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«No White After Labor Day!»

USA, New York City – «It’s the last chance to wear this dress» meinte mein amerikanischer Freund, als ich eines meiner Lieblingskleider am Wochenende vor genau einem Jahr überstreifte. Nach dem Labor Day – oder dem Tag der Arbeit – der in den USA nicht im Mai, sondern am ersten Montag im September gefeiert wird, trage man kein Weiss mehr, erklärte er mir.
8. September 2021
Text: Anna-Lena Schluchter* Bild: Screenshot von harpersbazaar.com

Der Labor Day gilt in den USA allgemein als Ende des Sommers, die Ferienkolonien leeren sich, die Kinder müssen zurück in die Schule und die Reichen kommen von ihren Sommerhäusern in den Hamptons zurück. Klar, auch anderswo assoziiert man Weiss mit Sommer, aber diese ganz harte Deadline für den saisonalen Garderobenwechsel schien mir doch etwas extrem – zumal es oft bis Mitte Oktober sommerlich warm ist und der Indian Sommer (oder bei uns: Altweibersommer) doch jetzt gerade erst anfängt. Etwas verunsichert beobachtete ich letztes Jahr die Outfits der New Yorker ab Anfang September und tatsächlich: Nur ganz wenige wagten noch den weissen Auftritt.

Ein Jahr ist rum und es ist wieder Labor Day. Ans Ende des Sommers will ich gar nicht denken (vor allem, weil ich einen Grossteil davon in der Schweiz verbracht hatte), aber letzte Woche riss ich nochmals alle weissen Kleider aus dem Schrank.

An absurden Kleidungsvorschriften mangelt es tatsächlich nicht in den USA, wie die immer grösser diskutierten frauenfeindlichen Vorfälle von aufgrund «unangemessener» Kleidung suspendierter Schülerinnen zeigen. Die Labor-Day-Regel scheint gesellschaftlich weniger mit Sexismus als mit Pragmatismus und sehr wohl Standesdünkel zu tun zu haben. Eine der gängigsten Erklärungen ist, dass es schon seit Jahrhunderten üblich ist, im Sommer Weiss zu tragen, da weisse Kleidung kühler hält. Im oftmals regnerischen Herbst aber wollten die New Yorker das Risiko nicht eingehen, ihre weisse Kleidung mit Schlamm und Schmutz zu verdrecken. Im frühen 20. Jahrhundert reflektierten Hochglanzmagazine wie Vogue und Harper’s Bazaar diese Gepflogenheit.

Die meisten Historikerinnen sind sich aber einig, dass es bei dieser wie auch anderen Regeln eher darum ging, den sozialen Status zu markieren. Denn im frühen 20. Jahrhundert war weisse Kleidung die Wahluniform der gut betuchten Amerikaner, die es sich leisten konnten, über die Sommermonate aus den dreckigen Städten zu fliehen, wo sich der arbeitende Stadtpöbel grundsätzlich dunkel kleidete. Weisse Kleidung verkörperte Freizeit, Urlaub und Wohlstand. Am Ende des Sommers jeweils symbolisierte der pünktliche Wechsel zu dunkleren Herbsttönen die Rückkehr in die Stadt und die urbane Gesellschaft.  

In den 50ern, so die Theorie, hatte die wachsende Mittelschicht die Sitte übernommen. Zusammen mit einer Reihe an weiteren Insider-Etikettenregeln wurde die «No White After Labor Day»-Regel zu einem Bollwerk der alteingesessenen Eliten gegenüber den sozialen Aufsteigern.

Seit jeher gab es aber natürlich Leute, die diese Regel ignorierten. Nicht nur Coco Chanel trug bereits in den 20er-Jahren das ganze Jahr über Weiss, Elvis rockte seine legendären weissen Anzüge auch nach September, Michelle Obama tanzte im tiefsten Winter in ihrem berühmten weissen Kleid auf den Eröffnungsbällen nach der Wahl ihres Mannes und die feierlichen weissen Outfits vieler Politikerinnen in Anlehnung an die Suffragettenbewegung haben eine wichtige Tragweite.

Kleidung und Kleidungsregeln sind politisch – aber vielleicht nicht immer nur eindeutig zu verstehen. Ich werde auf jeden Fall nicht bis zum 30. Mai 2022 warten, um meine weissen Kleider wieder zu tragen. Dann ist nämlich Memorial Day, ein weiterer amerikanischer Feiertag und laut ungeschriebenen Regeln der Beginn des Sommers und somit der Startschuss für die weisse Saisongarderobe.

*Anna-Lena Schluchter (31) ist in Olten aufgewachsen und lebt seit zwei Jahren in New York, wo sie als Peacebuilding Officer für die UNO arbeitet.


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