazıt, sowohl von der armenischen als auch von der iranischen Grenze nur einige Dutzend Kilometer entfernt. Nur ein klein wenig weiter östlich treibt die türkische Regierung gerade den Bau einer Grenzmauer voran, um weitere Fluchtbewegungen aus Afghanistan abzuhalten. Und hier, auf der Eydin Süt Farm, tummeln sich 300 österreichische Milchkühe der Rasse Holstein, liefern im Schnitt täglich 25 Liter Milch und bekommen von all den Wirren nichts mit.

Ja, die österreichischen Kühe bekommen im Allgemeinen sehr wenig mit von der Region, in der sie sich befinden. Nicht einmal von den Dingen, über die Kühe normalerweise Bescheid wissen, wie etwa Wiesen, nachbarschaftliche Kühe oder Wasserquellen. Denn die Eydin Süt Farm ist, um die Tiere vor Krankheiten zu schützen, mit soliden Mauern umgrenzt. Wer durch das eiserne Eingangstor der Farm fährt, muss die Autoräder in einem eigens angefertigten Becken desinfizieren. Und die Kühe wiederum sind hinter stabilen Gattern eingepfercht. Prächtig sehen sie aus, wie sie da in Laufställen liegen, stehen und wiederkäuen, mit ihren prallen Eutern, den braun-weissen Zeichnungen auf dem Fell, der kräftigen Statur.

Wie um Himmels Willen sind sie hier gelandet?

«Mit dem Lastwagen!», sagt Yasin Biçer, Manager der Eydin Süt, in seinem Büro auf der Farm. Auf dem Schreibtisch ist sein Name kunstvoll in eine Holzplakette eingraviert. Ansonsten ist der Raum so schnörkellos wie der Rest des Betriebs: weisses Licht, schlichte Stühle, helle Bodenplatten und in der Ecke ein Flipchart. «Grosse Viehtransporter haben insgesamt 300 Kühe aus Österreich hierhergebracht. 30 Stück pro Fahrzeug, und die Fahrt dauerte mehrere Tage», erklärt der Tierarzt, der 2014 aus seiner Heimat in der Nähe von Ankara in den fernen Osten gezogen ist, um sich fortan um die Farm und ihre Milchkühe zu kümmern. Die Stelle als Manager der Eydin Süt hat er angetreten, weil ihn die hochwertigen Standards der Farm bezüglich Hygiene, Infrastruktur und (natürlich) der Rasse der Kühe überzeugten. «Der Betrieb ist nach europäischen Standards zertifiziert und ist offiziell disease-free», so Yasin, der früher in einem Schlachtbetrieb der grössten türkischen Lebensmittelkette tätig gewesen war. So romantisch das auch wäre, aber eine emotionale Bindung zu den Tieren ist es nicht, die ihn in den wilden Osten gelockt hat. Trotzdem nahm er es den Vorzügen der Eydin Süt wegen auf sich, mit seiner Familie eine zweitägige Autofahrt entfernt wegzuziehen. In eine Region, die die meisten Menschen aus dem türkischen Westen nur aus Filmen kennen.

Kühe als Investition in die Heimat

«Vor allem in den ersten drei Jahren habe ich sehr viel gearbeitet. Zu Beginn war die Farm ein Chaos», erinnert er sich. Yasins Rolle ist dabei im wahrsten Sinne des Wortes die eines Managers, und nicht etwa die eines Bauern. Mit den Kühen hat er sehr viel weniger zu tun als mit der Leitung der Mitarbeitenden. Er führt täglich unzählige Telefonate, knüpft neue Geschäftskontakte oder begleicht Rechnungen.

Nun ist Yasin zwar der Manager der Eydin Süt, und er war es auch, der die edlen Holstein-Tiere in Österreich erstanden hat – einige davon auf einer Auktion ersteigert, wie er stolz erzählt – Besitzer und Gründer ist er aber nicht.

Die Idee, auf einigen Hektaren dürren ostanatolischen Bodens eine industrielle Milchproduktion mit Hochleistungskühen zu etablieren, kam von jemand anderem. Das Kapital dazu auch.

Yasin erklärt: «Mein Boss hat viel Geld, und ihre Familie denkt anders als die meisten hier. Es sind progressive Menschen, die sich Gedanken machen zur Entwicklung dieser Region.» Sein Boss, das ist Banu Konyar, und diese Region ist ihre Heimat. Heute lebt Konyar in Istanbul, wo sie an der Universität als Professorin für Kunstgeschichte lehrt. 2014 beschloss sie, die Eydin Süt Farm zu gründen und damit die Wirtschaft in ihrer Herkunftsregion anzukurbeln.

Warum wählt eine Professorin für Kunstgeschichte gerade Milchkühe?

Die Idee mit der Farm sei aus dem Gedanken entstanden, den Status der Region als historisches Viehzuchtzentrum wiederzubeleben. «In Ostanatolien gibt es die ersten Spuren von Tierhaltung in der Menschheitsgeschichte», sagt Yasin.

Und wenn schon, dann richtig, muss sich Frau Konyar gedacht und Yasin als Experten nach Österreich entsandt haben. Von der prähistorischen Viehhaltung zu den Holstein-Kühen am Ararat – da haben wir’s. Das ist die Geschichte der Eydin Süt.

Yasin rückt den ledernen Sessel zurecht, von dem aus er das Geschehen auf der Farm per Kameraübertragung auf einem Bildschirm verfolgen kann, und nippt an seinem Schwarztee. Er leckt den winzigen Löffel ab, mit dem er zwei Würfel Zucker im Tee aufgelöst hat, und erzählt weiter.

Heute ist die Eydin Süt die grösste Farm in der ganzen Osttürkei, und die einzige, die mit europäisch-standardisierten Zertifikaten ausgestattet ist. Ein Blick über die stacheldrahtgesäumten Mauern der Farm lässt erahnen, dass die Konkurrenz nicht allzu gross ist: Einige Hirten treiben dort im Abendlicht ihre Kuh-, Schaf- und Ziegenherden gemächlich über spärlich bewachsene Ebenen. Viele Kilometer legen sie so täglich zurück. Land hat es genug hier, nur die saftigen Wiesen fehlen, die die Rinder fett machen würden. «Nur mit unseren Zertifikaten dürfen wir Milch in den Einzelhandel bringen», erklärt Yasin, «ohne disease-free-Garantie darf man nicht legal an Supermärkte verkaufen.»

Kühe, die Arbeitsplätze schaffen

Elf Vollzeit-Mitarbeitende beschäftigt die Farm, um täglich drei Tonnen Frischmilch und seit kurzem auch Joghurt zu produzieren. Alle Angestellten kommen aus der Umgebung, manche aus der direkten Nachbarschaft. So etwa die Köchin Zehra, die für die ganze Crew täglich zwei warme Mahlzeiten hinzaubert und auch mal für ein regelrechtes Bankett einspringt, wenn wichtige Gäste kommen. Und Yasin hat häufig wichtige Gäste. Er hat sich in seinen Jahren im Osten ein breites Netzwerk in der Region aufgebaut und hat neben Tierärzten auch mal ranghohe Armeeoffiziere oder gar den Gouverneur von Doğubeyazıt zu Besuch. «Unsere Grillfeste sind legendär», sagt Yasin bei einem Mittagessen. «Nimm noch ein Stück Fleisch, du brauchst Vitamine», sagt Zehra und serviert Nachschub.

Die zierliche Frau bewegt sich flink und rasch, spült Berge schmutzigen Geschirrs, während auf dem Herd schon die nächste Mahlzeit köchelt. Nur die regelmässige Lust auf eine Zigarette bringt sie dazu, sich manchmal auf einen Plastikstuhl zu setzen und einen Moment innezuhalten. Die tiefen Lachfalten neben ihren grossen, wachen Augen deuten auf ein arbeitsames und freudvolles Leben hin. «So ist es», erzählt sie, «Ich bin als 16-Jährige mit meinem Mann durchgebrannt. Heute sind wir 32 Jahre verheiratet. Unser Leben war nicht immer einfach, aber bei Allah, ich liebe diesen Mann so sehr.»

Derweilen tauschen zwei Stallarbeiter nebenan ihre Gummistiefel gegen Badeschlappen, waschen sich die Hände, giessen Tee auf, setzen sich dazu und rauchen mit. Das abendliche Melken steht noch an, danach ist Feierabend. Dann werden sie durch eine Desinfektionslösung und das eiserne Eingangstor der Eydin Süt nach Hause spazieren, ins Dorf direkt neben der Farm. Yasin mit Frau und Tochter und eine Mitarbeiterin, die aus einer ferneren Stadt kommt, sind die einzigen, die auf der Farm wohnen. Yasin versucht seit Jahren, dem trostlosen Stück Land mehr Charme einzuhauchen, es zu einem richtigen Zuhause zu machen. Er hat zu diesem Zweck etwa unzählige Bäume und Blumen gepflanzt, die er gewissenhaft wässert, oder eine Schaukel und einen hölzernen Unterstand mit Esstisch gebaut. Dort sitzt er gerade und telefoniert mit zwei Smartphones. Die Stallarbeiter erzählen währenddessen von ihrem Tag. Es ist heute ein neues Kalb geboren, und einige weitere Kühe sind hochschwanger.

Ja, wie eigentlich, wenn doch nur Kühe aus Österreich angeliefert wurden?

Gelächter. Die Frage war naiv. Das Sperma wird, so ist das üblich in der Milchwirtschaft, aus dem Katalog bestellt, die Kühe werden künstlich befruchtet. Der Holstein-Stier kann bleiben, wo er hingehört. Zehra bringt eine nächste Runde Tee. Am Ararat glüht rot das letzte Abendlicht.

* Jana Schmid (27) ist in Aarburg aufgewachsen und lebt seit vergangenem Winter in ihrem ausgebauten Lieferwagen, unter anderem in Griechenland, wo sie rund drei Monate für zwei Nichtregierungsorganisationen arbeitete. Aktuell ist sie in der Türkei unterwegs.


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