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«Plötzlich merkte ich, wie fragil das alles ist»

Es ist Krieg in der Ukraine, und in Olten – ist das spürbar. Drei Menschen erzählen. Teil drei: Seu-Jhing Tang.
9. März 2022
Text: Jana Schmid, Fotografie: Timo Orubolo

Einen ganzen Sonntag lang hat Seu-Jhing gebastelt. Zuerst Windlichter aus Backpapier, dann kleine Plaketten aus Stoff, und schliesslich klebte sie zwei Kissenbezüge aneinander, so dass sie aussahen wie eine Flagge: einen blauen und einen gelben. 

Es tat ihr gut, etwas mit den Händen zu machen. Es lenkte sie ab von dem lähmenden Gefühl der Hilflosigkeit, das sie drei Tage zuvor überrollt hatte. 

Am Abend trug Seu-Jhing die Windlichter, die Plaketten und die improvisierte Flagge in die Oltner Innenstadt. Etwa fünfzig Menschen trafen nach und nach vor der Stadtkirche ein. Mit einem Selbstverständnis, das kaum Kommunikation erforderte, zündeten sie Kerzen an, 200 insgesamt, bis die Oltner Nacht ein wenig beleuchtet war.

«Wie die Menschen, die sich versammelten, ganz natürlich zusammenarbeiteten, ohne gross miteinander zu sprechen, war sehr berührend», sagt Seu-Jhing drei Tage nach der Mahnwache. Es war das erste Mal, dass die 36-jährige Oltnerin eine Kundgebung organisiert hatte, und es war sehr spontan geschehen. 

«Ich wollte mir selbst und den Menschen in Olten die Möglichkeit geben, uns physisch zu treffen, um unsere Emotionen zu teilen und Solidarität mit den Mitmenschen in der Ukraine zu bekunden.» Auf Seu-Jhings roter Jacke prangt kontrastreich ein blau-gelber Anstecker. 

«Die Nachricht vom Kriegsausbruch in der Ukraine hat mich kalt erwischt», sagt sie, und wenn sie das Wort «Kriegsausbruch» ausspricht, klingt es, als würde sie noch immer nicht richtig daran glauben. «Ich war bis zum Schluss felsenfest überzeugt, dass das nicht geschehen würde. Und dann, als es wirklich geschah, machte ich in rasendem Tempo verschiedene Phasen der Trauer durch: Schock, Konsternation, Verdrängen, Wut und vor allem – Ohnmacht.»

Der Klimawandel sei die grosse Herausforderung, der sich Europa stellen müsse, habe sie lange gedacht. Keine territorialen Kriege. «Und plötzlich merkte ich, wie fragil das alles ist: unsere Sicherheit, unsere Demokratie», sagt die Oltner Gemeinderätin.

An der Friedensdemonstration in Bern merkte Seu-Jhing, wie gut es tat, sich mit anderen Menschen zu versammeln. Es half gegen die eigene Ohnmacht, gab Mut und die Hoffnung, damit auch die Menschen in der Ukraine irgendwie zu erreichen. Dass sie am Abend die Kerzen kaufte, um tags darauf in Olten eine Mahnwache zu organisieren, geschah wie von selbst, sagt sie. 

«Wir können nur hoffen, dass sich solche Aktionen auf Social Media verbreiten. Dass sie die Menschen in der Ukraine und auch in Russland erreichen. Geld spenden und Solidarität bekunden – ich glaube, das ist alles, was wir in diesen Tagen tun können.»

Ihr eigener Gefühlszustand wäre zweifellos schlechter, hätte sie ihre Emotionen nicht an den Kundgebungen mit anderen Menschen teilen können, meint Seu-Jhing. «Ich glaube, dass mich Nachrichten über Krieg und Flucht immer sehr tief betroffen machen, weil das ein Teil meiner Familiengeschichte ist.»

Sie erzählt, wie beiläufig ihre Eltern immer wieder Erlebnisse aus dem Krieg erwähnen. Zusammen mit Seu-Jhings älteren Schwestern sind sie vor vielen Jahren aus dem Vietnamkrieg geflohen. Die Verwandtschaft ist heute über die ganze Welt verstreut. «In meiner Familie wurde der Krieg nie bewusst aufgearbeitet. Es sind vielmehr immer wieder einzelne Erlebnisse, die nebenbei erwähnt werden und die mich umso mehr schockieren, umso beiläufiger sie thematisiert werden.» 

Ein doppelter Schrankboden als Versteck. Vier Tage Zeit, um das Land zu verlassen. Die eigene Tochter der Tante auf ein Boot mitgeben, monatelang nicht wissen, wo sie ist. Piraterie auf dem Flüchtlingsschiff. Eine Cousine, die auf der Überfahrt verdurstete. 

«Viele solcher Episoden habe ich im Erwachsenenalter zum ersten Mal von meinen Eltern oder von Verwandten gehört. Und wenn ich heute lese, dass Männer an der ukrainischen Grenze an der Flucht gehindert werden, dass ihre Familien mit dieser Ungewissheit leben müssen, dann halte ich das kaum aus.»

Seu-Jhing wird weiter demonstrieren. In Olten oder anderswo, gegen den Krieg, gegen die Ohnmacht und ein wenig auch für sich selbst.


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