Skip to main content

So tickt das nette Dorf von nebenan

Wie viele andere Dörfer hat Winznau sein Dorfzentrum an die Hauptstrasse verloren. Nicht aber den Glauben an seine Dorfseele. Die Bevölkerung der Agglogemeinde hat ihr Zukunftsbild entwickelt. Auf einem Spaziergang erzählt uns Gemeindepräsident Daniel Gubler von Sehnsüchten und dem Wunsch, das ländliche Dorf zu bewahren.
24. April 2021
Text: Yann Schlegel, Fotografie: Timo Orubolo

Geblieben ist das Café Chärne. In normalen Zeiten der letzte Treffpunkt im Dorf, wo die ältere Generation gerne mal einen Jass klopft. An diesem milden Apriltag rührt sich nichts. Nur auf der Hauptstrasse nebenan rollt der Verkehr ununterbrochen durchs Dorf und sorgt für ohrenbetäubenden Lärm. Wir treffen Daniel Gubler in seinem Büro in der Gemeindeverwaltung im Obergeschoss des Cafés. Der Gemeindepräsident ist Winznauer durch und durch. Seit fünf Generationen schon leben die Gublers in diesem Ort. Ein grosses, auf Holz gemaltes Wappen mit dem Weinrebenzweig prangt an der Wand.

Wappen von Winznau: «Das Geschenk eines Asylbewerbers», erzählt Daniel Gubler.

Wer glaubt, Winznau sei ein Dorf, das seine Identität aufgibt und sich künftig an der nahen Stadt ausrichtet, irrt. In einem zweijährigen Prozess hat die Gemeinde definiert, wie sie sich in den nächsten zwanzig Jahren entwickeln will. Rund 200 Personen wirkten mit. Bei knapp 2000 Einwohnerinnen eine beachtliche Quote. Eine Mehrheit möchte, dass Winznau ein Dorf und in vielen Fragen eigenständig bleibt. Gubler teilt diesen Wunsch. Als Ur-Winznauer ist er tief verbunden mit diesem Flecken Erde zwischen Jurahügeln und Aare. «Jene, die hier wohnen, sollen über die Zukunft des Orts bestimmen können», sagt Gubler.

Selbst ist das Dorf

Wenn sich der Kanton gerade im Niederamt mehr Gemeindefusionen wünschen würde, erteilt der Gemeindepräsident diesen Hoffnungen eine Absage. «Winznau 2040 bleibt eigenständig», steht im neu entworfenen räumlichen Leitbild. «Auch bei den Nachbargemeinden ist die Fusion wohl kein Thema», sagt Gubler. Die Zusammenarbeit innerhalb der Region sei dafür intakt: Mit der Kreisschule betreiben die Niederämter eine gemeinsame Oberstufe. Fürs Soziale ist Winznau an die Sozialregion Olten angeschlossen. Das Verhältnis mit umliegenden Stadt- und Landgemeinden sei gut, versichert Gubler.

Aber Winznau will Winznau bleiben. Auch wenn sich das Dorfleben in wenigen Jahrzehnten komplett verändert hat. Die Hauptverantwortung daran trägt das Auto, das die Menschen mobil gemacht hat. Ablesen lässt sich dies direkt vor der Gemeindeverwaltung. Als Daniel Gubler hinaustritt, dringt der Lärm einer der stärkstbefahrenen Strassen im Kanton zu ihm. «Das Dorfzentrum ist gar nicht mehr nutzbar», sagt er. «Der Lärm ärgert viele, aber alle nutzen ihr Auto.»

War der Raum um die Hauptstrasse früher noch ein Platz der Begegnung, teilt sie heute den Ort in ein Ober- und ein Unterdorf. Der Ur-Winznauer erinnert sich, wie es einmal war. Zwei Metzgereien, drei Lebensmittelläden, eine Bäckerei und die Dorfbeizen Frohsinn, Tannenbaum und Traube hat er noch erlebt. Wo man einst in der Traube einkehrte, ist heute nur noch ein liebloser Kiesplatz mit leeren Sitzbänken. Auf der anderen Strassenseite steht der stattliche Bauernhof der Familie Grob. Doch bald ist er nur noch Kulisse. Die Bauern sind mit ihren Tieren bereits an den Fuss des Jurahügels etwas weiter nördlich ausgesiedelt.

Daniel Gubler erinnert sich an andere Zeiten, als die Hauptstrasse während der Fasnacht der grosse Treffpunkt war und die Kinder beim «Beck» um die Ecke gratis Schenkeli und Berliner erhielten. Sie spannten Fasnachtsbändeli über die Strasse, welche von den vorbeifahrenden Autos mitgerissen wurden. «Damals hofften wir, dass endlich ein Auto kommt», sagt Gubler und strapaziert dabei seine Stimmbänder, um gegen den Verkehrslärm anzukommen.

Mehr Grün gegen den Lärm

Die Strasse durchs Dorf ist ein zentrales Element im räumlichen Leitbild. Der Wunsch der Bevölkerung nach weniger Lärm und sicheren Übergängen war einhellig. Nur ist die Gemeinde dabei auf den Kanton als Eigentümerin der Strasse angewiesen. Und der Handlungsspielraum ist beschränkt. «Wenn wir an einem Ort schrübelen, verschlechtert sich die Situation an einem anderen», sagt Gubler. Als Beispiel nennt er die diskutierte Temporeduktion durchs Dorf. Eine solche Auflage würde auch den öffentlichen Verkehr ausbremsen und die guten Anschlüsse in Olten gefährden. Winznau will deshalb einen anderen Weg gehen und die Strassenränder begrünen. In einer Testphase wird die Hauptstrasse am Dorfausgang in Richtung Obergösgen als Allee aufgewertet. «Damit soll die Fahrbahn optisch eingeengt wirken, wodurch sich das Fahrtempo reduzieren soll», erklärt Gubler.

Keine hundert Schritte dorfabwärts ist der Strassenlärm kaum noch wahrnehmbar. Winznau zeigt sein freundliches Gesicht als ländliche Wohngemeinde. Viel Grün. Ein paar Schafe. Grössere Siedlungen, aber auch Einfamilienhäuser. Und schon sind wir beim Aarekanal angelangt, gesäumt von hohen Pappeln, einem beliebten Fotosujet in der Region. Der Blick zurück gibt die Sicht frei auf das Dorf, das sich am Jurafuss erstreckt. Was für ihn im Austausch mit der Bevölkerung die wichtigste Erkenntnis gewesen sei, frage ich den Gemeindepräsidenten. «Dass wir so bleiben wollen, wie wir sind, und das Ländliche und Ruhige bewahren möchten», sagt Gubler. «Den Leuten gefällts.»

Aus der Ferne sind die Bagger zu sehen, wie sie am Aarekanal das Fundament für den Huttler-Park graben. Die gut fünfzig Wohnungen seien schon fast alle vergriffen, erzählt Gubler. Wohnen am Wasser lockt die Menschen hierhin. Es dürfte zumindest für die nächsten Dekaden eine der letzten grünen Wiesen sein, die einer Siedlung weicht. Die Gemeinde will sich künftig vor allem innerhalb des bestehenden Siedlungsraums entwickeln und verdichten und nur noch langsam wachsen. «Qualitatives Wachstum» ist auch in Winznau das neue Zauberwort. Beim Huttler-Projekt habe die Gemeinde entscheidend Einfluss genommen, so Gubler.

Vor ein paar Jahren kam mit der «Landi» zwar eine grosse Ladenkette ins Dorf. Weil das dorfeigene Gewerbe aber über die Jahre verloren ging, findet das Dorfleben primär in den Vereinen und an Dorfanlässen bei der Primarschule statt. Grosses Gewicht hat etwa der Fussballklub, der beim räumlichen Leitbild mitreden durfte. In den Quartieren würden sich die Menschen kennen, meint Gubler auf die Frage, ob auch viele Menschen hier die Anonymität suchen würden. Er führt uns in das Quartier Moosacker, das uferabwärts gegen Obergösgen hin entstanden ist. Es ist ein direktes Ergebnis der letzten Ortsplanungsrevision vor gut zwanzig Jahren. Grosse Vorgärten und Häuser säumen das Aareufer und zeugen von wohlhabenden Einwohnerinnen. Im Quartier spielen ein paar Kinder auf den kaum befahrenen Strassen. Frühlingsferien daheim eben.

Auch Daniel Gubler selbst profitierte vor zwanzig Jahren von der Ortsplanungsrevision. Vergebens hatte er lange nach Land gesucht, um seinen Wunsch nach einem Eigenheim zu verwirklichen. Im Jahr 2000 konnte er doch noch eine Parzelle im Oberdorf ergattern, wie er erzählt. Es bedeutete ihm viel, in die Heimatgemeinde zurückkehren zu können, nachdem er zwischenzeitlich nach Obergösgen umgezogen war.

Identitätsstiftender Ortskern gesucht

Viele, die sich im Dorf aktiv einbringen, haben einen grossen Wunsch: Ein Dorfzentrum. Ein Phänomen, das sich in vielen Agglomerationsgemeinden beobachten lässt. Die Mobilität und der Individualismus haben die Gemeinden zu Schlaforten gemacht. Aber bei vielen ist das Bedürfnis geblieben, den Menschen auf dem Dorfplatz zu begegnen. Nur funktionieren die konstruierten Dorfzentren oft nicht, weil die Menschen doch den Weg in die Stadt oder ins Einkaufszentrum wählen.

Gemeindepräsident Daniel Gubler ist darum skeptisch. «Wird ein Dorfzentrum denn auch gelebt?», fragt er rhetorisch. «Wenn ich keinen Grund habe für den täglichen Einkauf oder um in die Beiz zu gehen.» Womit er beim zweiten, immer wieder genannten Wunsch angelangt ist: Einen Dorfladen würden sich viele zurückwünschen. Die Gemeinde habe alles versucht, sagt Gubler. Die Detailhandelsriesen rechneten, ob ein Laden in Winznau rentieren würde, kamen aber zum Fazit, dass die Einwohnerzahl auf mindestens 3000 anwachsen müsste.

Von den fürs räumliche Leitbild vorgebrachten Ideen, auf der grünen Wiese ein Dorfzentrum zu schaffen, hält er darum wenig. Was die Menschen da einen würde, bleibt offen. Oft genannt wird ein Spielplatz. Wenn, dann müsse es aber ein Ort mit geschichtlicher Bedeutung sein, findet Gubler.

Die Schule sorgt für Farbe im Dorf

Wir sind oben beim Schulhaus angelangt, das 180 Schülerinnen zählt und in diesen Jahren an seine Kapazitätsgrenzen stösst. Künftig soll sich die Lage gemäss Prognose wieder entspannen. Ein Schulhausprojekt steht trotzdem im Raum. Das über 100-jährige Schulhaus ist zwar saniert, aber der zweite Bau aus den späten 50ern ist in die Jahre gekommen. Vor zwei Jahren lehnte die Bevölkerung einen Kredit über 3,7 Millionen Franken ab. Für die einen war dies zu viel Steuergeld – die anderen wollten gleich einen Neubau, was in der Summe zum Nein führte.

Im Oberdorf macht sich das karstige Juragestein bemerkbar. Im hügeligen Gelände ist auch das Haus eingebettet, in welchem Gubler sein weit über die Region hinaus bekanntes Tischtennisgeschäft betreibt. In der Ferne ist das Dach des ausgesiedelten Bauernhofs der Familie Grob zu sehen. Ein paar Schritte weiter unten befindet sich einer dieser Plätze, an denen sich der Gemeindepräsident eine Art Dorfplatz vorstellen könnte. Jedes Jahr organisiert die Jungwacht Blauring hier ein Auffahrtsfest, zu welchem das Dorfleben aufblühe, wie Gubler schwärmt.

Das Brummen der Hauptstrasse wird wieder lauter. Wir erreichen einen kleinen Platz. «Hier stand die erste Turnhalle des Kantons», sagt Gubler nicht ohne Stolz in der Stimme. Die Gemeinde hatte einst die alte Dorfkirche zur Turnhalle umgenutzt. Die alten Gebäude, welche das Dorf charakterisierten, vermisst Gubler heute. «Aber es ist noch immer mein Dorf.»


Comments (2)

Schreiben Sie einen Kommentar