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Kein Schachzug ohne die Familie Angst

Kluge Köpfe sind sie alle, in der Familie Angst. Papa schreibt über Schach, die Söhne spielen Schach. Vom Spiel der Spiele kriegen sie nicht genug. Der Durst nach Rätseln bleibt unendlich.
6. August 2021
Text: Yann Schlegel, Fotografie: Timo Orubolo

Ein klein wenig erinnern diese Strassen an die Ordnung eines Schachbretts. Mittendrin im strukturierten Siedlungsteppich der Gemeinde Dulliken liegt das Haus der Familie Angst. Ein kleines Schweizer Fähnchen steckt im Briefkasten und zeugt noch vom Nationalfeiertag. Hinter dem Haus gedeihen die Äpfel. Der dazugehörige Baum hat die herrschende Ordnung mit seinen Wurzeln etwas gestört. Markus Angst lacht sein breites Lachen und sagt: «Die Pétanquebahn ist nicht mehr bespielbar.»

Ohne Pétanque kommt die Familie Angst gut aus. Ohne Schach wär’s wohl unmöglich. Auch wenn das Brett nicht schon auf dem Gartentisch bereitsteht. Aber wo ein Angst ist, ist das Schachbrett nicht weit. Und wer mit Markus Angst über das «das königliche Spiel» spricht, könnte meinen, er habe ein Lexikon zu dieser Sportart geschrieben. Schon sein Vater hatte ihm das Spiel beigebracht. Die Faszination für die Spielform, bei der es darum geht, den König so anzugreifen, dass diesem weder Abwehr noch Flucht möglich ist, hat ihn über die Jahrzehnte begleitet. Und auch seine drei Söhne Jesse (29), Robin (27) und Oliver (19) ergriffen.

«Daheim jassen wir aber meist», sagt Papa Markus Angst. Das lockere Gesellschaftsspiel sei vergnüglicher. Kommt hinzu, dass er mittlerweile im Schach gegen seine Kinder chancenlos ist. «Wir reden aber viel übers Schach», sagt der jüngste Sohn Oliver. Als Medienchef des Schweizer Schachbundes schreibt Markus Angst heute über die Erfolge von Oliver. Auch wenn alle drei talentiert waren, der 19-Jährige erreichte dieses Jahr, was seine Brüder nicht geschafft hatten. Mit dem Schweizer Juniorenmeistertitel gelang ihm der bisher grösste Erfolg für die Familie.

Markus Angst mit seinen Söhnen Oliver und Robin. Der Juniorentitel des jüngsten Sohnes macht sie alle stolz.

1 zu 1 …

… steht es im offiziellen Bruderduell Oliver gegen Robin. Zweimal trafen die beiden an einem offiziellen Turnier aufeinander. Beide gingen einmal als Sieger hervor. «Im klassischen Schach sind wir momentan sehr ausgeglichen», sagt Robin. «Aber er ist der Speedschach-Experte», ergänzt Oliver. Wenn der Zeitdruck gross und das Spiel nach fünf Minuten um ist, behält meist Robin die Überhand. Nicht mehr mit den beiden mithalten kann mittlerweile Jesse. Er spielt nicht mehr so ambitioniert wie seine jüngeren Brüder.

3 bis 4 Stunden …

… täglich investiert Oliver Angst seit anfangs Jahr ins Schachtraining. Im Sommer hat er die Matura beendet. Er will auch künftig viel Zeit fürs Training aufwenden. Auch wenn er bereits im Herbst mit dem Medizinstudium beginnt. Robin dagegen sagt: «Ich bin zufrieden mit meinem Niveau.» Der mittlere der drei Brüder trainiert heute nicht mehr aktiv, investiert aber als Jugendleiter vom Oltner Schachklub noch immer viel Zeit für seine Leidenschaft.

Die Nummern 3 und 4 …

… sind die beiden Angst-Brüder in Olten, sie gehören beim Schachklub der NLB-Mannschaft an. «Wir kämpfen in den letzten Jahren immer gegen den Abstieg», sagt Robin. Dies habe auch damit zu tun, dass der Verein konsequent nur auf eigene Spieler aus der Region setzt. Mit dieser Philosophie trifft der Oltner Schachklub auf Konkurrenz, die sich oftmals auch mit verpflichteten auswärtigen Spielern verstärken. Darum sei es schwierig, in der NLB zu bestehen. In den letzten Jahren gelang dies dem Oltner Schachklub erfolgreich.

7 Grossmeister …

… gibt es in der Schweiz. «Als Normalsterblicher kommst du nicht an einem Grossmeister vorbei», sagt Vater Markus Angst. Wer den Grossmeistertitel erlangt, hat diesen analog zu einem akademischen Titel bis ans Lebensende auf sicher. Um es so weit zu bringen, muss eine Schachspielerin dreimal die Grossmeisternorm an einem Turnier erzielen. Diese wird über ein komplexes Regelwerk definiert. So muss beispielsweise das Starterfeld am Turnier international besetzt und die Konkurrenz im Ranking (siehe weiter unten) hoch klassiert sein.

7 Stunden und 42 Minuten

So lange duellierte sich der Schweizer Noël Studer neulich in Biel an einem hochkarätigen, internationalen Turnier. Das Spiel dauerte 138 Züge und endete schliesslich unentschieden. Nach dem Turnier gab der Grossmeister seinen Rücktritt aus dem Spitzenschach bekannt.

Auch Oliver Angst mag lange Partien. «Was mich auszeichnet, ist der Kampfgeist. Darum dauern meine Partien oft lang. Die Kunst dabei ist, keine grossen Fehler zu machen», sagt Oliver. Robin pflichtet bei: «Er bietet fast nie ein Unentschieden an.» Viereinhalb Stunden zog sich das längste Match am Juniorenturnier dieses Jahr in Flims hin. Sein längstes Spiel bisher? Einmal hielt Oliver sechsdreiviertel Stunden durch. Ganz lange Schachduelle nannte man Hängepartien, die sich über Tage hinzogen. Weil aber heute die Computer besser Schach spielen als die klügsten Köpfe der Welt, sind solche Spiele nicht mehr möglich. Bei einem Unterbruch könnten die Spielerinnen nämlich die Spielsituation am Computer simulieren und so Lösungen finden.

Früh übt sich: Die unter 12-Jährigen

Der älteste Sohn machte den Anfang und bewies Talent. Die Schachförderung beginnt früh. In der Familie Angst gehörte das Spiel zum Alltag. «Die Söhne kamen alle beiläufig dazu, weil ich sie an Turniere mitnahm», erzählt Markus Angst. «Jesse gehörte schweizweit zu den besten fünf bei den unter 12-Jährigen», sagt Markus. Dann kam Robin und auch er war in den Juniorenkategorien immer bei den besten dabei. Der Jüngste setzt nun neue Massstäbe: «Aus unserer Familie holte niemand Titel, wie Oliver dies nun gelungen ist.»

Das 12-jährige Oltner Talent

Mit den Erfolgen stiegen im letzten Jahr Olivers Ambitionen. Indirekt einen Anteil daran hat Suvirr Malli. «Dadurch, dass ich einen 12-Jährigen aus dem Verein trainiere, habe ich die Motivation, selbst besser zu werden. Je besser ich bin, desto länger kann ich ihn trainieren.» Oliver gibt dem Jungen drei bis vier Stunden pro Woche sein Schachwissen weiter. Der 12-jährige Oltner gehört im Land zu den besten drei seines Jahrgangs und gewann an den Schweizermeisterschaften seiner Altersklasse im Juli die Bronzemedaille. Oliver Angst ist beeindruckt von der Ausdauer des Buben. «Vor dem Finalturnier hat er fünf Stunden am Stück Schachaufgaben gelöst», erzählt er.

14 Jahre …

… alt war Papa Markus Angst, als er in Olten dem Schachklub beitrat. Damals hatte Schach nach dem WM-Final 1972 zwischen Bobby Fischer und Boris Spassky einen regelrechten Boom in der Schachszene ausgelöst. Schach war bei den Angsts schon zuvor eine Familiensache: «Ich spielte damals mit dem Vater Schach», erinnert sich Angst heute. «Nachdem ich ihn ein erstes Mal bezwungen hatte, sagte mein Vater: ‹So, jetzt kannst du in den Klub.›» Heute ist Markus Angst innerhalb der Familie nur noch die Nummer vier im Ranking. Seine drei Söhne haben ihn alle hinter sich gelassen.

Mit 19 Jahren …

… feierte Oliver dieses Jahr seinen grössten Erfolg und gewann den Junioren-Schweizermeistertitel. Sein Papa schrieb über den Erfolg seines Sohnes: «So wird man normalerweise nicht Schweizermeister: Der topgesetzte Oliver Angst (Dulliken) verlor im Junioren-Titelturnier gegen den zweitplatzierten Moritz Valentin Collin (Oberdorf/BL) und den drittrangierten Igor Schlegel (Bern) – und trotzdem reichte es ihm nach einer Achterbahn der Gefühle zum Titel.» Im letzten Spiel setzte er sich mit einem Sieg an die Spitze, da beide Konkurrenten, die ihn bezwungen hatten, ihr Schlussspiel verloren.

Die Top 20 als Ziel

Langfristig möchte Oliver den Sprung ins Nationalkader schaffen. Dafür müsste er zu den besten zwanzig Schachspielern der Schweiz gehören. In der Schweiz gibt es mit Noël Studer, Yannick Pelletier und Fabian Bänziger drei Profi-Schachspieler. Letzterer ist ein guter Freund von Oliver, der trotz seiner jungen 19 Jahre bereits beim Schweizermeister-Finalturnier der Topklasse mitspielte. «Auf diesem Niveau spielt die Matchvorbereitung eine wichtige Rolle», sagt Oliver. Um auf dieses hohe Niveau zu kommen, müsse man einen enormen Aufwand betreiben. Der jüngste Angst im Bunde hat dies bei seinem Kollegen miterlebt. Einen Grossmeistertitel oder gar ein Leben als Schachprofi mag er sich darum nicht ausmalen. «Ich möchte Medizin studieren», sagt er.

Seit 30 Jahren …

… dient Markus Angst dem Schweizerischen Schachbund als Medienverantwortlicher. Als «Hauschronist» mag er sich an viele Geschichten und Anekdoten erinnern. Markus Angst hat all die Gesichter zu seinen Schachgeschichten festgehalten. Früher archivierte er die Bilder feinsäuberlich analog – heute tut er dies digital. Eine Sammlung aus tausend Bildern sei herangewachsen, erzählt er.

Zweimal, sagt Markus Angst, habe der Schachsport in der Schweiz für grosse Schlagzeilen gesorgt. Einmal, als ein Internationaler Meister ein Finalspiel verlor, weil das Handy mitten im Spiel losging. Das zweite grosse Ereignis liegt acht Jahre zurück: Mit Alexandra Kosteniuk gewann erstmals eine Frau den Schweizer Meistertitel bei den Männern. Die mehrfach ausgezeichnete Russin verfügt über den Schweizer Pass, weil sie mit einem Schweizer verheiratet war.

«Leider spielen noch immer weniger Frauen Schach, weshalb die besten Schachspieler der Welt nach wie vor Männer sind», sagt Robin. Möglich, dass sich dies durch die Netflix-Erfolgsserie «Das Damengambit» ändern wird. Sie brach alle Quotenrekorde und löste vielerorts eine Schacheuphorie aus. Die weltweit bestklassierte Frau ist derzeit die Chinesin Hou Yifan. The New Yorker schrieb diese Woche ein Porträt über sie: «Hou Yifan und das Warten auf die erste weibliche Schachweltmeisterin.»

Rund 300 …

… Schachspielerinnen und Schachspieler kommen jährlich zu den Schweizermeisterschaften zusammen. Sie werden als Meisterturnier ausgetragen. Bei diesem Spielmodus treffen alle Altersklassen gemischt aufeinander. Für die Startpartie werden die Spiele nach der Stärkeklasse ausgelost. Wer gewinnt, steigt im Tableau auf und kriegt härtere Konkurrentinnen. Wer verliert, trifft in der folgenden Runde auf einen schwächeren Gegner. Die besten zehn Männer und Frauen tragen separat ein Turnier um den Schweizermeistertitel aus.

«Die Schachszene ist eine grosse Familie», sagt Markus Angst. Für die Meisterschaften nehmen alle eine Woche Ferien. Meist geht die Reise in die Berge, damit neben dem Schach noch Zeit für Wanderungen bleibt. In diesem Jahr konnte das Turnier wegen der Pandemie nicht wie üblich als Meisterturnier stattfinden. Deshalb lud der Schachverband die besten acht Junioren zum Finalturnier ein. Der Modus war simpel: jeder gegen jeden. Das Turnier dauerte sieben Tage und jeden Tag stand ein neuer Kontrahent auf dem Programm.

Mit drei Kollegen lebte Oliver während dieser Woche in der gleichen Ferienwohnung. Obwohl sie alle Schweizer Juniorenmeister werden wollten, logierten Oliver Angst, Vincent Lou, Igor Schlegel und Nicola Ramseyer in Flims gemeinsam in einer Ferienwohnung. «Am Brett sind wir zwar Konkurrenten, aber daneben Kollegen», so Oliver Angst. «Wir kochten am Abend zusammen. Aber wenn es ans Brett geht, sitzt nicht mehr der Kollege gegenüber.»

2019

Vor zwei Jahren schlug Oliver im Meisterturnier einen ehemaligen Schweizermeister. Weil er danach aber mehrere Partien verlor, reichte es ihm nicht zum Titel in seiner Altersklasse.

560 Kalorien …

… soll der Grossmeister Mikhail Antipov 2018 in einem über zweistündigen Spiel verbrannt haben. Die physische Leistung entspricht somit ungefähr einem acht Kilometer langen Lauf. Robin ist da ein wenig skeptisch: «Ich spiele auch noch Tennis und bin ja nicht der Fitteste. Beim Tennis bin ich physisch am Ende – nach einem Schachspiel nicht», sagt er. Trotzdem verteidigt er das Schachspielen als Sportart. «Dadurch, dass es ein Zweikampf und ein Ausdauerspiel ist, hat es doch viele Komponenten aus dem Sport», sagt Robin.

1998

Für den Oltner Schachklub war dies ein grosses Jahr: Catherine Thürig gewann den Schweizermeistertitel und ist bis heute die letzte Oltnerin, die dies vollbrachte.

2170 Punkte für Oliver und 2178 für Robin

Die Niveauunterschiede im Schach sind enorm. Nur, was macht die Differenz am Brett aus und wie lässt sie sich begreifen? Der wichtigste Indikator ist in der Schachszene die Elo-Zahl. Sie ist die Währung, die jede lizenzierte Schachspielerin ausweist: Je mehr Elo, desto stärker der Spieler. Bei einem Sieg gewinnt und bei einer Niederlage verliert die Spielerin Punkte. Einsteiger haben 1200 bis 1600 Punkte, gute Klubspielerinnen 1800 bis 2200. Die beiden Angst-Brüder gehören mit ihren Elo-Punkten zu den 150 besten Schachspielern der Schweiz. Dieses Jahr möchte Oliver sich den Top 100 annähern.

«Aber wie kann ich diesen Niveauunterschied am Brett sehen?», hake ich nach. Vieles spiele sich im Kopf ab und sei nicht ersichtlich, erklären die Brüder. «Der Unterschied zwischen uns und unserem Vater ist, dass wir mehr Varianten vorausrechnen», sagt Oliver. «Wenn wir sechs bis sieben mögliche Züge vorauskalkulieren, tut er dies vielleicht für drei bis vier Züge.» Die Top-Schachspieler haben durch ihr Vorausschauen den besseren taktischen Überblick. Und, weil der Auftakt im Schach essentiell ist, kennen sie sich mit den unzähligen Eröffnungsmöglichkeiten ungemein gut aus. «Neulich las ich, dass es bis zu 700 Eröffnungsvarianten gibt», sagt Oliver.

8643 Franken

Gemeinsam mit seinem Schachfreund Elias Giesinger organisierte Oliver Angst im April 2020 während des ersten Lockdowns spontan ein Online-Benefizturnier für die Glückskette. Rund 300 Spielerinnen nahmen am Turnier teil und erspielten 8643 Franken. Die beiden Schachspieler aus dem Nachwuchskader gewannen für ihre Initiative dieses Jahr den Förderpreis der Jugendschachstiftung, der mit 3000 Franken dotiert ist.


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