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Ich, das Steinerschulkind

Warum bin ich, wie ich bin? Ob mir die Reise zurück in die Schulzeit eine Antwort darauf geben kann, fragte ich mich. Denn viele Jahre galt ich als anders. Weil ich war das Steinerschulkind.
27. August 2021
Text: Yann Schlegel, Fotografie: Timo Orubolo

Irgendwann würde der Moment kommen. Irgendwann würde ich die letzten Schachteln noch aus dem Estrich meines Elternhauses runterholen müssen. Würde ich mich meinen Sammler-Genen stellen müssen. Mich der Frage stellen: Warum bewahre ich dies alles auf?

Der Karton roch eben wie Karton, der zwei Jahrzehnte lang im Winterhalbjahr etwas Feuchtigkeit abgekriegt und während einiger Hitzesommer wieder getrocknet wurde. Wie ich die Schachteln öffnete, da kam mir eine Flut an Erinnerungen entgegen.

Mit jedem Heft, das ich aus der Schachtel zog, hielt ich ein neues Puzzlestück meiner Kindheit in den Händen. Da war dieses Gefühl, das entsteht, wenn lose Bilder einen kleinen Film an Erinnerungen auslösen. Manchmal messerscharf. Manchmal ist der Verstand nicht mehr so ganz sicher, ob die Sinne die eine Geschichte mit einer anderen vermischen. Aber was mich beeindruckte, war, dass ich bei jedem Objekt eindeutig das Gefühl in mir trug, etwas in den Händen zu halten, was ich geschaffen hatte. So muss sich eine Nahtoderfahrung anfühlen, dachte ich mir.

Da war ich, das Steinerschulkind. Ich war eines dieser Kinder gewesen, das in der Schule ein Bild malte und ein Lied dazu sang. So das Klischee, das ich mir über die Jahre hinweg immer wieder anhören musste. Wenn mich die Kollegen im Quartier fragten, in welches Schulhaus ich gehe, musste ich jeweils erklären, dass ich tagtäglich nach Langenthal pendle.

Meine Schulzeit war von Beginn weg nicht «normal». Angefangen bei der Einheitsklasse mit zwölf Schülerinnen im winzigen Solothurner Dorf Rohr. An den ersten Schultag mag ich mich nicht mehr erinnern. Meinen zwei Klassenkollegen im selben Alter dürfte es ähnlich ergehen. Wahrscheinlich weil der Schulstart für uns kein Meilenstein war, wie er gerne zelebriert wird. Der Bauernhof, unser Zuhause, hatte uns in den ersten Lebensjahren genug Aufgaben gestellt, die wir lösen und entdecken wollten. Wieso also würden wir den Unterricht und die Hausaufgaben brauchen?

Dem Regen übergeben: Eine Lehmfigur aus den ersten Schuljahren.

Mit der Schule arrangierte ich mich schnell. Mein Wissensdurst war geweckt. Aber aus den ersten beiden Schuljahren ist mir vor allem der lange Schulweg geblieben. Die Schlittenfahrten runter ins Dorf im Winter. Der lange Weg hoch nach Schulschluss durch den Wald, in dem ich Geschichten spann und mit den Elfen und Zwergen hinter den Bäumen sprach.

Der Bruch kam mit dem Umzug in die Stadt. Achteinhalb Jahre alt war ich, als meine Eltern meine Schwester und mich an die Rudolf-Steiner-Schule in Langenthal schickten. Ein harter Schnitt wäre es auch bei einem Wechsel an die Staatsschule gewesen, wie ich heute weiss. An einem Septembertag nach den Herbstferien suchte ich verzweifelt nach meiner neuen Klasse. Die Schule feierte eines ihrer vielen Feste. Auf dem gesamten Schulareal zogen Klassen umher. Die Menschenmenge überforderte mich, der ich im abgelegenen Jura grossgeworden war. Als ich dann endlich meine Klasse gefunden hatte, begann eine lange Reise. Am Anfang war sie beschwerlich. Monate verstrichen, ehe die neuen Gspänli mich akzeptiert hatten. Einsam zog ich in den ersten Pausen meine Runden ums Schulhaus, um den Schikanen aus dem Weg zu gehen. Irgendwann gehörte ich zum Kern der Klasse.

Wie ich nun diese Schachteln vor mir hatte, mich hinsetze und wie im Zeitraffer durch die Jahre blätterte, fragte ich mich, was die Steiner-Schule aus mir gemacht hatte. Wo waren eigentlich die Absichten der Steiner-Pädagogik oder ihre Philosophie zu spüren? Kann ich sie nun besser verstehen? Muss ich? In Gesprächen hab ich verschiedenste Falschmeinungen widerlegen müssen, was die Steiner-Schule nun ist oder eben nicht. Es war keine Schule für Begabte und auch nicht eine Schule, die explizit als Auffangbecken für schwächere Schüler da war. Den kompetitiven Vergleich kannten wir kaum und erst in den letzten Jahren. Das ist, was sich mir vielleicht am stärksten eingeprägt hatte. Selbst in der Oberstufe waren wir eine sehr diverse Klasse gewesen, mit unterschiedlichen Leistungsniveaus. Und irgendwo hatte jede ihre Stärken zeigen können.

«Vom Anfang der Welt», steht auf dem Titelblatt eines meiner ersten Hefte geschrieben. Die Bibelgeschichte nimmt darin eine zentrale Rolle ein. Wir malten mit Kreiden das Geburtshaus von Noah und wie er daraufhin die Arche erbaute. Und wir malten den Untergang der alten Welt und wie sie in die neue Welt überging. Heute würde ich aufstehen und den Lehrer fragen, warum wir dies machen. Als kleiner Bub tat ich wie geheissen.

Wer aber denkt, uns Steiner-Schülern sei die anthroposophische Weltanschauung des Begründers Rudolf Steiner eingetrichtert worden, irrt. Wir lernten nie bewusst, was die Anthroposophie umfasst. Fragte mich jemand danach, ich konnte ihm nicht antworten. Und ich erklärte, was die Schule ausmachte. Die Kreativität zog sich als roter Faden durch die Schuljahre. Zeichnung um Zeichnung fertigten wir. Selbst im Physikunterricht malten wir das Experiment, das der Lehrer vorne darbot. In der Biologie bildeten wir unsere Hand- und Fussabdrücke im Heft ab. In Geschichte malten wir ein Porträt eines ägyptischen Pharaos. Wir malten die Weltkarte, lernten die Mythologien vom alten Ägypten, den Kelten und den Römern. Vor allem in den ersten Schuljahren schrieben wir seitenweise von der Wandtafel ab. Verse, Gedichte und auch abgeschriebene Sachtexte füllten unsere buntfarbenen Hefte. Meist waren die Texte mit unseren Zeichnungen illustriert.

Selbstgebautes Djembe aus dem zehnten Schuljahr.

«Das ist ja unglaublich, was wir an Papier verschwendeten», sagte meine Schwester, als wir die Schachteln räumten. Sie zweifelte mehr an der Pädagogik der Schule als ich. Als ich meine Schulzeit neulich Revue passieren liess, fragte aber auch ich mich: Verloren wir damals wertvolle Zeit, während meine Kolleginnen an der «normalen» Schule strukturiert Stoff büffelten? Wohl kaum, denn mir fehlte es an nichts. Nur mein Defizit in der Mathematik später am Gymnasium war vielleicht ein wenig der Steinerschule geschuldet, aber doch mehr mir selbst, denke ich.

Mit meiner Schulzeit bin ich im Reinen. Aufschlüsseln zu wollen, was mir die Steinerschule auf den Lebensweg gab, finde ich schwierig. Wenn mich die Schule etwas lehrte, dann wohl, auf meine Sinne zu vertrauen. Ich tat dies am Johannifeuer zur Sommersonnenwende. Im Eurythmieunterricht, wenn ich meinen Namen tanzte. Auf der Theaterbühne zum Stück «Les Miserables» in der achten Klasse. Beim Strahlen im Steinkundelager. Als ich im Bauernpraktikum lernte, Schafe zu scheren. Oder unter dem Nachthimmel ob Bad Ragaz während des Sternkundelagers. Aber sonst waren wir nicht viel anders als die «anderen». Auch wir assen Hamburger und Birne Helene zum Dessert, wie ich im Lagertagebuch festhielt. Und ich träumte vom Beruf als Pilot, ehe meine Geschwister es mir ausredeten.

Was mich die Schule auch lehrte, war Gelassenheit. Sie kam mir zugute, als ich mich an der Kanti an das Staatschulwesen adaptieren musste. Bald hatte ich mich eingefügt. Mich an die blanken Noten gewöhnt. Ich fühlte mich nicht als Fremdkörper. Wir Steinerschüler waren durch unseren Weg im Geiste nicht weniger kritisch als die anderen Menschen dort draussen. In meinem Maturajahr begegnete mir die Arche Noah nochmal. In einem Aufsatz mussten wir eine Karikatur deuten. Stand die Arche Noah der Gegenwart für die Flucht vor dem Klimawandel? Oder als Symbol eines Ankers, der die Welt retten könnte, wenn die militärische Aufrüstung der Grossmächte aus dem Ruder läuft? Als Steinerschulkind wusste ich: Oft gibt es mehr als eine richtige Lösung.


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